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Du weißt aber schon, dass sie für morgen Regen angesagt haben, sagte mein Vater. Ich schätze, er wird Mitte vierzig gewesen sein, wie er das zu mir an diesem Freitagabend im Juli gesagt hatte. Ich achtzehn. Er war in dem Alter, in dem man sich jeden Abend die Wettervorhersage für den nächsten Tag anschaut, obwohl man nichts vorhat, und ich war in dem Alter, in dem man sich die Wettervorhersage nie anschaut, auch wenn man was vorhat.
Das ist ein schönes Beispiel für den mit dem Alter einhergehenden Verlust der gedankenlosen Unbeschwertheit, denke ich. Jetzt, wo ich ungefähr in dem Alter bin wie mein Vater damals, fällt mir auf, dass ich mir, wenn sonst schon nichts anderes, auch wirklich zumindest die Wettervorhersage für den nächsten Tag anschaue, obwohl ich nichts vorhabe.
Ich zuckte mit den Schultern, wie immer, wenn mir mein Vater die Wettervorhersage für den nächsten Tag ansagte, im gleichen Ton wie der Wetteransager aus dem Fernsehen, so, als wäre er selbst der Wetteransager, und zwar deswegen, weil ich etwas vorhatte. Tom hatte mich überredet, mit ihm fischen zu gehen, obwohl ich eigentlich kein Fischer war und nur sehr selten zum Fischen ging, aber seine üblichen Fischerkollegen hatten alle keine Zeit an diesem Samstag, also ließ ich mich überreden. Als um drei Uhr in der Früh mein Wecker läutete, bereute ich sofort, zugesagt zu haben, und wollte auch schon darauf pfeifen, schaffte es aber doch irgendwie, aufzustehen. Ich zog die Jalousien hoch und schaute aus dem Fenster. Ich konnte nicht viel erkennen, es war noch stockfinster. Nur die Regentropfen, die vom Wind gegen die Scheiben geweht wurden, und das Prasseln auf der blechernen Fensterbank konnte ich durch das geschlossene Fenster hören. Ich ließ die Jalousien wieder runterrasseln, schaltete zuerst einmal nur die Nachttischlampe ein und setzte mich auf den Bettrand, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in beide Handflächen gelegt. Immer schon war mein erster Gedanke in der Früh in dem Moment, in dem der Wecker läutete: Bitte erschießt mich! Schon als Volksschulkind dachte ich mir, wie meine Mutter ins Zimmer hereingekommen war, absichtlich laut die Tür und das Fenster aufgerissen, die kalte Luft hereingelassen und mir mit ihren Fingern die Haare zerzaust hatte, deren Haut vom andauernden Waschen und Putzen ganz rau war, dass sich einzelne Haare darin verfingen und aus meiner Kopfhaut gezupft wurden, weil der Kopf das Einzige war, das aus der Tuchent herausschaute, unter der es angenehm warm und heimelig war: Bitte erschießt mich. Ich hasste meine Mutter jeden Morgen dafür, dass sie mich aus meiner heimeligen Welt herausgerissen und in die andere, feuchtkalte, mit der ich nichts zu tun haben wollte, hineinschupfte, so wie mich heute meine Kinder hassen, wenn ich sie in der Früh immer für sie viel zu früh aufwecke und aus ihrer heimeligen Welt herausreiße, obwohl ich versuche, es so sanft wie möglich zu tun, und nicht wie meine Mutter noch dazu mit den ewig gleichen Worten: Auf, auf, ihr müden Hasen, hört ihr nicht den Jäger blasen! Erst nach circa einer halben Stunde und nachdem ich meinen Kakao getrunken und mein Honigbrot gegessen hatte, das sie mir jeden Tag herrichtete, ging es langsam wieder, und ich war dann doch froh, dass niemand gekommen war, um mich zu erschießen, und ich weiterleben konnte. Zumindest bis zum nächsten Tag in der Früh, wo ich mir wieder dachte: Bitte erschießt mich! Das soll mein ganzes Leben so weitergehen?, dachte ich. Jeden Morgen der Wecker und ich: Bitte erschießt mich? Heute weiß ich: Leider ja, es ging so weiter. Schule, Lehre, Bundesheer, Beruf, Kindererziehung, überall und immer hatte man in der Früh aufzustehen. Und deshalb auch an diesem Morgen wieder der Gedanke: Bitte erschießt mich! Nur dass mir diesmal niemand einen Kakao und ein Honigbrot hergerichtet hatte. Ich stand auf und ging ins Bad. Ich zog mir mein Schlaf-T-Shirt aus und stellte mich vor den an der Wand montierten Heizstrahler. Ein massives Teil aus den siebziger Jahren mit einer fetten Glühwendel. Er leuchtete mir im dunklen Badezimmer rot ins Gesicht. Ich hielt es so lange davor hin, bis mir die Augenlider brannten. Dann erst schaltete ich das Licht am Badezimmerspiegel ein. Obwohl ich achtzehn Jahre alt war und ich meiner Mutter am Vorabend gesagt hatte, dass sie es mir nicht herzurichten brauchte, ich sei alt genug, es mir selbst herzurichten, hatte sie mir mein Gewand natürlich hergerichtet gehabt, so, wie sie beim Frühstück immer darauf bestand, die Butter und den Honig auf mein Brot zu schmieren, obwohl, oder wahrscheinlich gerade deswegen, weil ich immer sagte, sie soll mich doch bitte mein Brot selbst schmieren lassen, ich sei achtzehn Jahre alt, vor allem, wenn ein Freund oder, noch schlimmer, ein Mädchen dabei war, das bei mir übernachtet hatte. Nicht selten kam es zu Rangeleien um das Buttermesser, an dem meine Mutter mit einer Hand eisern festhielt und mit der anderen, die sie dadurch ebenfalls verkrampfte, dabei fast den Teebutterziegel zerquetschte, während ich versuchte, das Messer durch das einzelne Auf- und Zurückbiegen ihrer Finger aus ihrer Hand zu kriegen. An diese Brotschmierdiskussionen und Buttermesserrangeleien musste ich denken, als ich mein Gewand, gebügelt und zusammengelegt, auf der Waschmaschine liegen sah. Einmal werde ich weggezogen oder meine Mutter wird gestorben sein, dachte ich, während ich mir das nach ihrem speziellen Weichspüler riechende und mich dadurch immer an sie erinnern werdende Gewand anzog. Erst dann werden die Brotschmierdiskussionen und Buttermesserrangeleien aufhören, dachte ich.
