Alster - Sonntag - 16:30 Uhr

Nora sah dem hochgewachsenen blonden Mann entgegen, der das Büro betrat. Ein Schwall kalter Luft zog hinter ihm her, stieg von seinem Mantel und seinen Lederhandschuhen auf, die er in der Hand hielt, als wolle er jemandem eine Fehde erklären, während er mit großen, festen Schritten den Raum durchmaß und sie mit seinem Blick fokussierte. Noch im Gehen streckte er die Hand aus, wie um diese Förmlichkeit schnell hinter sich zu bringen.

Und damit niemand Zeit hat, die Flucht zu ergreifen, dachte Nora. Er war ihr sofort unsympathisch. Ein konservativer Politiker wie er im Buche stand, einer, über den ein linker Bekannter aus Berlin sagen würde: »Warum sehen diese Arschlöcher immer so aus, wie man sie sich vorstellt?«

Nora war überrascht, dass sie zu so negativen Gefühlen in der Lage war, obwohl es sich hier um ein Opfer, einen sorgenden Vater, einen zutiefst verletzten Menschen in größter Not handelte. Sie stand auf, reichte ihm ihre Hand, während er sie einmal kurz mit seinen stechend blauen Augen musterte, und sagte: »Justus Stein, und Sie sind .?«

Doch ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Friedrich Meyer ins Visier. »Etwas Neues?«

Seine Stimme klang eher wie ein Knurren, ein wütender, eingeklemmter Laut, als müsse er an sich halten, nicht jemanden zu packen und zu schütteln, bis seine Kinder aus dessen Taschen fielen. Meyer schüttelte bedauernd den Kopf, und Nora beobachtete Steins Reaktion. Er starrte Kommissar Meyer an, als überlege er, wie er ihm sagen solle, dass diese Antwort inakzeptabel sei. Sie sah seine Kiefermuskeln arbeiten - aus Trauer, Wut, Ohnmacht oder Schmerz?

»Aber meine Frau haben Sie im Blick, oder? Ich möchte nicht, dass sie in dieser Situation allein das Haus verlässt.«

Meyer nickte. »Die Psychologin und ihr Hausarzt waren vorhin hier. Wir passen schon auf.«

Trotz des spontanen Widerwillens und Justus Steins Unhöflichkeit hatte Nora nun Mitleid. Auch mit Krystina Stein. Warum kollaborierte Meyer mit ihm? Frau Stein konnte hingehen wohin sie wollte, oder? Stein schien das erste Mal in seinem Leben mit einer Situation konfrontiert, die sich vollständig seiner Kontrolle entzog. Seine Haut zeigte deutliche Zeichen von Schlafmangel, dunkle Ringe, scharfe Falten um die Nase und seinen schmalen Mund. Er war ohnehin blass, groß und dünn, seine blonden Haare lagen glatt am Kopf, dazu ein hochnäsiges Gesicht wie gemeißelt. Nur unter dem Kinn verlor die Haut an Spannkraft, ein in die Jahre gekommener Burschenschaftler. Friedrich Meyer erläuterte, dass sich ein weiterer möglicher Zeuge gemeldet hatte, während Nora noch Zeit blieb zu sehen, wie sorgfältig gefärbt das blonde Haar war, wie ausgesucht die Qualität des Wollmantels und der handgenähten Schuhe, bis er sich wieder ihr zuwandte. Sein Blick war nach wie vor eisig.

»Nora Klerner, BKA«, sagte sie und sah ihm ihrerseits forschend in die Augen. Sie meinte Verzweiflung hinter der zur Schau gestellten Aggression zu sehen.

»Ah«, Justus Stein schien überrascht, dann fasste er sich. »Sehr gut, sehr gut. Dann haben Sie Ergebnisse?«

Nora schüttelte ebenfalls bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid. Aber wir tun alles, was in unserer Macht steht.«

Er hob ein wenig das Kinn, als müsse er prüfen, ob diese Aussage ausreichend Gewicht für den Moment hatte, und nickte schließlich kurz.

»Gut, dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Frau Klerner, Herr Meyer!« Er nickte noch einmal und verließ den Raum ebenso eilig, wie er ihn betreten hatte.

Nora sah ihm hinterher. Justus Stein hatte alle anderen Anwesenden ignoriert. Aber sie glaubte, dass es weniger ein Zeichen von Arroganz als vielmehr von Hilflosigkeit war. Dieser Mann hatte keine Strategie, mit Schmerz umzugehen, er vermied Kontakt, wahrte eine Fassade. Wie er im Polit-Zirkus zum Spitzenkandidaten einer Oppositions- oder Koalitionspartei hatte mutieren können, war schwer nachvollziehbar und doch verständlich. Er stand für persönlichen Erfolg, das Recht auf Privilegien. Nora blickte zu Friedrich Meyer, der von der Begegnung mit Justus Stein erschöpft wirkte. Interessant. Sie vermutete, dass der Hausherr seiner Verzweiflung bereits mehrfach durch lautstarke Anfeindungen Luft gemacht hatte.

»Ich würde gerne die Zimmer der Kinder sehen«, sagte Nora.

Friedrich Meyer saugte nachdenklich die Backen ein und nickte. »Brigitta wird Sie nach oben begleiten.«

Brigitta Kamp lächelte traurig und bedeutete Nora, ihr zu folgen. »Ich gehe da nicht gerne hoch«, sagte sie leise, als sie die Treppe im Eingangsbereich emporstiegen. Zu Justus Stein verlor sie kein Wort, obwohl Nora den Eindruck hatte, sie sei angespannter, seit der Hausherr wieder da war. Wo war er überhaupt gewesen?

