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Draußen bereute er, seinen wärmeren Abendrock angezogen zu haben, denn die Hitze hatte um nichts nachgelassen. Er musste als Erstes etwas trinken gehen. An einem Baumstamm gegenüber saß Beppo, sprang auf, als er seinen neuen Herrn sah, klopfte sich den Staub von der Hose und lief los, mit groß einladenden Gesten nach hinten wie ein Fischer, der sein Netz einholt. Automatisch ging Dostojewskij in die andere Richtung. Beppo rief ihn an: "Signore!" Der Signore erschrak und ging weiter. Beppo rief lauter. Dostojewskij ging schneller.
"Si - gno - re!"
Er blieb stehen und drehte sich um, nur um dem Rufen ein Ende zu machen, die Leute schauten schon.
"La Posta!", schrie Beppo aus der Ferne und bewegte die Arme wie ein Albatros seine Flügel. Mit einer kleinen eckigen Handbewegung verneinte Dostojewskij. Es musste auch noch etwas anderes in Venedig geben, als hinter dieser Kugel herzulaufen. Er kannte die Anhänglichkeit solcher Dienerseelen, wie er sie bei sich nannte, gut. Wenn er jetzt nicht hart blieb, hätte er ihn die nächsten zwei Tage am Hals. Zerhackte noch zweimal verneinend mit der Hand die Luft und ging weiter. Doch da hatte ihn Beppo schon eingeholt und redete auf ihn ein, etwas von der Uhrzeit und chiusura, da blieb Dostojewskij stehen, schaute ihn so streng wie möglich an und sagte in seinem besten Italienisch: "No."
Beppo duckte sich weg, als wiche er einem Hieb aus und fragte, die Hände ineinander verschränkend wie zum Gebet: "Più tardi?"
"Demain", brummte Dostojewskij und ließ ihn stehen.
"Deh, pensa che domani!", sang Beppo in seinem Rücken im Falsett und winkte, als der Weitergehende kurz zurückschaute, wehmütig wie eine zurückgelassene Geliebte.
Dostojewskij bog die nächste Straße links ab, um aus seinem Blick zu sein. Nach fünfzig Metern kam er an einen Kanal, an dessen noch sonnenbeschienenen Ufer Männer vor einem Lokal in Gruppen Schlange standen. Sie hatten alle Gläser in der Hand. Doch sie standen nicht an, sah er nun, sie waren der aus dem Lokal sozusagen herausquellende Teil einer darin noch viel größeren Menge, und sie taten nichts als debattieren, trinken und rauchen. Einige lachten auch, doch die Stimmung war gespannt, geladen wie bei einer politischen Versammlung oder gar dem Treffen von Aufwieglern, wie er sie gut kannte. Aber auf der Straße? Es waren allesamt Italiener. Als er näher kam, verstummten die ersten, als er fast an der Türe war, über der Schiavi stand, schwiegen die meisten und sahen ihn prüfend an. Er fand es besser, sie nicht herauszufordern und seinen Durst zu unterdrücken, brummte eine Entschuldigung und ging den langen Kanal hinunter in die Richtung, aus der er Segel in der Sonne blitzen sah. Am anderen Kanalufer lagen Gondeln im Trockenen wie gestrandete schwarze Wale, und er staunte, wie groß sie außerhalb des Wassers waren. Es mochte ein Dock oder eine Werkstatt sein, ein Mann stand im Unterhemd und trug Farbe auf. Das Haus daneben wirkte eher wie eines in den Schweizer Bergen.
Der Kanal mündete in einen ungleich größeren, der eine Hauptwasserstraße Venedigs sein musste. Das Ufer war eine breite Promenade, auf der es zuging wie in einer deutschen Kleinstadt am Sonntag: Offiziere saßen in langen weißen Mänteln an Tischchen im Freien, aßen Kuchen und Eis und tranken Likör, andere Uniformierte patrouillierten steif Freizeit spielend auf und ab. Die meisten sprachen Deutsch in langgezogenen, irgendwie gepressten oder geknautschten Vokalen und mehr durch die Nase als durch den Mund. Das waren wohl die Österreicher. Dostojewskij wusste, dass Venedig seit Längerem zu deren Monarchie gehörte und staunte, welch andere Welt sich hier behauptete als einen Kanal weiter vor dem Lokal der Italiener. Aber gespannt war die Atmosphäre auch hier, obgleich sie von der selbstgefälligen Sicherheit einer generationenalten Herrscherdynastie überdeckt war. Wie lange schon war Venedig nicht mehr frei? Und war nicht das übrige Italien seit einem Jahr geeint? Tatsache war, dass Russland den Österreichern gegen die Aufständischen geholfen hatte. Dafür hatte sich dann Österreich im Krimkrieg gegen Russland gestellt. Und aus der Freundschaft der beiden Staaten war etwas Feindseliges geworden. Er hatte keine Lust, in dieser Gesellschaft, die ihn an eine der von ihm verabscheuten Operetten erinnerte, etwas zu trinken und ging auf die Sonne zu.
