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KAPITEL 2
Auf den ersten Blick erschien es als ein Widerspruch: In der Moskauer Erklärung vom Oktober/November 1943 bezeichneten die Alliierten Österreich als «das erste freie Land, das der Angriffspolitik von Hitler zum Opfer fiel» und stellten seine Wiederherstellung als freien und unabhängigen Staat in Aussicht. Doch auf die Befreiung folgte dann eine zehn Jahre dauernde Besatzung durch die Streitkräfte der vier Siegermächte. Die Trennlinien zwischen den Zonen liefen mitunter entlang der früheren Bundesländergrenzen. Auf die Sowjetunion entfielen das Burgenland, Niederösterreich sowie Oberösterreich nördlich der Donau; die USA hielten Oberösterreich südlich der Donau, Salzburg und das Salzkammergut besetzt; die Briten wiederum kontrollierten Kärnten, Osttirol und die Steiermark, während Frankreichs Truppen in Nordtirol und Vorarlberg stationiert waren. Um von einer Zone in die andere zu gelangen, brauchte man einen viersprachigen Reiseausweis, als handle es sich bei der Steiermark und dem Burgenland um zwei verschiedene Staaten. Für die Koordination der Militärverwaltungen in den einzelnen Zonen sorgte der im Juli 1945 ins Leben gerufene Alliierte Kontrollrat bzw. die vier Hochkommissare mit ihren Stäben. Zur Information der österreichischen Bevölkerung verfügten sämtliche Besatzungsmächte über eigene Zeitungen und Radiosender.
In analoger Weise waren die 23 Bezirke der Hauptstadt aufgeteilt. So verwalteten die Sowjets zum Beispiel Wieden und Favoriten, die Amerikaner Hernals, Währing und Döbling, die Briten Meidling und Hietzing und die Franzosen Mariahilf und Ottakring. Die Stadtbezirke gehörten allein in die Zuständigkeit der jeweiligen Okkupationsbehörde; die anderen hatten dort kein Recht auf Einmischung. Der Verkehr zwischen den Sektoren der Stadt war für die Bürger allerdings, anders als zwischen den Zonen des Landes, ohne Pass erlaubt. Der Erste Bezirk, die Innenstadt, hatte internationalen Status mit monatlich rotierenden Hauptverantwortlichen. Die gemeinsame Präsenz der Alliierten wurde von den in den Straßen regelmäßig sichtbaren Militärpatrouillen demonstriert, den berühmten «Vier im Jeep» - Russen, Amerikaner, Engländer und Franzosen in einem Fahrzeug, wie wir es aus dem romantischen Schweizer Filmdrama von 1951 mit dem gleichnamigen Titel kennen.
Österreich und Wien mit der Aufteilung der Besatzungszonen.
Parallelen zur Besatzung Deutschlands und Berlins zu ziehen läge nahe, wäre jedoch irreführend. Bei der Aufspaltung des ehemaligen «Dritten Reichs» bzw. Berlins in vier Teile ging man von der Prämisse aus, dass der deutsche Staat mit Hitler untergegangen sei, so dass auf dessen übrig gebliebenem Teilgebiet die vier Okkupationsmächte zunächst die Staatsgewalt ausübten. Diese Exlex- (wörtlich: gesetzlose) Situation sollte auf Grundlage eines künftigen Friedensvertrags, ohne dafür einen konkreten Zeitpunkt zu benennen und ohne deutsche Partner einzubeziehen, geklärt werden. In diesem Ansatz war die deutsche Teilung bis 1990 quasi vorprogrammiert. Österreich hingegen behandelte man als legitimes völkerrechtliches Subjekt, dessen Staatswesen durch den militärisch erfolgten «Anschluss» lediglich gewaltsam unterbrochen, aber nicht annulliert worden war. Die Besatzung erschien in diesem Kontext als Übergangsphase, in der die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen der «Alpen-und-Donau-Reichsgaue»-Ära überwunden werden sollten und eine unabhängige, entnazifizierte und demokratische Republik Österreich entstehen konnte. So jedenfalls die Argumentation - und sie mochte auch ehrlich gemeint sein, solange «die Vier im Jeep», um im Bild zu bleiben, sich in Tempo und Reiseziel des Fahrzeugs einig blieben.
