Schweitzer Fachinformationen
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Zehn Jahre bevor sie kam, um Nozias Faustins Kind zu sich zu holen, erwartete Gaëlle Cadet Lavaud selbst ein Kind. In jenem Jahr war es in Ville Rose so heiß, dass Dutzende Frösche platzten. Das ängstigte nicht nur die Kinder, die bei Einbruch der Dunkelheit die Frösche in die Flüsse und Bäche scheuchten, und die Eltern, die ihren Kleinen die schleimigen Kadaver hastig aus den Fingern zogen, sondern auch die fünfundzwanzigjährige Gaëlle, die im siebten Monat schwanger war und befürchtete, wenn es noch heißer würde, könnte auch sie platzen. Die Frösche starben schon seit einigen Wochen, aber zunächst hatte Gaëlle das nicht bemerkt. Sie waren ganz still gestorben, und wenn einer verendete, nahm ein anderer dessen Platz entlang der Schlucht neben Gaëlles Haus ein, und da sie alle gleich aussahen, war auch Gaëlle, wie andere, dem irrigen Eindruck erlegen, der ganz normale Kreislauf sei im Gange, die Jungen folgten auf die Alten, das Leben auf den Tod, mal langsamer, mal schneller. Wie bei allem anderen auch.
Nach einer schlaflosen Nacht voll quälender Visionen von Froschkadavern, die ihr in den Mund und durch die Kehle glitten, blieb Gaëlle unter dem Moskitonetz liegen, das ihr Himmelbett aus Mahagoni überspannte, während Laurent, ihr Mann, aus dem Zimmer schlüpfte.
Erst als sie das Klirren des Silbers im Esszimmer und Laurents überschwängliche Komplimente an Inès, die Haushälterin, für deren Spiegelei mit Hering hörte, öffnete Gaëlle die Augen. Doch mit dem Aufstehen wartete sie, bis ihr Mann den Motor seines alten Peugeot Cabriolet anließ, das Zeichen, dass er sich auf den Weg zum Stoffladen machte.
Kurz nachdem er weggefahren war, stand sie auf. Sie behielt ihr Nachthemd an und griff nach dem Nachttopf aus Keramik, den sie immer neben dem Bett stehen hatte. Die stets wachsame Inès war gerade nirgends zu sehen, und so ging Gaëlle aus dem Haus, durch den Mandelhain, der in eine Wiese mit wildem Vetiver mündete, die wiederum auf einen Bach stieß.
Die Sonne war noch nicht lange aufgegangen, doch sie brannte bereits senkrecht vom Himmel herunter. Trotzdem fühlten sich die Steine und Kiesel am Bach unter Gaëlles Füßen eiskalt an. Sie ging darüber wie über Erde oder Gras, folgte dem Bach in Fließrichtung, bis sie die ersten Frösche erspähte. Nur ein paar Zentimeter vom nächsten Seerosenblatt entfernt sah sie einen grünen Hornfrosch, der aussah wie ein Blatt mit Hörnchen. Seine Beine erinnerten an die eines Huhns, und er sah fast aus, als runzelte er die Stirn. Wenig später fand sie einen kleinen braunen Pfeiffrosch, der eher einem normalen Frosch glich, bis auf etwas, was wie ein langer Mittelfinger an seinen Hinterbeinen aussah. Der dritte war ein winziger scharlachroter Coqui-Frosch, dessen melodischer Stakkato-Gesang angeblich Babys in den Schlaf lullte.
Gaëlle schaute genauer hin. Alle drei Frösche waren tot, allerdings schienen sie eines sanfteren Todes gestorben zu sein als die, deren zerfetzte Überreste sie in den vergangenen Tagen gesehen hatte. Die drei toten Frösche hatten alle eine kauernde Haltung inne, als wären sie im Sprung oder im Kriechen erstarrt.
Ihren Bauch reibend ging sie in die Hocke, hob die Frösche auf und legte sie in den Nachttopf. Sie ging auf einen Mandelbaum zu, unter dem sie in der vergangenen Woche jeden Tag einer Handvoll Froschhäute ein stummes Begräbnis bereitet hatte, und hielt den Nachttopf dabei schützend vor den Bauch. Fast jeden Morgen war sie in der Hoffnung an den Bach gekommen, wenigstens einen lebendigen Frosch vorzufinden, aber die toten Frösche wegzutragen gab ihr das Gefühl, nützlich zu sein, als erfüllte sie eine wichtige Aufgabe, die niemand anders übernehmen wollte oder konnte. Manchmal kam es ihr auch vor, als führte sie die Spiele fort, die sie und ihr Mann als Kinder so geliebt hatten: Eidechsen in Streichholzschachteln beerdigen, Schmetterlinge und Glühwürmchen in Gläsern fangen. Obwohl sie sich jeden Morgen schwor, dass diese kurze Jagd die letzte sein würde, konnte sie nicht damit aufhören, ja, sie redete sich schließlich sogar ein, die Frösche und sie brauchten sich gegenseitig.
Sie bohrte die Finger in die vom Tau noch weiche Erde und grub ein Loch, das groß genug war, um die Frösche unter dem Mandelbaum zu begraben, dann ging sie ins Haus zurück und verbrachte den restlichen Tag im Bett. An manchen Tagen fühlte sie sich so frei, dass sie das Kind in ihrem Leib fast vergaß. An anderen Tagen wiederum, solchen wie heute, fühlte sie sich, als hätte sie ein Schlangennest im Bauch. An diesen Tagen brachte Inès ihr das Essen ans Bett, doch sie aß kaum etwas: das Frühstück, Kochbananen und Spiegelei; das Mittagessen, Reis mit Bohnen; der gebratene Fisch und das geschmorte Fleisch, die das Kind päppeln sollten, erschienen ihr allesamt noch weniger appetitanregend als die toten Frösche, die sie in den Boden gepflanzt hatte.
