Schweitzer Fachinformationen
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Die simple, wenn auch verwirrende Wahrheit war, dass die Frau, die in der Kiste verwesen sollte, sehr lebendig war; jemand anderes lag darin, auch wenn das noch niemand wusste.
Für den Angestellten, der die Akten im Keller nach Auroras persönlichen Daten durchforstete - wobei er immerzu Flüche ausstieß über den Geldmangel seiner Dienststelle, der die Anschaffung von Computern und Deckenventilatoren verhinderte -, gab es keinen Grund, weiter zu suchen als nach dem ersten Ordner, der zu dem vorliegenden Fall passte, nämlich: CABAHUG, AURORA V., der Einfachheit halber gelistet zwischen CABAGNOT, CHARLSON D. und CABAHUG, EUGENIA M.
Da waren Haushaltshilfen, Köche, Fahrer, Tänzer, Klempner, Konstrukteure, Schweißer, kräftige Seeleute und andere Vertreter aller möglichen Dienstleistungen und Gewerbe, die ihre Küchen, Ställe, Klassenzimmer, Fruchtstände, Videoke*-Bars, Schuh- und Gummifabriken verlassen hatten auf der Suche nach besseren Jobs - auf tobender See oder brennendem Sand, von Singapur bis Stockholm, London bis Lagos, Riad bis Reykjavik, in zwielichtigen Kaschemmen und auf Bohrinseln, in Pflegeheimen und Konservenfabriken, Welle um Welle über all die Meere und Ozeane hinweg, die ihre Inseln umschlossen.
Nach Einschätzung der eigenen Regierung gab es über acht Millionen dieser Oversea Workers überall auf dem Planeten gegen Ende des Jahrhunderts - ein langes Jahrhundert, in dem vermutlich ein paar wenigen Filipinos aufregende Dinge widerfahren waren, während es für die meisten anderen eher irgendein trostloser, nicht enden wollender Donnerstag gewesen war. Eine nervöse Folge von Kriegen und Revolutionen hatte ihnen kaum etwas gebracht, das wirklich neu und großartig war, die Armen und Verzweifelten schlossen sich den Mutigen und Gelangweilten in der Schlange der Abreisenden an, umklammerten ihre gefälschten Designertaschen und ihre frisch gedruckten Pässe.
Für viele von ihnen war dieser Sprung nach Hongkong und Singapur (und von dort nach Dubai, Frankfurt und noch weiter) der allererste Flug in ihrem Leben. Sie würden Land verkauft, sich tief verschuldet oder schwere Verhandlungen mit Gott und einem Arbeitgeber geführt haben für diesen schicksalhaften Sprung in ein neues Leben. Vor der Abreise würden ihre Augen funkeln vor purem Ehrgeiz, der sie zu außergewöhnlichen Gelöbnissen und Versprechungen verleitete: sich niemals zu ändern, niemals zu vergessen, und niemals ohne Erfolg in der Tasche zurückzukehren. Sie würden klatschen und nervös kichern, sobald das Flugzeug abhob, und noch eine Stunde später würden sie, wie benommen, unfähig sein, die ganze Weite des Horizonts zu erfassen. Ihre Ziele würden zu tröstlichen Mantras auf ihren Zungen werden, schwer und beladen mit dem Mysterium des bisher unbekannten: O-sa-ka, LON-don, ROT-ter-dam, DOha, Ni-CO-sia, Bei-RUT.
Ungefähr eine Million blieb in der Asien-Pazifik-Region; die zwei Amerikas und der Nahe Osten zählten offiziellen Zahlen zufolge jeweils über zwei Millionen, und eine weitere Million war über Europa verstreut. Nur ein Bruchteil dieser Namen war in diesem feuchten und fensterlosen Keller verzeichnet; der Zentralrechner, der sie alle erfassen könnte, müsste erst noch installiert werden. Tatsächlich waren es mit Sicherheit ein paar Millionen Filipinos mehr, die auf keiner Liste, nur in den vagen Erinnerungen der Zurückgebliebenen auftauchten - die Verschwundenen und die freiwillig Ausgewanderten, die Leichtfüßigen und die Gerissenen, die Auferstandenen und die Wiedergeborenen.
Es gab vielleicht fünf oder sechs weitere Cabahugs in dieser untersten Schublade, die bis zu CALIMLIM, NORELYN O. reichte - die Castros alleine teilten den nächsten Schrank unter sich auf -, aber der Angestellte hatte gefunden, was er suchte, zog den Ordner heraus, um abzuschreiben, was er brauchte. Das war der unangenehmste Part der ganzen Arbeit, denn es gab keine Schreibunterlage in Reichweite, und so musste er entweder auf Zehenspitzen stehend die Oberseite des Schranks nutzen oder sich auf den Boden kauern und kniend schreiben. Der Angestellte entschied sich für ersteres, er wollte seine Hose nicht zerknautschen, und kämpfte wie ein schlechter Tänzer mit einem vollkommen unbeweglichen Partner. Zum Glück gab es nicht viel aufzuschreiben: eine Adresse (Gardenia Street 17, Bagumbayani Village) in einer Stadt namens Paez, von der er noch nie gehört hatte; ein Geburtsdatum (6. Juni 1975); der Familienstand (ledig); der Name des Arbeitgebers (Khaled al-Mansur); eine Adresse an der Küste in Jeddah; und ihre Personalagentur (Heroic Manpower Consultants), mit Sitz in Guadeloupe Viejo, Makati. Wenn sie verheiratet gewesen wäre, wäre ihr Ehemann als nächster Verwandter aufgeführt; in diesem Fall stand dort nichts, da sie angegeben hatte, ledig zu sein.
