Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Lüneburg, Montagmorgen
In dieser ersten Nacht schlief Nora kaum. Sie wälzte sich im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. Obwohl sie in ihrem Giebelzimmer über den Dingen thronte, war ihr die ganze Zeit bewusst, dass es nur einen Weg in das Zimmer hinein gab. Sollte jemand, wer auch immer, heraufkommen und ihr Übles wollen, bliebe ihr nur eine Flucht über das steile Dach. Rein hypothetisch. Sie hatte gelernt, mit ihren Ängsten umzugehen: sich eine Position im Raum zu suchen, von der aus sie alles überblicken konnte, mit einer Wand im Rücken. So zu liegen, dass sie sich sicher fühlte. Aber trotz allem, es funktionierte nicht immer. Schließlich holte Nora sich einen Roman aus einem Regal voller zurückgelassener Bücher an der Treppe und las, bis der Morgen graute. Sie würde sich an das Zimmer gewöhnen müssen. Es würde niemand die Stiege hinaufkommen.
Als es endlich dämmerte, atmete sie auf, duschte lange heiß und machte sich auf den Weg zur Polizeidirektion Lüneburg: drei unansehnliche Quader mit Flachdach und vier Stockwerken hinter einem Parkplatz an einer breiten Verkehrsstraße, die den älteren Stadtbezirk von einem Areal großer Bau- und Supermarktketten trennte. Im Vorraum der Wache vor dem Glaskasten des wachhabenden Beamten blieb Nora stehen und lauschte. Sogar hier schien die Atmosphäre geprägt von dehnbarer Ruhe. Der Polizist in dem Aquarium tippte etwas in den Computer, kein Telefon läutete.
Nora wartete auf Marie Güster, die sie in ihr Büro bringen sollte. Einmal hatten sie zuvor miteinander telefoniert. Ein freundliches, unverfängliches Gespräch, auch über die Vorzüge Lüneburgs. »Sie werden sich hier wohlfühlen«, hatte die Kollegin gesagt. Ein seltsamer Gedanke.
Marie Güster kam die Treppe hinunter. Sie war sehr jung, und ihre helle Haut schimmerte so durchscheinend, dass ihre Augenringe sie anämisch und so übernächtigt aussehen ließen, wie Nora sich fühlte. Sie lächelte ein wenig schüchtern, und Nora war überrascht. Diese Frau schenkte ihr Vorschusssympathie. Das war nicht immer der Fall. Nora war seit sechs Jahren Sonderermittlerin beim BKA, lang genug, um zu wissen, dass die Erwartungen an sie hoch waren - aber nicht so hoch wie die Renitenz, wenn sie auf Ermittlungsfehler oder Versäumnisse stieß. Und die Hoffnungen, die in sie gesetzt wurden, gingen stets einher mit der Sorge, dass sie Fehler aufdeckte. Im Grunde wäre es einfacher und sicherlich netter, immer mit den gleichen Kollegen zusammenzuarbeiten und nur aus Wiesbaden und Berlin zur Stippvisite in die örtlichen Polizeiinspektionen abzutauchen. Doch Nora hatte gute Gründe für die Wahl ihres unsteten Postens. Und sollten die ruchbar werden, könnte das in einem Desaster enden.
Sie erwiderte das Lächeln von Marie Güster. Es fühlte sich an, als würde sie ein mürbes Gummiband mit Gewalt spannen. Maries Handfläche war warm und trocken, aber ihr Händedruck ein wenig schlapp.
»Unseren Chef Rainer Mohns werden Sie erst nachher kennenlernen«, sagte Marie. »Er ist in Uelzen bei den Kollegen, um sie über die neusten Entwicklungen zu informieren.«
Sie lotste Nora durch ein anonymes Treppenhaus mit grauem Linoleum in den dritten Stock, in ein geräumiges Büro mit riesigem Schreibtisch aus buchenfurniertem Sperrholz und einem fast leeren, ebenfalls buchefarbenen Kunststoffregal für Aktenordner vor einem Fenster, das auf den Parkplatz hinausging. Auf der Fensterbank standen Topfpflanzen in angegilbten Flechtkörben, und nur in der Ferne lugten die Kirchturmspitzen im Altstadtviertel hervor.
Willkommen zu Hause, dachte Nora.
Marie lächelte ihr aufmunternd zu. »Äh, so, das ist Ihr Büro.« Sie ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen. Anscheinend fiel ihr erst jetzt ebenfalls auf, wie trist es wirkte. »Und jetzt zeige ich Ihnen die Kaffeeküche und stelle Ihnen die Kollegen vor.«
Die Blicke der anwesenden Kollegen und Kolleginnen des Fachkommissariats I, zuständig für Gewalt- und Tötungsdelikte, waren stets auf den Computer fixiert, als sie von Büro zu Büro gingen. Nora gab jedem die Hand, alles wirkte sehr unaufgeregt, auch wenn ihr verstohlen hinterhergeschaut wurde, wenn sie ein Büro wieder verließ. Sie hatte Verständnis dafür. Dem LKA Niedersachsen und vor allem Johan Helms, der um ihre Hilfe gebeten hatte, war ihre Anwesenheit willkommen, aber die Lüneburger waren nicht gefragt worden. Sie mussten sich vorkommen wie Provinzbullen, die plötzlich kontrolliert wurden, weil etwas aus dem Ruder lief.