»Diese Hitze und das Drama mit den Fröschen - das ist bestimmt ein Zeichen, dass etwas noch Schrecklicheres passieren wird«, sagte Laurent zu ihr, als er aus der Stadt zurückkam. Er beugte sich zu ihr, um sie auf die Wange zu küssen, sein Gesicht war schweißüberströmt.
Laurent Lavaud - für seine engen Freunde Lolo, für seine Frau Lòl - war ein schmächtiger Mann, dünner und kleiner als Gaëlle, selbst wenn sie barfuß war. Er hatte dichtes, kleingelocktes Kraushaar und ein breites Grinsen, das er selbst im Ärger nicht unterdrücken zu können schien. Er stammte aus einer Familie von Schneidern und Tuchladenbesitzern und war aufgrund der reichen Auswahl an Stoffen in seinem Laden immer sehr gut gekleidet, wobei er zur Zeit maßgefertigte luftige Guayaberas und weite Baumwollhosen bevorzugte.
Laurent ließ sich in einen der beiden Schaukelstühle auf der Veranda sinken und erzählte Gaëlle, dass er beim Verlassen der einzigen Radiostation von Ville Rose, WZOR, Radio Zòrèy oder Ohr Radio, wo er bestimmte Sendungen sponserte und ab und zu im Studio saß, um sich Übertragungen anzuhören, eine Gruppe junger Schlägertypen vor dem Eingang habe herumlungern sehen. Während Gaëlle sich mit einer Hand den Bauch rieb, was ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden war, und sich mit dem Strohhut in der anderen Hand Luft zufächelte, sagte sie, ohne ihm wirklich zuzuhören: »Denk nicht darüber nach, Lòl. Es verdirbt dir nur den Appetit.«
Er nickte und kam wieder auf die Frösche zurück. »Davon habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört, dass Tiere auf diese Weise verenden.«
Als Jugendlicher hatte Laurent oft handgerollte Tabakblätter geraucht. Manchmal wenn er irgendeine Erklärung abgab - er hatte eine dieser Stimmen, die immer so klingen, als gäben sie eine Erklärung ab -, wirkte er etwas atemlos.
Da ihr Haus mitten in einer berüchtigten Überschwemmungsebene lag, einem Delta, in das mehrere Bäche und Flüsse mündeten, dachte Gaëlle, dass Hunderte verwesende Frösche eigentlich katastrophale Auswirkungen haben müssten. Aber sie schnupperte jeden Morgen sehr bewusst in der Morgenluft und konnte keinerlei Gestank nach toten Fröschen ausmachen. Ihr wurde klar, dass die meisten Frösche einfach vertrockneten, wenn ihre blanke Haut und winzigen Organe der Sonne ausgesetzt waren, und sich dann auflösten, unter den Seerosenblättern oder in den Bach hinein.
Es war ein Glück, dass es nicht faulig stank. In dieser Phase ihrer Schwangerschaft verursachte ihr fast alles heftigen Brechreiz. Nur zwei Gerüche belangten sie gar nicht: der feuchtkalte Geruch toter Frösche und der tintige Duft neuen Tuchs, den sie so sehr mochte, dass ihr Mann manchmal den Verdacht hatte, sie knabbere heimlich an der Ware, wenn sie im Laden war.
Ein paar Wochen nachdem das große Sterben begonnen hatte, verschwanden die Frösche und ihre Kadaver. Die frühsommerlichen Regenfälle ließen die Bäche und Flüsse der Stadt anschwellen, ertränkten die restliche Froschpopulation und lagerten neben Gaëlles und Laurents Haus eine dicke Schicht sandigen Lehms ab. Das Wasser hatte genug Kraft gehabt, um die langen Wurzeln des jungen Vetivergrases, das wild neben ihrem Haus wuchs, aus dem Boden zu reißen. In manchen Jahren hatten sie mit dem wilden Vetiver sogar Geld verdient, denn es war nicht nur gut für den Boden, sondern auch sehr begehrt bei zwei Zulieferbetrieben der Parfumbranche, die in der etwas weiter südlich gelegenen Stadt Les Cayes angesiedelt waren. In den Jahren, in denen das Vetivergras besonders gut gedieh, nutzten Laurent und Gaëlle das zusätzliche Geld, um an den Rändern ihres Anwesens weitere Reihen von Mandelbäumen zu pflanzen. Besonders Gaëlle liebte die Mandelbäume, und bevor sie schwanger wurde und eine Abneigung dagegen entwickelte, brach sie die faserigen Früchte oft mit Flusssteinen auf und löste die Kerne heraus.
Eines Abends empfing die beherzte, breitbrüstige Inès, die ihre Haushälterin war, seit sie geheiratet hatten, den wieder einmal sehr spät aus dem Laden kommenden Laurent mit einem Glas Limonade auf einem Silbertablett.
»Isst Msye heute zu Abend?«, fragte sie ihn mit einer tadelnden Stimme, die so tief war wie seine.
Laurent schüttelte den Kopf. Er aß nicht gern abends und kam oft erst spät nach Hause, wenn seine Frau schon gegessen hatte.
Es war Gaëlle durchaus schon in den Sinn gekommen - und Inès vielleicht auch -, dass ihr Mann, da sie sich schon seit ihrer Kindheit kannten und Gaëlle bereits im ersten Monat ihrer Ehe schwanger geworden war, ein Verhältnis mit einer anderen Frau haben könnte. Aber Gaëlle wusste auch von seinem Interesse am Radio - sein Verlangen danach, den Moderatoren und Moderatorinnen vom Regieraum aus bei der Arbeit zuzusehen, war so stark wie seine sinnlichen Begierden -, und sie...
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