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Rocco Melina mit den schwarzen Fingernägeln wohnte an der schmalen Schotterstraße, die vom Kirchlein zum Brunnen von Riganìaddu führt.
Ebenso abgeschieden und abschüssig wie diese Straße verlief zu jener Zeit das Leben von Rocco, Jahrgang 1899, der gleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert war. Er war in New York gewesen, in Los Angeles und sogar in Chicago, und er hatte sich in jedem infrage kommenden Handwerk versucht, bis er durch einen seltenen Glücksfall eine Stelle in einer Druckerei fand, und mithilfe einer Abendschule und seines eisernen Willens war es ihm gelungen, sich niederzulassen und schließlich zu heiraten.
1946 war er nach Italien zurückgekehrt und hatte sich von seinen Ersparnissen zwei Druckmaschinen gekauft, den Druckereibetrieb jedoch einige Jahre zuvor eingestellt.
Der Postbote betrat die offen stehende Garage.
»Ja, bitte?«
Rocco Melina saß mit dem Rücken zu ihm an der Werkbank unter dem großen Fenster. Es roch durchdringend nach Druckfarbe. Der große Raum wurde fast vollständig von den Maschinen in Anspruch genommen, die, in einer Ecke stehend, mit ihm zusammen gealtert waren. Wie die vielen Holzspäne zu seinen Füßen verrieten, war der passionierte Handwerker in seine Lieblingsbeschäftigung vertieft. In den ersten Jahren seiner Tätigkeit waren Gussformen und Lettern Mangelware gewesen, sodass er sich sehr hatte plagen müssen, und da er als Kind häufig in der Tischlerwerkstatt seines Vaters geholfen hatte, beschloss er, seine Lettern selbst herzustellen, indem er sie aus Heideholz schnitzte: zuerst alle Buchstaben in Druckschrift, dann in Schreibschrift und schließlich sein Meisterwerk, die Darstellung des Gemeindewappens mit dem Turm und dem Falken. Er wollte das althergebrachte Handwerk nicht aufgeben, und wie es oftmals demjenigen geschieht, der die Vergangenheit nicht als vergangen betrachten will, hatte die Zeit ihrerseits beschlossen, ihn als Teil der Vergangenheit zu betrachten.
Er verbrachte seine Tage und diesen Augenblick damit, kleine Holzwürfel mit Landschaften, Gesichtern, Buchstaben und Erinnerungen zu versehen. Auf diese Art hielt er seinen Geist beschäftigt und dachte weder an seinen Sohn Pietro, der ebenfalls nach Amerika gegangen war, noch an seine Gewissensbisse, weil er nicht in der Lage gewesen war, ihn zu Hause zu ernähren. In irgendeiner Schublade steckte noch der erste Brief, den ihm Pietro geschrieben hatte, überschäumend vor Hoffnung und Begeisterung nach dem ersten Jahr auf der Abendschule:
Dear Tata,
ich schreibe Dir diesen Brief, um Dir zu sagen, dass ich möchte, dass auch Du hierherkommst, jetzt, wo Dein Sohn in Amerika ist, denn in Italien gibt es für uns nichts mehr zu tun.
Dein Sohn ist ins bisiness eingestiegen: eine Druckerei, lauter langweiliges Zeug (Gesetze der Bruderschaft) für die ehrenwerten Freimaurer der Mazzini-Loge, auch habe ich mir das Leben - genannt laif - für tensausend und sikstin dollari versichert, das sind zehntausendsechzehn Dollar.
Ich wohne in der Malberri Stritt, so heißt die Straße, und ich habe viel Geld. Die Frauen heißen hier uìmen, die Liebe lav, das Papier peper. Wenn Du fragen willst: Hast Du mich verstanden?, musst Du nur sagen: Anderstend-ju? Das Unglück, das wir so gut kennen, heißt hier trabbel, und uai sagt man, um zu fragen: warum? Und nicht beleidigt sein, wenn sie fuzzi zu Dir sagen, der fuzzi ist hier nämlich der Fuß, und stell Dir vor, uns Kalabresen nennen sie Italiener.
Die Namen der Orte überall sind sehr nais: Labbock, Filladelfia, Cicàco, Nuiork, Wichita. Mein lieber, guter Papa, schwere Arbeit hat hier einen hässlichen Namen, der mir Angst macht: uork. Die Hacke nennen sie einfach schowwel. Und wenn Du einen fragen willst: Was hast Du?, dann musst Du sagen: Wazza-metta-visju?
Ich weiß noch, als ich ein Kind war, bin ich barfuß gegangen, und Nasci und Bifaru haben mich verspottet. Gesegnet seien der Tag und die Tränen und die Trauer, als ich in dieses freie Land gefahren bin, denn wenn ich geblieben wäre, säße ich jetzt vielleicht im Gefängnis. Hier dagegen lasse ich es mir mit den Misses und Görls gut gehen, denn die Americani sind nicht eifersüchtig wie wir Calabresi, die sind nämlich dumm: Wenn Du vor ihren Augen ihre Frau anfasst, schreien sie noch hurra!
Sobald Du diesen Brief bekommst, nimm schnell Deinen Reisepass, schreib nach Neapel und nimm die beste Kabine, verkauf den Gemüsegarten und gib den Hausschlüssel dem Bürgermeister. Und jetzt stop raiting, das heißt, ich höre auf zu schreiben, brich unbesorgt auf, Tata, und wenn Du in Gibraltar bist, sag mir mit Marconis Telegraf Bescheid. Gudbài: Um den Rest kümmert sich Dein Sohn, der Dich umarmt und immer an Dich denkt.
