Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In diesem Kapitel erfahren Sie etwas über:
verschiedene Formen und Dimensionen von Gewalt
Häufigkeiten, Ursachen und Konsequenzen von Gewalt
Prävention von Gewalt
Gewalt ist ein Begriff, für den es in der Fachliteratur und im allgemeinen Verständnis keine eindeutige Definition gibt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird Gewalt von jedem Menschen unterschiedlich erlebt und wahrgenommen (WHO, 2003). Je nachdem, wen Sie fragen, werden Sie unterschiedliche Antworten erhalten, welches Verhalten als akzeptabel eingestuft und was als Gefährdung empfunden wird, sowohl in Ihrem persönlichen als auch in Ihrem beruflichen Umfeld.
Im Zusammenhang mit der Pflege älterer Menschen hat die WHO Gewalt genauer beschrieben als:
»eine einmalige oder wiederholte Handlung oder das Unterlassen einer angemessenen Reaktion, die im Rahmen einer Vertrauensbeziehung stattfindet und wodurch einer älteren Person Schaden oder Leid zugefügt wird« (WHO, 2022 S. 1, zit. nach Eggert et al., 2017, S. 13)
Anders als bei der allgemeinen Definition von Gewalt ist hier die Absicht der gewaltausübenden Person kein entscheidendes Merkmal. Die Entscheidung, was als Gewalt empfunden wird, soll bei der Person liegen, die unangemessenes Verhalten oder Gewaltereignisse erlebt und nicht bei der Person, die das Verhalten ausübt. Das Erleben von Gewalt ist somit nicht zwingend an eine bewusste aggressive Absicht der Verursachenden geknüpft (Nau et al., 2018). Gewalt zwischen Pflegebedürftigen und Pflegenden kann sich wechselseitig bedingen.
Soziale Beziehungen sind von einem Verhältnis des Gebens und Nehmens gekennzeichnet, das durch eine Pflegebedürftigkeit ins Ungleichgewicht gerät (Brucker & Kimmel, 2017). Wer pflegebedürftig wird, erfährt Abhängigkeit von Dritten. Das kann zu einem Machtgefälle zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen führen und in Gewaltsituationen münden. Indem Sie die Ursachen und Motive für Gewalt in der Pflege näher betrachten, können Sie häufig auch eine Verbesserung der Pflegebeziehungen erreichen.
Gewalt in der Pflege kann in verschiedenen Formen auftreten. Sie kann alle Beteiligten im Alltag einer Pflegeeinrichtung betreffen und geschieht keineswegs immer absichtlich. Gewalt kann zwischen Beschäftigten einer Einrichtung und den pflegebedürftigen Personen in beide Richtungen auftreten, zwischen pflegenden Angehörigen und Pflegebedürftigen, aber auch innerhalb des Personals selbst bzw. unter Bewohner*innen.
Pflegebedürftige erleben Gewalt nicht nur in körperlicher Form, sondern bereits durch Vernachlässigung, Demütigung, freiheitsentziehende Maßnahmen oder Eingriffe in die Selbstbestimmung (Sulmann & Väthjunker, 2020). Gewalt muss dabei nicht immer von einer Person ausgehen, sondern kann indirekt durch starre Strukturen entstehen, z. B. wenn festgelegte Tagesabläufe in einer Einrichtung nur wenig Spielraum ermöglichen, um individuelle Wünsche zu berücksichtigen.
Gewaltformen
Körperliche Gewalt
Psychische Gewalt
Vernachlässigung
Finanzielle Ausnutzung
Intime Übergriffe
Betroffene
Pflegebedürftige Personen
Pflegende Angehörige
Beschäftigte, z. B. professionell Pflegende
Intention
Unabsichtlich
Absichtlich
(vgl. Sulmann & Väthjunker, 2020)
Zu körperlicher Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen zählen unerlaubte oder häufige Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen, die Person grob anzufassen, zu schlagen, kratzen oder zu schütteln bzw. sie unbequem hinzusetzen oder hinzulegen (Sulmann & Väthjunker, 2020; WHO, 2022).
Aspekte psychischer Gewalt zeigen sich durch Missachten und Ignorieren der pflegebedürftigen Personen oder indem sie gedemütigt oder beleidigt werden. Eine speziell für die Altenpflege relevante Form stellt der sogenannte »Elderspeak« (Kemper, 1994) dar. Dabei handelt es sich um eine nicht angemessene Sprachveränderung, die sich an ältere Menschen richtet. Darunter fallen charakteristische Merkmale, wie »Babysprache«, die Nutzung von Kosenamen, unerwünschtes »Duzen« oder eine übergriffige Verwendung von Pronomen (z. B. »wir« gehen jetzt ins Bett) (Bradford, 2009).
