Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ich werde sterben.
Ich gehe den Pfad am Fluss entlang und weiß, wie es geschehen wird.
Wie kannst du das wissen?
Ich habe es schon immer gewusst. Seit ich vier oder fünf Jahre alt war. Damals hatte ich die ersten Anfälle. Sie nannten es falschen Krupp. Echter Krupp ist schlimmer, aber den gibt es fast nicht mehr. Wenn du falschen Krupp hast, schnürt sich deine Kehle zu, und du kriegst keine Luft mehr. Große Hände quetschen deinen Hals zusammen.
So begann der erste Anfall. Ich habe geschlafen und geträumt, dass ich auf einer Schaukel sitze. Dann wurde mein Hals zusammengeschnürt, und ich konnte nicht mehr atmen. Die Dunkelheit kriecht in mein Kinderzimmer hinein und ergreift von mir Besitz. Ich stehe auf und gehe zu Mama und Papa. Ja, es stimmt, ich gehe, denn plötzlich fühle ich mich vollkommen ruhig. Es kann nichts Schlimmeres passieren, als dass ich sterbe und verschwinde.
Papa, ich sterbe, sage ich mit der wenigen Luft, die ich noch habe. Er hebt mich hoch. So wird es sein, wenn ich sterbe. Ich werde hoch in die Luft gehoben.
Aber das mit dem falschen Krupp ist doch schon über zehn Jahre her. Und jetzt gehst du am Fluss entlang.
Das mache ich jeden Sommer, da ist es hell, egal, wie spät es ist.
Jetzt ist kein Sommer.
Es ist November. Auf der anderen Seite des Flusses kann man die Umrisse der Fabrik erahnen. Sie zeichnen sich ab und lösen sich wieder auf, wie ein Schloss in einem Märchenfilm. Die Mauern sind aus rotem Backstein. Doch wenn es so dunkel ist wie jetzt, sehen sie schwarz aus.
Ich hätte den Gehweg nehmen können, der an der Hauptstraße entlangführt. Eigentlich hätte ich längst zu Hause sein sollen. Am Fluss entlang geht's zehn Minuten schneller. Nicht, dass Mama das merken würde. Sie fragt nie, warum ich zu spät komme. Sie erinnert sich auch nicht, wann wir verabredet sind. Manchmal ruft sie an, aber der Akku von meinem Handy ist leer.
Es ist November, es ist dunkel, und du bist auf dem Heimweg.
Ich mag den Herbst, allein in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Die Dunkelheit umhüllt mich wie eine Decke, in der ich mich verstecken kann. Manchmal schließt sie sich etwas zu eng um mich, dann kriege ich Atemprobleme, als hätte ich wieder falschen Krupp.
Der Turm der Fabrik ragt in den dunkelgrauen Himmel. Ein Finger, der senkrecht nach oben zeigt, sagt Papa immer, aber auch er weiß nicht, auf was er uns aufmerksam machen will. Vielleicht auf die Dunkelheit. Oder das Nichts.
Ich komme zur Fußgängerbrücke, die zum Fabrikgelände hinüberführt. Diesen Weg nahmen früher die Arbeiter von den Baracken, die unten entlang des Flusses errichtet worden waren.
Ich sollte doch lieber umkehren und an der Hauptstraße entlanggehen. Sie ist nur ein paar Minuten entfernt.
Hast du vielleicht Angst?
Glaub nicht. Aber die Luft hier erschwert mir das Atmen.
Du drehst also um?
An der Brücke bleibe ich stehen. Dort ist ein Tor mit einem Betreten-verboten-Schild. Wahrscheinlich gab es das Schild schon, bevor die Fabrik geschlossen wurde. Ich hab Fotos in einem alten Buch von Papa gesehen. Den Rauch aus dem Schornstein. Die Arbeiter, die draußen auf der Rampe saßen, auch von ihnen stieg Rauch auf.
Ich rüttle am Tor. Die rostigen Ketten rasseln. Ich sehe schon vor mir, wie ich über das Tor klettere, die Brücke überquere und auf der anderen Seite im Dunst verschwinde. Ich probiere oft Dinge aus, vor denen ich mich fürchte. Zum Beispiel an diesem dunklen Herbstabend am Fluss entlangzugehen. Wenn ich nach Hause komme, werde ich Mama davon erzählen. Im Dunklen am Fluss entlangzugehen, ist überhaupt nicht gefährlich. Vielleicht hat dann auch Mama weniger Angst, wenn sie weiß, dass ich mich nicht fürchte.
Und während ich das denke, höre ich es.
Was hörst du?
Einen Schrei. Er kommt vom Fabrikgelände. Es ist ein seltsames Geräusch, als wenn man sich selbst die Ohren zuhält und einen Schrei ausstößt.
Es klingt wie dein eigener Schrei?
Am Anfang schon. Aber dann wird er leiser, klingt mehr wie ein Schluchzen. Vielleicht eine eingesperrte Katze. Plötzlich sehe ich einen Lichtschein in einem Fenster. Und ich habe nicht gezwinkert, da bin ich ganz sicher. Da war ein Licht, aber nicht so eins, das man sieht, wenn man sich die Hände hart auf die Augen drückt, sondern ein Aufblitzen im Dunkeln, dann war es wieder verschwunden. Und der Schrei wurde von dem Dunkel verschluckt, wenn du verstehst, was ich meine.
Ich bleibe stehen und blicke zum Gebäude hinüber. In der Ferne höre ich einen dumpfen Knall, als schlage eine schwere Tür zu. Danach Schritte auf dem Kies. Ich drehe mich um, kann aber meine Füße nicht bewegen, als wären sie festgefroren.
Ich werde sterben. Ich weiß, wie es sich anfühlen wird.