Indessen waren die Siegermächte in allen von ihnen okkupierten Ländern mit der Frage konfrontiert, wie sie mit der aktuellen Lage umgehen sollten. Auch in Österreich handelte es sich um enorme Opferzahlen - 200.000 gefallene Soldaten, eine halbe Million Kriegsgefangene, 10.000 zivile Tote infolge der Kampfereignisse sowie 65.000 Juden sowie 10.000 Roma und Sinti als Opfer der Shoa bzw. des Porajmos (Porajmos ist ein Wort aus der Romanes-Sprache, das den Völkermord an Sinti und Roma bezeichnet, dem im nationalsozialistisch besetzten Europa insgesamt etwa 500.000 Menschen zum Opfer fielen). Sachschäden betrafen vor allem das Gebiet von Groß-Wien, in dem 20 Prozent der Wohnfläche infolge der massiven Luftangriffe der Alliierten zerstört worden war. Die Donaubrücken waren von Wehrmachtseinheiten auf dem Rückzug gesprengt worden. Durch das Land bewegten sich anderthalb Millionen Displaced Persons - von befreiten Häftlingen der Konzentrationslager bis zu ehemaligen Angehörigen der mit Nazideutschland kollaborierenden russischen Wlassow-Armee. Wirtschaftlich lag das Land am Boden, es drohte eine humanitäre Katastrophe. Um das Chaos in den Griff zu bekommen, waren die Militärbehörden dringend auf Zusammenarbeit mit zivilen Strukturen angewiesen. Politisch bedeutete dies aber das Akzeptieren der Spielregeln der parlamentarischen Demokratie und der damit verbundenen Freiheitsrechte.
Die Sowjets waren bekanntermaßen keine glühenden Anhänger dieser Staatsform, die von der in der marxistisch-leninistischen Theorie vertretenen «proletarischen Diktatur» Lichtjahre entfernt war. Diese ihre Haltung zeigte sich auch im Umgang mit der politischen Willensbildung in den von ihnen befreiten und besetzten Ländern. In Bulgarien und Rumänien erzwangen sie 1945 bzw. 1946 einen gemeinsamen Bündnisblock der traditionellen großen Bauernparteien mit der viel schwächeren kommunistischen Partei und erreichten damit durch gefälschte und unfaire Wahlen eine parlamentarische Mehrheit zwischen 70 und 85 Prozent. In Ungarn tolerierte Moskau zunächst die freien Wahlen am 4. November 1945, aus denen die konservativ-liberale Partei der Kleinen Landwirte mit 57 Prozent der Stimmen als Sieger hervorging, während Kommunisten und Sozialdemokraten nur auf jeweils 17 Prozent und die kleine Bauernpartei auf neun Prozent kamen. Nun bildeten diese vier Parteien auf russischen Druck hin eine Koalitionsregierung, in der die KP den Posten des Innenministers erhielt. Es folgte eine von der KP geschürte Dauerkrise: Die «Kleinen Landwirte» wurden nach und nach aufgespalten («Salamitaktik»), und die Sozialdemokraten wurden 1948 unter der Devise «Arbeitereinheit» der KP einverleibt. Unbequemen Politikern legte man nahe, ins Exil zu gehen; fallweise wurden sie auch von den sowjetischen Behörden verhaftet und in den Gulag verschleppt. In der Tschechoslowakei, wo die Kommunisten bei den freien Wahlen 1945 mit 38 Prozent in der Wählergunst standen, stürzten sie im Februar 1948 mit einem durch ihre Kampfmilizen unterstützten kalten Putsch die Koalition, deren Mitglied sie selbst waren, und ließen diesen Schritt vom kraftlosen bürgerlichen Präsidenten Edvard Benes absegnen.
Spätestens 1949 war es mit dem realen Parlamentarismus in Ostmitteleuropa vorbei. All diese Länder wurden fortan von kommunistischen Einheitsparteien regiert, die ihre führende Rolle selbst in der jeweiligen Verfassung verankern ließen. Gleichzeitig hielt man an der Auffassung fest, dass es sich bei diesem Prozess keinesfalls um eine «Sowjetisierung» handelte; auch das schlimme Wort «proletarische Diktatur» wurde möglichst vermieden. Vieles lief über Sprachregelungen. So hieß etwa die Staatsform anstelle der «Demokratie» nun «Volksdemokratie», was tautologisch «Volksherrschaft des Volkes» bedeutet. Tatsächlich war der Begriff ein terminologischer Gegenpol zur «bürgerlichen» oder «formalen» Demokratie. Der Volksmund reagierte auf die Debatte mit dem klassischen Ostblockwitz: «Was ist der Unterschied zwischen Demokratie und Volksdemokratie? Derselbe wie zwischen Jacke und Zwangsjacke.»
Im selben Monat wie in Ungarn, am 25. November 1945, fanden auch in Österreich freie Wahlen zum «Nationalrat» statt, wie das Parlament genannt wurde....
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