Pietro hatte fast einen Monat gebraucht, um diesen Brief zu schreiben; er hatte sich dabei von Michele Pane helfen lassen, einem befreundeten Emigranten aus Kalabrien, einer, der Gedichte schrieb, die einem das Herz aufgehen ließen. Doch im Alter von siebzig Jahren noch einmal den Atlantik zu überqueren, fiel Rocco überhaupt nicht ein, denn er wünschte sich, im Dorf zu sterben und neben seiner Gattin - Gott hab sie selig - begraben zu werden. Kein Spaziergang auf der Seventieth Street war so viel wert wie die Ewigkeit an ihrer Seite. Das Letzte, was er sich auf dieser Welt noch erhoffte, war ein nach Salz und Meer duftender Brief, der die lang ersehnte Rückkehr seines Sohnes ins Dorf verkündete, und sei es nur für wenige Tage, gerade lange genug, um ihn daran zu erinnern, dass er Pietros Vater war.
»Darf ich reinkommen?«
Rocco drehte sich um. Seine Haut war dunkel wie mit Druckerschwärze gefärbt, der Schnurrbart schwarz und gepflegt, die Brille, an der ein Bügel durch einen Draht ersetzt war, saß ihm tief auf der Nase. Er trug eine dunkle Baskenmütze und einen grauen Kittel.
»Trasìti, herein.«
Er legte die Ahle auf das Tischchen, nahm die Brille ab und erhob sich. »Wenn man immer so krumm dasitzt, macht man sich den Rücken kaputt«, sagte er und legte die Hände auf die schmerzende Stelle. »Hat mir jemand geschrieben?«
Der Postbote hatte ganz vergessen, dass er für gewöhnlich nur deshalb mit der Dienstmütze auf dem Kopf ein Haus betrat, um etwas abzuliefern, wodurch sein Erscheinen eine unvorhersehbare Abfolge von Hoffnungen auslöste.
»Nein, verzeihen Sie, ich wollte Sie nur um einen Gefallen bitten .«
Roccos Enttäuschung war offenkundig, und der Postbote bedauerte, dass er nichts für ihn in seiner großen Tasche hatte, denn am Abend zuvor - Ich Esel! - hätte er sich an den Schreibtisch setzen und ihn schreiben können, den ersehnten Brief von Pietro aus New York, als Entschädigung für den Gefallen, um den er Rocco bitten würde. Nichts Außergewöhnliches hätte es sein müssen - Uns geht es gut, und Dir, wie geht es Dir so ganz allein? Es tut mir weh, nicht bei Dir zu sein, kann es kaum erwarten, Dich wiederzusehen, ich denke immerzu an Dich . -, all die abgedroschenen Worte der Zuneigung, die der einzige Trost für einsame, alte, sich selbst überlassene Eltern sind.
»Nur eine Kleinigkeit.«
»Ja?«
Er zog das Blatt aus der Tasche, auf das er am Tag zuvor den Buchstaben des Siegels gepaust hatte.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie so einen Stempel für mich anfertigen können.«
Melina streckte die Hand aus. Sie sah aus, als habe sie jahrelang in einem Tintenfass gesteckt, und als er nach dem Blatt griff, kam es dem Postboten so vor, wie wenn seine Fingerkuppen ihren Abdruck auf dem Papier hinterlassen hätten, und er dachte, dass auf allem, was Rocco berührte, diese Spur zurückblieb und dass er mit diesen kleinen Tintenflecken das Zeichen seiner Durchreise auf der Erde hinterließ.
Schon lange war niemand mehr mit einem derartigen Wunsch an den Drucker herangetreten. Er hielt sich den Brief dicht vor die Augen, musste aber dennoch die Brille aufsetzen. Den Draht klemmte er sich hinters Ohr, wie man es auch mit einer widerspenstigen Haarsträhne macht.
»Ja, das kriege ich hin«, nickte Rocco zufrieden.
»Wann soll ich wiederkommen?«
»Aspettàti«, antwortete er und trat an die Werkbank heran, »warten Sie einen Moment.«
Er setzte sich wieder. Aus einem schäbigen Weidenkorb links neben dem Tisch nahm er ein Stück Heideholz und betrachtete es, wobei er es dicht vor die Augen hielt und es hin und her drehte. Mit einem spitzen Bleistift zeichnete er den Buchstaben vom Blatt mit wenigen geschickten, knappen Strichen auf den ebenmäßigsten Bereich der Oberfläche. Er spannte das Holz in einen Schraubstock, griff nach einem Hohlmeißel mit hauchdünner Klinge und fing an zu schnitzen. Hin und wieder hielt er inne und betrachtete sein Werk, wechselte einige Male die Spitze, um die Umrisse zu vervollkommnen. Wie ein Traumbild bestaunte der Postbote diesen Mann, der an jedem Tag seines Lebens etwas in die Oberfläche eines Stücks Baumheide geschnitzt hatte, und hätte er alle Formen aneinandergereiht, dann wäre eine Trajanssäule dabei herausgekommen, kaum bescheidener in den Ausmaßen als das Original.
Fünf Minuten vergingen. Sie kamen dem Postboten vor wie ein Augenblick in einem Mythos, zeitlos und ewig. Rocco Melina löste das Holz aus dem Schraubstock und betrachtete es...
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