Ann, sage ich, und als ich meinen Namen höre, ist es, als würde ich meinen Körper verlassen und mich ansehen.
Komm, Ann, wir gehen, sage ich.
Ja, antwortet Ann, gehen wir. Und ich sehe, wie sich meine Beine in Bewegung setzen, erst sehr langsam, die Stiefel fühlen sich wie Betonklötze an, dann schneller.
Jetzt laufen wir, sage ich zu Ann. Und sie rennt los, stolpert über etwas, vielleicht eine Wurzel, denn sie prallt gegen einen Baum. Stell dir vor, du bist woanders, sage ich. Du sitzt zu Hause auf dem Sofa und redest mit Mama. Sie hat eine Kerze angezündet, auf dem Tisch steht ein Becher mit Kakao.
Ich laufe weiter. Auf einmal höre ich hinter mir ein Geräusch. Als würde jemand im Dunkeln über das Tor klettern.
Zwischen den Bäumen erkenne ich den beleuchteten Weg. Die Laternen tragen graue Mützen aus Dunst, die in der Mitte orange schimmern. Jetzt brauchst du nicht mehr zu laufen, sage ich mit meiner gewohnten Stimme. Wenn die Stimme so klingt, bin ich im Ann-Raum.
Ist das ein Ort, an dem du ganz du selbst bist?
Ich nenne ihn Ann-Raum.
Ich laufe weiter.
»Hey, hast du etwa Schiss?«
Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber ich brauche ein paar Sekunden, um sie zuzuordnen. Ich bleibe stehen und drehe mich um. Vor Streuner muss man jedenfalls keine Angst haben. Eigentlich ist es gut, dass er auftaucht, denn mit einem Mal hat mein Atem sich beruhigt. Das, was mir die Luft abgedrückt hat, verschwindet.
»Ich hab keinen Schiss.«
Er grinst, ist aber genauso kurzatmig wie ich. »Warum rennst du dann, wenn du keine Angst hast?«
»Ich trainiere.«
Aus irgendeinem Grund will mich Streuner in ein Gespräch verwickeln. In der Schule sagt er nie ein Wort zu mir - wenn er denn mal auftaucht.
Auf der Straße nähert sich ein Auto. Die Scheinwerfer gleiten durch die Kurve. Sie sind grell und blenden mich. Streuner steht dicht neben mir.
»Läufst du mir etwa nach?«
Er schüttelt den Kopf. »Muss nach Hause.«
Was vermutlich stimmt. Seine Pflegefamilie wohnt auch am Trollfaret, nicht weit von uns entfernt. Aber deswegen muss ich noch lange nicht mit ihm reden.
»Hast du auch den Trampelpfad genommen?«, frage ich und ärgere mich sofort darüber, dass ich ein Gespräch beginne.
»Welchen Trampelpfad?«
»Den am Fluss entlang.«
Er hat seinen Kapuzenpullover tief in die Stirn gezogen und antwortet nicht.
»Bist du auf der Brücke zur Fabrik gewesen?«
»Was interessiert dich das?«
Soll ich Streuner fragen, ob er den Schrei auch gehört hat? Es gibt niemanden, mit dem ich jetzt weniger Lust hätte zu reden. Ich weiche ein paar Schritte zurück. Er ist kleiner als ich, hat einen krummen Rücken und trägt einen Rucksack, der ihn noch kleiner macht. Sein Körper sieht aus, als hätte man ein paar dünne Zweige notdürftig miteinander verbunden. Als er klein war, ist seine Mutter getötet worden. Sein Vater hat das getan. Als Streuner in unsere Klasse kam, wurde er schräg hinter mich gesetzt. Die ganze Zeit spüre ich seinen Blick in meinem Nacken. Wenn ich mich umwende, dreht er sich weg.
»Warst du mit Helene zusammen?«
Eigentlich geht ihn das nichts an, aber er tut mir auch leid, also nicke ich zur Antwort. Ich weiß, dass er die ganze Zeit an Helene denkt. Worum ich sie nicht gerade beneide.
»Wollt ihr am Wochenende was zusammen machen?«
Jetzt geht er echt zu weit. Schon mal was von Privatleben gehört?
»Vergiss es«, sage ich, aber nicht so, dass es fies klingt. Er tut mir wirklich leid, und das ist ganz schön anstrengend. Ich jogge hinüber zu den Häusern auf der Kuppe des Hügels, als würde ich tatsächlich trainieren, obwohl ich Jeans und eine Hollister-Jacke anhabe.
Würde meine Mutter zu denen gehören, die merken, dass ihre Tochter zu spät nach Hause kommt, würde ich sagen: »Ja, ich war bei Helene, und ja, der Akku entlädt sich ständig, ich brauche ein neues iPhone, und ja, ich weiß, wie spät es ist, und ja, ich hab schon Hausaufgaben gemacht - es ist Freitag, da kriegen wir sowieso keine auf -, und ja, ich hab bei Helene gegessen.«
Doch Mama sitzt stumm am Küchentisch und tippt auf ihrem Laptop rum. Sie schaut kaum auf, als ich reinkomme.
»Willst du nicht wissen, wo ich gewesen bin?«, frage ich und höre mich vielleicht ein bisschen frech an.
Sie merkt es nicht. »Warst du nicht bei Helene?«
»Wir waren auf dem Spielplatz.«
»Schön.« Sie tippt weiter.
»Du und Helene?«, fragt sie zerstreut.
»Und Nicolai.«
»Welcher Nicolai?«
»Nicolai Meyer.«
Auf einmal hebt Mama den Kopf und hört auf zu tippen. Sie reißt die Augen auf. »Nicolai Meyer? Sind er und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.