Systematisch versuchte sie, sich die Namen einzuprägen. Da war Kriminalkommissar Volker Reine, ein schlanker Mann mit grauen Haaren und hartem Gesicht, der sich förmlich erhob, als sie den Raum betrat. Ein weiterer Beamter, Heiner Vollmer, deutlich älter als Reine, mit Bart und Bauch, der sich verlegen am Kinn kratzte und dann grinste. Und eine etwas burschikose Mittfünfzigerin, Kriminalhauptkommissarin Irene Bauer, die breit lächelte. Sie führte, erfuhr Nora, die Akten im Fall Saskia und vertrat den Leiter der Ermittlungen, den Ersten Hauptkommissar Rainer Mohns, wenn er, so wie jetzt gerade, nicht zur Verfügung stand.
»Hallo, Frau Klerner. Ich habe hier einen Ausdruck mit allen notwendigen Passwörtern für unseren Server und die darauf befindlichen Fälle für Sie. Marie hat Ihnen die Akten der Soko-Saskia in der ausgedruckten Version auf den Schreibtisch gelegt. Auf dem Server finden Sie alles auch noch einmal digital«, sagte sie, »die Laufakten habe ich hier.« Sie legte die Hand auf einen ansehnlichen Stapel Registermappen.
»Nora, bitte«, sagte Nora zum wiederholten Mal und nahm den Zettel entgegen.
Sie hatte zwar allen das Du angeboten, aber letztlich war es ihr gleich, Unverbindlichkeit war ihr am liebsten.
Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Beraterin und Sonderermittlerin hatte Nora sich jedes Mal intensiv auf eine neue Gruppe eingelassen, hatte versucht, kurzfristige Freundschaften zu schließen, das interne Beziehungsgeflecht zu durchschauen. Doch irgendwann hatte es nachgelassen, dieses Gefühl, dazugehören zu wollen. Vielen Kollegen fiel es schwer, sich in Noras Gegenwart zu entspannen. Die Mythen über die Spezialausbildungen in ihrer Abteilung und ihrer Behörde umgaben sie wie ein fremdartiger Geruch, der sie aus der Herde aussonderte. Dabei war die zusätzliche Ausbildung in Mikromimik und FACS, Facial Coding Action System, für Nora mehr eine Art Überlebenstraining gewesen und auch nichts sonderlich Beeindruckendes, wie sie selbst fand. Eher ein Setzkasten für Muskelgruppen und deren vermeintliche Zusammenhänge mit Emotionen. Die analytische Herangehensweise an die Gefühle ihrer Mitmenschen hatte Struktur in ihre damals chaotische, überreizte Wahrnehmung gebracht und ihr geholfen, ihre Angst in Schach zu halten.
Nach dem Rundgang durch die Büros zeigte Marie ihr noch die Küche, bevor sie sie allein ließ. Nora nahm sich eine große Tasse mit Kaffee, dessen Oberfläche ölig glänzte, und ging damit in ihr neues Büro. Der Stuhl unter ihr fühlte sich fremd an, das Büro sah aus wie eine hässliche Möbelausstellung, und doch wusste sie, dass es sie nicht stören würde. Das Einzige, was zählte, waren die dicken Akten vor ihr auf dem Schreibtisch. Sie waren ihre Brotkrümel im dunklen Wald.
Sie pustete in die Tasse, musterte die dicken Mappen und zog dann aus ihrer eigenen Tasche den Ordner, der der eigentliche Grund dafür war, dass man sie angefordert hatte: die Akte zu Evelinas Tod in Tschechien vor etwa sechs Monaten. Sie legte sie neben die anderen und spürte die Energie, die von den Ordnern ausging, das leise Vibrieren der Düsternis und Traurigkeit dessen, was sie zwischen den Pappdeckeln erwartete. Sie wappnete sich gegen ein Gefühl, ähnlich dem, wenn ein nacktes Knie über Asphalt schürft, dann schlug sie die erste Seite des Ordners zu Saskias Tod auf und machte sich an die Arbeit.
Eine halbe Stunde später hatte sich Nora einen groben Überblick über die Details verschafft, die die Kollegen am Fundort der Leiche erwartet hatten. Sie war im Wald aufgebahrt worden, auf einer Lichtung. Auf dem Foto waren ihre blonden Haare wie ein Glorienschein um ihren Kopf drapiert, mit verwelkten Blüten von Frühlingsblumen geschmückt. Obwohl das Mädchen durchscheinend weiß war, mit einem leichten bläulichen Schimmer, sah sie fast aus, als schliefe sie. Ihre Wimpern lagen wie dunkle Fächer auf der blassen Haut. Ihre Hände hielten weitere Wiesenblumen mit dünnen Fingern umklammert. Sie lag auf der Seite, die Knie angewinkelt und die Beine übereinandergelegt wie ein langgliedriger Embryo. Sie war nackt, aber Äste hatten ihren Körper zuvor bedeckt, und immer noch klebte hier und da ein welkes Blatt dunkel auf ihrer Haut. Ihr Gesicht war erstaunlich friedlich, fast als würde sie schlafen. Nora wusste, dass die entspannten Muskeln in Saskias Gesicht von den Sedativa in ihrem Blut herrührten, aber dennoch war das Bild von einer morbiden Ästhetik, vor der ihr grauste.
Sie nahm sich den deutlich schmaleren Ordner vor, den sie bereits gestern auf der Zugfahrt studiert hatte, und schlug ihn auf. Er war schlicht beschriftet. Evelina Berkowski, f 02. Dezember 2011, Lestra.
Knapp ein halbes Jahr war es her, dass das zwölfjährige Mädchen im Dezember in Tschechien verschwunden war. Wochenlang hatte sie im Wald gelegen, bevor Forstarbeiter Mitte Januar über ihren Leichnam gestolpert waren. Weihnachten für drei Geschwister und ihre Eltern im Ungewissen über den Verbleib ihrer ältesten Tochter.
Die Ähnlichkeit der auf den Bildern abgebildeten Haltung der Leichen war frappierend. Die Akte, die Nora am Freitag in Berlin zugestellt worden war, enthielt einige...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.