Der Angestellte machte einen Vermerk, ein Telegramm an den Polizeichef der Heimatstadt der Verstorbenen zu schicken; die würden sich um den Rest kümmern. Früher hatte die Dienststelle selbst jemanden losgeschickt, um die Verwandten aufzusuchen, an ihre Tür zu klopfen und die bittere Nachricht zu überbringen. Das hatte bald zur Folge, dass die Hälfte der höheren Angestellten das ganze Jahr über herumreisten und sich dabei darin übten, möglichst traurig auszusehen und ihre sanfteste Tonlage aufzulegen, um dann ausnahmslos mit säckeweise Otap, Barquillos, Durian*, oder was auch immer die örtliche Spezialität war, zurückzukehren. Selbstredend entwickelte sich daraus eine natürliche Hierarchie: Cebu, Davao, Palawan und Baguio fielen an Abteilungschefs und ihre Assistenten, deren Günstlinge auch ihren Teil abbekamen. Merkwürdigerweise entwickelte sich das Verfahren mit der Zeit so, dass die Akten immer weniger und dünner wurden, und die Namen der nächsten Verwandten sich entweder selbst löschten oder offenbar niemals aufgeschrieben worden waren, sodass aufwändige Dienstreisen draußen in der Provinz notwendig wurden. Das ging relativ ungestört so weiter, bis, alarmiert durch den Schwund des Budgets und der Mitarbeiterzahl, der Dienststellenleiter eine Vereinbarung mit dem Direktor der Landespolizei schloss, mit der letzterem die unerfreuliche Verantwortung übertragen wurde, die Verwandtschaft der Toten ausfindig zu machen. Um diesen Handel zu versüßen, ermöglichte eine Zusatzvereinbarung den beiden Chefs, die Umsetzung dieser Maßnahmen einmal im Jahr gemeinsam zu überprüfen, an einem Ort ihrer Wahl - das erste Treffen sollte im Rahmen des nächsten ILO*-Meetings in Genf stattfinden, sodass beide noch gewichtigere Gründe hatten, daran teilzunehmen, als die Mitglieder der fünfunddreißigköpfigen philippinischen Delegation. Der Angestellte, der die Dokumente durchforstete, war nicht begeistert von dieser Vereinbarung, schließlich war sie genau zu dem Zeitpunkt in Kraft getreten, als er selbst gerade dran gewesen wäre, einer Stadt namens Camalaniugan einen Besuch abzustatten, irgendwo im Norden. Wo immer sie war und was immer sie zu bieten hatte, er würde es nie erfahren, war er doch durch ein Telegramm ersetzt worden, das er auch noch selbst aufsetzen musste. Das Cabahug-Telegramm erreichte - nachdem es zuerst vom direkten Vorgesetzten des Angestellten genehmigt, gegengezeichnet und dann von einem Boten ins Telegrafenamt gebracht werden musste - Paez um zwei Uhr nachmittags an jenem Montag. Eine Stunde später kam es per Fahrrad im Polizeihauptquartier in Paez auf der Rückseite des Rathauses an, wo der diensthabende Polizist sein Schachspiel mit dem Hilfswärter des Stadtgefängnisses unterbrach, um es ins Eingangsbuch einzutragen. Der Chef der Polizei, an den das Telegramm adressiert war, hielt sich gerade in Del Monte auf und nahm seine Aufgabe als einer von sieben Taufpaten der jüngsten Tochter des Vizegouverneurs wahr. Und so würde dieses Stück Papier zwischen den kaffeebefleckten und zerknitterten Seiten des Eingangsbuches die Nacht verbracht haben, wäre es nicht SPO2* Walter G. Zamora gewesen, der die Nachtschicht übernahm und wäre es nicht Walter Zamoras Gewohnheit gewesen, beim Reinkommen das Eingangsbuch durchzublättern, noch bevor er seine Stechkarte gestempelt hatte, natürlich nur, wenn er etwas zu früh dran war.
Und Walter war ziemlich häufig früh dran, nicht nur, weil es zuhause wenig zu tun gab - in dem Zimmer, das er von Aling Naty gemietet hatte, über der Videothek, neben der Billardhalle -, sondern auch, weil er so noch etwas Zeit hatte, im Büro des Chiefs einen Blick in die Zeitungen des vergangenen Tages zu werfen, die aus Del Monte geliefert wurden. Als Polizist unteren Ranges hatte er dort eigentlich nichts zu suchen, es sei denn, der Chief rief ihn persönlich zu sich, was ab und zu passierte; aber die Sekretärin des Chiefs mochte ihn, und sie duldete sein Kommen und Gehen in der stillen Erwartung, dass er sie dafür eines Tages ganz besonders belohnen würde. Tatsächlich konnte Walter schwerlich, Ms. Principe ausgenommen, als Frauenschwarm...
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