Oben teilte sich das Treppenhaus noch einmal, von einer breiten Diele gingen etliche Türen und schmalere Treppen in weitere Geschosse ab. Die Zimmerfluchten wirkten verwinkelter, als Nora es bei einem Haus dieser Größe erwartet hätte.

»Die Kinder haben zusammen ein Badezimmer sowie je zwei Zimmer.«

Noch immer flüsterte Brigitta Kamp, und Nora fragte sich, ob sie versuchte, eine erneute Begegnung mit den Eltern zu vermeiden. Brigitta Kamp öffnete die Tür zur Rechten, und sie traten in das erste der Kinderzimmer. Augenscheinlich das Wohnzimmer von Lasse, wenngleich es wie das eines Teenagers wirkte, der er eigentlich noch nicht war. Das Auffälligste in dem Raum war ein riesiges Aquarium. Es gab helle Sessel und ein Sofa im skandinavischen Stil. In schwebend angebrachten Regalen, die sich bis zur Decke zogen, standen Bücher, einige kleine polierte Pokale und großformatige Bildbände zur Naturkunde. Eine Urkunde der Mathe-Olympiade seines Gymnasiums hing gerahmt an der Wand. Nora trat näher. Die Pokale waren Auszeichnungen aus Segelwettbewerben, ein kleines Foto zeigte Lasse in Rettungsweste an der Pinne eines winzigen Bootes, das blonde Haar vom Wind zerzaust und über beide Backen grinsend. Das Boot war ein Optimist - und auch Lasse wirkte optimistischer und weniger steif als sein Vater. Der Schreibtisch vor dem Fenster dagegen schien für einen Sechstklässler überdimensioniert, als sei die Verantwortung der Sprösslinge der Familie Stein schon früh umfänglicher als die anderer Kinder. Eine beige Lederauflage schützte das helle Holz. In einem schmalen Kistchen lagen etliche Stifte, hochwertige glänzende Füller und Kugelschreiber ebenso wie angekaute grüne Bleistifte. Nora ging zum Aquarium hinüber, bückte sich und sah Neonfischen zu, wie sie zwischen hohen, schlanken Pflanzen hin und her zischten. Ein Wels robbte auf seinen Lippen die Scheibe entlang.

»Gut in der Schule, sportlich und naturwissenschaftlich interessiert. Seine Eltern müssen sehr stolz auf ihn sein«, sagte sie zu Brigitta Kamp.

»Das sind sie bestimmt! Und warten Sie, bis Sie Livias Zimmer sehen.«

Sie gingen durch das angrenzende hellgraue Schlafzimmer, das durch die auf dem Boden und auf dem Lehnstuhl verteilten Jungsklamotten bedeutend unordentlicher wirkte, in ein mit hellem Stein gefliestes Bad mit Badewanne und Dusche, von dem auf der anderen Seite eine weitere Tür abging. Als Brigitta sie öffnete, schreckte eine junge Frau von dem Bett auf, setzte sich hastig auf und wischte ihr Gesicht mit einem bereits nassen, zerknautschten Papiertaschentuch ab. »Das ist Felicitas García«, sagte Brigitta Kamp. »Sie kommt aus Spanien und ist für ein Jahr als Au-pair in Deutschland.«

Nora betrachtete das Mädchen prüfend. Felicitas García war hübsch, sie hatte lange dunkle Haare, hohe Wangenknochen und einen vollen Mund. Ihre Unterlippe zitterte, als sie aufstand.

»Ich«, stammelte sie, »ich will nicht stören. Es ist nur so .« Sie brach in erneute Schluchzer aus, die ihren Körper schüttelten, und presste sich das Taschentuch vors Gesicht. »Kann ich .?«, fragte sie mit einem Blick auf Nora und deutete zur Tür.

Diese nickte, sah ihr nach, wie sie leise weinend mit gesenktem Kopf aus dem Zimmer floh.

»Ihre Eltern reisen aus Barcelona an, dann zieht sie in ein Hotel. Aber noch sind sie nicht eingetroffen. Wir würden sie auch gehen lassen, aber .« Sie ließ es offen, dass niemand in dieser Situation einfach abreisen konnte.

Nun standen die beiden allein in dem wahr gewordenen Traum jedes kleinen Mädchens, das lieber eine Fee wäre, oder dem seine Eltern weismachen wollten, es sei eine. Weiße Musselinvorhänge mit aufgestickten Blüten umwölkten das breite Himmelbett, der flauschige lindgrüne Teppich passte zu dem Sitzsack vor dem Fenster, der aussah wie der knubbelige Hügel einer Blumenwiese. Neben einem Bauernschrank befanden sich in die Wand eingelassene weiße Regale voller Spielsachen und Bücher. Obwohl es auch kitschig wirkte, strahlte das Zimmer durch die hochwertigen Materialien Behaglichkeit aus. Alles war liebevoll arrangiert und aufgeräumt, bis auf den Schreibtisch: Auf der breiten Fläche lagen unzählige Bilder, Buntstift- oder Wachszeichnungen und Tuschebilder in unterschiedlichen Phasen der Fertigstellung. Livia war aufgrund ihrer Umgebung vielleicht ein verwöhntes Mädchen, das seine Eltern auf das Leben vorbereiteten, indem sie ihr einen Prinzessinnenpalast bauten. Doch die Bilder waren von kreativer, fröhlicher Farbigkeit, und die vielfältigen Tiere, die auf fast jedem zu sehen waren, schauten eigenwillig amüsiert und schienen geduldig und zielstrebig aufs Papier gebracht.

Wenn die Bilder Rückschlüsse auf das Temperament des Mädchens zuließen, war sie eine intelligente, glückliche und in sich ruhende kleine Person. Oder Fee.

Trauer schoss urplötzlich von Noras Brustkorb durch den Hals nach oben, so dass ihr Mund trocken wurde.

In Lasses Zimmer hatte sie...