Ich zog mir Socken an, darüber noch dicke Wollstutzen, und stieg in die klobigen, mit Dreck verkrusteten Bergschuhe. Der eingetrocknete Dreck musste schon einige Jahre alt sein, dachte ich, weil ich genauso oft wandern ging wie fischen. In meinen Rucksack packte ich ein Victorinox-Taschenmesser, Brot, eine Stange Dürre (Braunschweiger), zwei Paradeiser, drei Dosen Gösser-Bier, einen Blumentopfhut und eine rote Regenpelerine. Ich schulterte den Rucksack, ging, so leise wie mit den klobigen Bergschuhen möglich, die zwei Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss, stellte den Rucksack neben der Stiegenhaustür ab und ging noch einen Stock weiter hinunter in den Keller, wo meine Eltern ein Kellerabteil hatten, in dem, so hoffte ich, meine Angel, die ich zu meinem Geburtstag, ich glaube, es war mein zwölfter, von meinem Vater geschenkt bekommen hatte, von meiner Mutter verstaut worden war, wie alle meine Kindheitsreliquien, die sie in dem Kellerabteil hortete. Das Kindheitsreliquienkellerabteil meiner Eltern lag neben dem Kellerabteil ihres eitrigen Nachbarn, wie sie ihn nannten, weil das Weiß seiner Augen aufgrund einer Hepatitis-C-Erkrankung ganz gelb war. Gelbsucht, wie meine Mutter immer sagte und aber gleichzeitig eine Bewegung mit der Hand machte, die ein Nippen andeutete. Einen Leberschaden bekam man ihrer Meinung nach in erster Linie vom Saufen und war also grundsätzlich selbst verschuldet. Ich schaltete das Licht ein. Die Leuchtstofflampe brauchte ein paar Anläufe, bis sie startete, und gab, auch als sie nach sekundenlangem Flackern endlich gestartet war, nur wenig Licht durch die über die Jahre vergilbte und mit Spinnweben überwucherte Kunststoffabdeckung ab. Es fiel mit einem eine traurige Vergeblichkeit in mir auslösenden Gefühl auf den auf einem vollgerammelten Tisch über viele Jahre zusammengeläpperten Haufen von Dingen. In dem Moment kam mir der Gedanke, wahrscheinlich auch, weil ich mir vorher auf der Bettkante sitzend gedacht hatte, dass man mich bitte erschießen soll: Was weiß ich schon vom Sterben? Den Großteil des Tisches nahm der von meinem Vater selbst gebaute und mit einem Gleichstrommotor inklusive stufenlos einstellbarer Drehzahlregelung ausgestattete Fleischwolf ein. Auf dem rot lackierten Gehäuse klebte eine dicke Staubschicht. In diesem Fleischwolf wurden früher vierteljährlich die Reste der vom humpelnden, immer lachenden und rotbackigen Fleischhacker Augustin in der dem Kellerabteil angrenzenden Waschküche zerlegten Sau faschiert. Unter Beaufsichtigung meines Vaters durfte ich die groben Fleischstücke und Schwarten mit einem Holzknüppel in die Öffnung des Fleischwolfs drücken und je nach Bedarf die Drehzahl rauf oder runter regeln. An der Vorderseite wurde das Fleisch durch ein Rohr und eine Art Sieb in Form von Spaghetti in eine große Plastikschüssel gepresst, von wo meine Mutter es heraushob und portionsweise zum Einfrieren in Toppits-Gefrierbeutel mit einem Vakuumgerät einschweißte, während mein Vater die ganze Zeit die Zerlegkünste des Fleischhackers Augustin lobte. Eine Sau so zu zerlegen, sei eine Kunst und der Fleischhacker Augustin ein Zerlegungskünstler, sagte er in einer Tour und so laut, dass es der in der Waschküche werkende Fleischhacker Augustin auch gut hören konnte. Komplimente konnte mein Vater immer nur indirekt aussprechen und einem nie direkt ins Gesicht sagen. Direkt ins Gesicht konnte er einem nur sagen, was ihm nicht passte und was man, seiner Meinung nach, falsch machte, oder aufmunternde Sätze wie: Wie der den Schraubenzieher schon hält!, ich kann gar nicht hinschauen!, oder: So kann das nichts werden! Das Herausdrücken der Fleisch-Spaghetti durch das Sieb des Fleischwolfs hat mir immer gefallen, der Anblick hatte etwas Beruhigendes. Auch den Geruch empfand ich als angenehm. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal einen Sauschädel auf der Arbeitsplatte des Fleischhackers Augustin liegen sah und die Schweineaugen, mit den schönen,...
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