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. vorausgesetzt, man will es. Vorausgesetzt, man will es auch dann, wenn die Geschichte, die man bei genauerer Betrachtung entdeckt, weder Patentrezepte liefert noch die kindliche Vorstellung bedient, sie laufe irgendwie auf uns zu: Sie lasse die Menschheit Fehler über Fehler, Fortschritte über Fortschritte machen, damit wir Heutigen angeliefert bekommen, was sie für uns im Gepäck hat.
Diese Lieferando-Version der Geschichte tritt heute mit besonderer Hartnäckigkeit beim Thema Demokratie auf.1 Wie weiland am französischen Königshof der Frühen Neuzeit die Kronprinzen literarische Werke in kindgerecht bereinigter Fassung ad usum Delphini - zum Gebrauch des Dauphins, des Thronfolgers - zu lesen bekamen, erfahren wir heute lesend die Geschichte unserer Form der parlamentarischen Demokratie in einem infantilisierenden Modus der Verehrung. Diese Regierungsform sei auf uns gekommen, weil unsere Vorfahren für ihre Rechte gekämpft hätten, allen voran für das Wahlrecht. Unter dem Druck von Wahlrechts- und Protestbewegungen, von mutigen Frauen und Männern des Bürgertums und der Arbeiterschaft, sei den Fürsten und herrschenden Schichten früherer Zeiten abgerungen worden, der breiten Bevölkerung Mitspracherechte einzuräumen. Deswegen sei - je nach Lesart seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert oder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - eine Demokratisierung von Politik und Gesellschaft unabdingbar geworden und habe sich im 20. Jahrhundert in Gestalt der parlamentarischen Demokratie- und Regierungsform verallgemeinert. So seien Rechtsstaat, Sozialstaat und politische Partizipation möglich geworden, mithin ungefähr alles, was uns heute wichtig ist.
Tatsächlich gab es diese mutigen Männer und Frauen, diese Protestbewegungen und Wahlrechtskämpfe. Sie können gar nicht hoch genug gepriesen werden. Ihnen allen jedoch war gemeinsam, dass ihr Einfluss auf die real existierende Politik des 19. Jahrhunderts marginal war. Die parlamentarische Regierungsform, die in der Tat im 19. Jahrhundert entstand und damit die eigentliche Vorgeschichte unserer heutigen Regierungsform ist, ging folgerichtig auch weniger aus partizipatorisch-demokratischen als aus gänzlich anders gelagerten Gründen hervor. Diesen Gründen und Zusammenhängen gehe ich im folgenden Essay nach. Sie ergeben eine postheroische Politikgeschichte. Postheroisch, weil der Erzählfaden nicht von heutigen demokratischen Werthorizonten aus rückwärts gespannt wird, politisches Handeln früherer Zeit also nicht im anachronistischen Licht heutiger Präferenzen erscheint. Stattdessen frage ich danach, in welchem Licht den politischen Akteuren selbst ihr Tun und Lassen erschien, schreibe also Geschichte vorwärts statt rückwärts. Das löst, wie sich zeigen wird, allerhand Schein-Rätsel, die die »heroische« Demokratiegeschichte aufwirft. Über die Tatsache beispielsweise, dass es vielfach Konservative waren, die Wahlrechtserweiterungen befürworteten oder selbst durchführten, muss nur so lange gerätselt werden, wie das Wahlrecht als Indikator für Demokratisierungstendenzen betrachtet wird. Denn erst diese Betrachtungsweise ist es, die durch und durch konservative Wahlrechtserweiterer wie Otto von Bismarck oder Benjamin Disraeli in einem irritierenden Licht erscheinen lässt.
Die postheroische Geschichte übermittelt darüber hinaus eine andere Flaschenpost der Vergangenheit an die Gegenwart2 als die heroische. Letztere fordert uns zum bedingungslosen Bewahren der heute real existierenden parlamentarischen Regierungsform um jeden Preis auf, nach dem Motto: Bloß nichts fallen lassen, Kind, Oma und Opa haben lange dafür arbeiten müssen.
Die postheroische Geschichte der Demokratie dagegen wird anhand des britischen und deutschen Falls zeigen, dass die Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems im 19. Jahrhundert die Antwort auf ein ganz konkretes Problem der damaligen politischen Praxis war: nämlich das Problem, im Zeitalter der Parlamente stabile Regierungen hervorzubringen. Im Vereinigten Königreich wurde dieses Problem durch die De-facto-Fusion von Parlamentsmehrheit und Kabinett gelöst. Die so entstehenden und gestützten Regierungen der Wirtschafts- und Weltmacht Großbritannien waren die stärksten der britischen Geschichte. Der Handlungseinheit von Regierung plus Parlamentsmehrheit waren, wie der Jurist und Tory-Politiker William Blackstone bereits Mitte des 18. Jahrhunderts feststellte - also zu einem Zeitpunkt, als ihre gesellschaftliche Wirkmacht derjenigen, die sie um 1900 haben würde, noch weit nachstand -, nur noch physische Grenzen gesetzt: »It can, in short, do every thing that is not naturally impossible.«3
In Deutschland wurde das Problem erkannt und als dessen Kern, genau wie in Großbritannien, die Koordination von Parlamentsmehrheit und Exekutive gesehen. Doch blieben die deutschen Regierungen - im Reich und in den Einzelstaaten - im Gegensatz zu den britischen Verhältnissen eher schwache und schemenhafte Konfigurationen. Mit wenigen Ausnahmen - eine von ihnen war Bismarck - wurden die deutschen Regierungschefs zwischen Parlament und Potentat aufgerieben, statt ihre ungemütliche Position zwischen Parlament und fürstlichem Landesherrn zu einer Stärke machen zu können.