Vernachlässigung äußert sich darin, wenn pflegebedürftige Personen eine unzureichende medizinische oder pflegerische Versorgung erfahren. Eine mangelnde Unterstützung im Alltag, z. B. bei der Nahrungsaufnahme, sowie das Übergehen emotionaler Bedürfnisse sind ebenfalls Anzeichen von Vernachlässigung.
Die finanzielle Ausnutzung beinhaltet, wenn pflegebedürftige Personen zu Geldgeschenken überredet werden, ihnen Geld oder Wertgegenstände entwendet oder unbefugt auf ihr persönliches Vermögen zugegriffen wird.
Bei intimen Übergriffen wird das Schamgefühl der Pflegebedürftigen oder ihre Intimsphäre verletzt, dazu zählen sexuelle Andeutungen oder auch das Erzwingen oder Verlangen von Intimkontakten.
Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen, aber auch gegenüber Pflegenden, findet nach einer Umfrage unter Pflegefachpersonen und Auszubildenden sektorenübergreifend alltäglich statt (Weidner et al., 2017). Mindestens jede*r zehnte Pflegende berichtet solche Erfahrungen aus den letzten drei Monaten. Fast ein Drittel gibt an, dass Interventionen gegen den Willen von Patient*innen, Bewohner*innen sowie Pflegebedürftigen üblich sind. Solche gewaltbezogenen Situationen und Erfahrungen werden in den Einrichtungen häufig nur unzureichend dokumentiert und nicht systematisch aufgearbeitet.
Für den Bereich der stationären Altenpflege gibt es eine Übersicht zur Häufigkeit von Gewaltereignissen gegenüber älteren Pflegebedürftigen für verschiedene Länder in Europa, den USA und den Nahen Osten (Yon et al., 2018). Rund zwei Drittel der befragten Pflegenden gaben hierbei an, im letzten Jahr mindestens eine Form von Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen ausgeübt zu haben, am häufigsten davon, mit rund einem Drittel, psychische Gewalt. Auch Pflegebedürftige bzw. stellvertretend deren Angehörige gaben Auskunft über erlebte Gewalt. Hier war ebenso mit rund einem Drittel die psychische Gewalt am häufigsten. Pflege- und Betreuungspersonen in Deutschland nannten für die letzten vier Wochen in Bezug auf Gewaltereignisse zwischen Pflegebedürftigen ebenso am häufigsten psychische Gewalt mit rund zwei Dritteln (Goergen et al., 2020).
Häufig können betroffene Pflegebedürftige sich nicht selbst zu ihren Erlebnissen äußern oder scheuen sich, über Gewalt durch Personen zu berichten, auf die sie angewiesen sind (Blättner & Grewe, 2017; Brucker & Kimmel, 2017). Viele pflegebedürftige Personen und Pflegende fühlen sich mit ihren Gewalterfahrungen allein gelassen und schämen sich, Opfer von Gewalt geworden zu sein. Die Dunkelziffer ist hoch und Betroffene suchen selten professionelle Hilfe.
Pflegende in der stationären Altenpflege gaben Auskunft zu Gewalt, die sie erlebt haben (Schultes et al., 2021). Im Vergleich zu Pflegenden aus dem Krankenhaus oder der Behindertenhilfe waren sie am häufigsten von täglicher körperlicher und verbaler Gewalt betroffen, wie Beschimpfen, Kneifen und Kratzen, Schlagen oder Bedrohen sowie zu einem geringeren Anteil von sexueller Belästigung (Schablon et al., 2018).
Mögliche Einflussfaktoren für das Auftreten von Gewalt in der Pflege liegen auf der Ebene der einzelnen Beteiligten, wie den pflegebedürftigen Personen und den Pflegenden. Es gibt ein erhöhtes Risiko für Gewaltereignisse, wenn Bewohner*innen kognitive Einschränkungen haben, aggressives Verhalten zeigen, sozial isoliert sind und in den Alltagsaktivitäten einen erhöhten Unterstützungsbedarf haben (Visel et al., 2020). Auf Seite des Personals wirken sich die persönliche Einstellung, wie das eigene professionelle Verständnis von Arbeit,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.