Die brannte, wenn auch tiefer stehend, unvermindert auf die Boote und Gondeln der breiten Wasserstraße zwischen Venedig und einer großen Insel, von der nicht klar war, ob sie noch dazugehörte. Schutz suchend, bog Dostojewskij in eine Gasse und ging, wieder weg vom Wasser, stadteinwärts. Aber gab es hier überhaupt ein Zentrum? Irgendwo musste der berühmte Markusplatz sein. Einmal abgebogen, war man sofort allein mit den "Steinen von Venedig", über die er bei Ruskin so viel gelesen hatte. Für dessen Satz, dass die schönsten Dinge auf der Welt die nutzlosesten seien, würde er ihm ewig dankbar sein. Passend dazu schickte eine Lilienhecke ihren betörenden Duft voraus, noch bevor er sie sah. Vor einem Haus saßen alte Frauen und schnitten Gemüse. Dostojewskij grüßte sie stumm. Sie erwiderten mit verhaltenem Staunen. Dann wieder stille Kanäle, fragile Brücken, Wäsche, Lichtreflexe in Fensterscheiben. Eine Kirchenglocke von weither. In einem winzigen Geschäft, in dem es nach Schokolade roch, kaufte er Kerzen, Streichhölzer, Zucker und Tee. Und, dem Geruch nachgebend, eine kleine Tafel Schokolade. Ein Trupp Soldaten kündigte ihm den Eintritt in eine belebtere Gegend an. Vielleicht würde er hier etwas zu trinken bekommen. Ein weiter Platz öffnete sich vor ihm, doch konnte das nicht der Markusplatz sein, den kannte er von Darstellungen, auch fehlte der Dom. Der "Campo Santa Margherita" - diesen Namen las er nun auf einer Tafel - war weniger repräsentativ als volkstümlich und schien eher den Italienern zu gehören. Es gab weniger Uniformierte, dafür viele Kinder, die mit zu Bällen gebundenen Lederfetzen spielten oder Scharen von Tauben nachliefen, sie fütternd und verjagend in einem. Die Menschen hatten alle Stimmen wie Sänger, mit dem Zwerchfell gestützt und selbst auf Abstände von zwei, drei Metern so "gesendet", als müssten sie damit den vierten Rang eines Opernhauses erreichen. Da sie das von klein auf taten - die Kinder schrien ihre Eltern so an, dass sie in Russland dafür Ohrfeigen bekommen hätten -, waren ihre Stimmen offen und sangesrein und zugleich rau, rau wie es die Stimmen der Russen vom ungestützten, im Rachen sitzenden Reden und, manchmal, vom Wodka wurden.
Obgleich sein Durst inzwischen schwer erträglich war, ging Dostojewskij an den nicht wenigen Lokalen vorbei, über den Platz hinaus und über eine Brücke und stand auf einmal vor dem Portal einer vollkommen schmucklosen Kirche. Vergeblich drückte und zog er an der Tür, sie war verschlossen. Und würde es wohl zumindest für heute bleiben. Außer, es gäbe später noch eine Messe. Er beschloss, sich den "Campo San Pantalon" einzuprägen und wiederzukommen. Von einem Heiligen dieses Namens hatte er noch nie gehört, Pantalone kannte er bloß als eine Figur aus der italienischen Komödie. Und es war das französische Wort für "Hose". Er ging zurück auf den großen Platz. Ein herrenloser Fußball kam ihm entgegengerollt. Als er sich bereits freute, ihn zu den spielenden Kindern in zwanzig Meter Entfernung, die ihn verschossen hatten, zurückzubefördern, ja schon stehen blieb und sein Gewicht auf das linke, das Standbein verlegte, rannte ein Junge schnell auf ihn zu, als liefe er um sein Leben, um den Ball nur ja nicht der Berührung durch den fremden Mann preiszugeben, und im allerletzten Moment stoppte er die Kugel mit der Schuhspitze und versetzte ihr gleich darauf, als Dostojewskij schon den rechten Fuß zum Schuss gehoben hatte, einen Stoß mit dem Absatz und brachte ihn so zu den Mitspielern zurück und Dostojewskij, der durch die fehlende Schussbewegung das Gleichgewicht verlor, ins Taumeln und fast zu Fall. Eine Gruppe junger Mädchen ging vorbei, alle schwarzhaarig und hübsch, eine sagte etwas auf Italienisch und alle lachten. Nun war es genug. Er musste einkehren. Da er in Florenz ein einziges Mal gut gegessen hatte und das in einer Osteria gewesen war, trat er in ein Lokal dieser Bezeichnung auf der Schattenseite des Platzes.
Es war noch früh, und das Gasthaus fast leer. An der Schank stand ein alter Mann mit Klappe über einem Auge. Mit dem anderen schaute er den Gast neugierig an. Der fragte, ob er Tee bekommen könne. "Tè", wiederholte der Alte ohne Ausdruck. Und wies mit einem Spültuch auf die langen ungeschmückten Holztische, die parallel zueinander, von lehnenlosen Bänken getrennt, vom Fenster neben dem Eingang bis in die Tiefe des Lokals aufgestellt waren wie zu einem Volksfest. Dem Fenster zugewandt saß ein Mann alleine mit einer Flasche und einem Glas. Ein...
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