Welche Botschaft enthält diese Flaschenpost der Geschichte für uns? Dass das 19. Jahrhundert auch politikgeschichtlich ein Laboratorium der Moderne war. Doch in dessen Petrischalen wuchs nicht notwendigerweise das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle heran, und schon gar nicht, was heute darüber hinaus mit dem Begriff der Demokratie verbunden wird, wie Anerkennung allgemeiner Menschenrechte, soziale Sicherung oder Angleichung der Lebensverhältnisse. Das eine wie das andere wurde erst durch die Auswirkungen zweier Weltkriege und den zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Was sich in den Petrischalen des 19. Jahrhunderts herauskristallisierte, war vielmehr eine Praxis der Bildung, Erhaltung und Beendigung von Regierungen, die die politischen Systeme Deutschlands, Großbritanniens und anderer Länder neu zu konfigurieren begann. Diese Praxis war von Land zu Land unterschiedlich, widersprach aber überall den vorherrschenden Verfassungstheorien. Für diese Praxis werden im Folgenden die Ausdrücke »parlamentarisches Regieren« oder »parlamentarisches Regierungssystem« verwendet werden, die alle Ausprägungen des Regierens mit Parlament umfassen sollen, von ad hoc und nur lose geknüpften Fäden zwischen Regierungen und Gruppen von Abgeordneten beziehungsweise Fraktionen auf der einen Seite des Spektrums bis zur singulären De-facto-Fusion von Unterhausmehrheit und aus ihr hervorgehender Exekutive in Westminster auf der anderen Seite.
Wahlrechtserweiterungen waren, wo es sie gab, Teil dieser sich verändernden Praktiken und hatten das Ziel, Parlamente zu bilden, mit denen regiert werden konnte. Die Veränderungen folgten keinem Masterplan - das Labor hatte, um im Bild zu bleiben, keinen Versuchsleiter. Die Herausbildung des parlamentarischen Regierungssystems vollzog sich eher wie in der Geschichte vom Frosch, der in die Milchkanne gefallen ist, genauer, von Fröschen und Milchkannen im Plural, weil die Kontextbedingungen von Land zu Land unterschiedlich waren. Die Frösche, so geht die Geschichte, strampeln verzweifelt, um in der Milch nicht unterzugehen - bis die Milch zu Butter geworden ist und sie aus ihrer jeweiligen Kanne hüpfen können.
Was wir vom 19. Jahrhundert tatsächlich vorgefertigt bekommen haben, ist eine bestimmte Regierungsform, die, je nachdem, mit mehr oder weniger ausgedehntem Wahlrecht, mit mehr oder weniger Partizipationsmöglichkeiten, mit - in unserem Sinn - mehr oder weniger demokratischen Werthorizonten verbunden sein kann. Parlamentarisierung und Demokratisierung können, müssen jedoch nicht zusammenfallen. Heute wird in allen Segmenten des bisherigen politischen Orientierungsspektrums, von rechts über die Mitte bis links, Kritik an der real existierenden Demokratie lauter. Das parlamentarische Regierungssystem ist nicht mehr selbstverständlich, es ist frag-würdig geworden. Dieses Schicksal ereilt jedes politische System irgendwann. Die Frage ist immer: Was wird daraus gemacht? Die Antwort einer Historikerin ist erwartbar: Schauen wir einmal, was eigentlich das bislang Selbstverständliche war und wie es so selbstverständlich geworden ist.
Die Botschaft in der Flaschenpost lautet also: Statt, was auf uns gekommen ist, reflexhaft zu konservieren, ist es an der Zeit, unsentimental zu schauen, was es tatsächlich ist. Und was davon bewahrenswert oder aber veränderungsbedürftig ist. Das könnte dann beispielsweise dazu führen, dass die alten Träume von stärkerer Kontrolle der politischen Entscheidergruppen »von unten« - Träume der demokratischen Avantgarde des 19. Jahrhunderts, die nie Teil des überkommenen Butterbergs waren - unter heutigen Bedingungen wieder aufgegriffen werden. Bedingungen, die sozial, kulturell und...
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