Schweitzer Fachinformationen
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Ich habe mittlerweile neun Wecker im Haus. Der neben meinem Bett ist auf fünf Uhr gestellt. Ein zweiter piepst eine Stunde vor der Ankunft von Annes Schulbus los, drei weitere erinnern mich daran, dass ich noch dreißig, fünfzehn beziehungsweise sieben Minuten habe. Für Freddies Bus, der etwas später kommt, sind vier eigene Wecker zuständig. Neunmal Gesumm, Gedudel und Geklingel, fünfmal die Woche. Manchmal komme ich mir wie in einer Gameshow vor.
Und alles nur, damit meine Töchter bloß nicht den Bus zur Schule verpassen.
Als ich klein war, rief meine Mutter morgens von unten die Treppe hinauf. Ihre Stimme hielt immer die feine Balance zwischen sanft und bestimmt, wenn sie meinen Namen aussprach und mich aufforderte, das Bett zu verlassen und mich anzuziehen und fertig zu machen. Trotzdem kam ich hin und wieder zu spät an der Bushaltestelle an und sah die roten Rückleuchten im Morgennebel verschwinden. War aber kein Drama.
Denn damals gab es noch keinen Bonus, wenn man den Bus pünktlich erreichte.
Malcolm ist bereits aus dem Haus und macht es sich in seinem hellen Büro mit Kaffee, Vollkornbagels und fettfreiem Frischkäse gemütlich, alles von einer Assistentin serviert. Seine Töchter, beide Teilnehmerinnen an der täglichen Show mit dem Titel Wer schafft es heute nicht rechtzeitig in die Schule?, sieht er an Werktagen morgens nie, was wirklich schade ist. Die Preise sind die ganze Aufregung nicht wert, doch die Strafen für die Verlierer sorgen für ausreichend Motivation.
»Freddie!«, rufe ich aus der Küche und klinge dabei nicht wie meine Mutter, sondern wie eine verzweifelte Löwin, deren Junge von einem Rudel Hyänen umkreist sind. »Anne!«
Während ich Joghurt aus einem Tausend-Gramm-Behälter in Schüsseln löffle und gleichzeitig auf einem Bein hüpfend versuche, den Fesselriemen an meinem linken Schuh zu schließen, schrillt Annes Dreißig-Minuten-Wecker los. Anne steckt den Kopf durch die Tür und schüttelt nur kurz den Kopf.
Freddie ist noch nicht fertig. Nicht mal annähernd.
Scheiße.
Ausgerechnet am zweiten Testtag in diesem Schuljahr bin ich spät dran, meine Tochter ist noch nicht zum Frühstück erschienen, und mein einziger Gedanke gilt dem gelben Bus, der ein Stück die Straße hinauf im Leerlauf steht. Und hinter dem Steuer sitzt der Kinderfänger.
Als ich klein war, hatte ich Albträume von dem Kinderfänger aus dem alten Musical, in dem es ein fliegendes Auto gab und Dick Van Dyke sich mit seinem erbärmlich schlechten britischen Akzent herumquälte. Wenn es zu dämmern begann, lauerte er mit pomadisiertem Haar und Pinocchio-Nase vor unserem Haus und wartete.
Der Kinderfänger wirkte nicht auf Anhieb gruselig - schließlich bimmelten Glöckchen und leuchteten Lämpchen an seinem Wagen, und immerhin tänzelte er im knallbunten Mantel daher und versprach den Kindern Süßigkeiten und andere schöne Dinge. Welches Kind erschrickt schon vor Glöckchen, Farben und Süßigkeiten? Außerdem wusste man beim ersten Mal weder, dass der Wagen in Wahrheit eine vergitterte Gefängniszelle war, noch dass der Kinderfänger unter seinem Mantel Schwarz trug und seine Beute in eine dunkle Höhle verschleppte.
Doch wenn man den Film zum zweiten oder dritten Mal sah, kapierte man es. Und danach war alles klar.
Dann wusste man genau, worum es ihm ging.
Ich habe mit Anfang vierzig lernen müssen, dass es den Kinderfänger gewissermaßen noch immer gibt.
Er ist alt und sitzt in einem Bus, der an den Seiten die schwarze Aufschrift Bundesschulen trägt. Durch die Windschutzscheibe betrachtet wirkt sein Haar wie ein verschwommener weißer Fleck. Statt eines bunten Mantels trägt er eine schlichte graue Uniform, in deren Schulterklappen das Logo des Bildungsministeriums eingestickt ist, ein in drei Farben - Silber, Grün und Gelb - gehaltenes Friedenssymbol, umgeben von den Wörtern Intelligentia, Perfectum, Sapientia. Intelligenz, Vollkommenheit, Weisheit. Zwei dieser drei Wörter kann man sich auch ohne Lateinkenntnisse erklären. Der gelbe Lack des Busses - Chromgelb hieß die Farbe früher, als sie noch Blei enthielt, aber seit einiger Zeit wird sie Bundesbusglanzgelb genannt - ist rissig und blättert an den Kotflügeln und an der Falttür ab, doch das ist allen herzlich egal. Angesichts der Ziele, die von diesen Bussen angesteuert werden, und der Fracht, die sie transportieren, spielt ihr Zustand schlicht keine Rolle.
Die grünen und silberfarbenen Busse sind dagegen immer gut in Schuss, auf Hochglanz poliert und ohne Dellen oder Kratzer. Im Gegensatz zu der quietschenden Tür des gelben Busses, der an diesem Morgen durch unsere Straße rattert, öffnen sich die Türen der anderen störungsfrei und geräuschlos. Die Fahrer der grünen und silbernen Busse lächeln, wenn die Kinder einsteigen. Alle, sogar die Fünfjährigen, tragen Schuluniform in den Farben Harvard-Purpurrot und Yale-Blau.
Die gelben Busse weisen eine zusätzliche Besonderheit auf: Sie laden ihre Fracht nicht Tag für Tag im frühmorgendlichen Nebel ein und setzen sie nachmittags wieder ab, damit die Kinder nach der Schule eine Kleinigkeit essen und ein bisschen fernsehen können und nicht mehr zeitweise Mündel des Staats, sondern wieder daheim bei ihren Familien sind.
Die gelben Busse kommen nur ein Mal im Monat, immer am Montag nach dem Testtag. Und nachmittags kehren sie nicht zurück.
Sie kehren nie zurück. Zumindest nicht mit Passagieren. Und sie kommen nicht in Gegenden wie unsere.
Hätte ich Zeitungsschlagzeilen der vergangenen zehn Jahre aufgehoben, könnten sie das Ganze besser illustrieren als ich.
EINWANDERERZAHL STEIGT - DÜSTERE PROGNOSEN FÜR 2050
LEHRERMANGEL UND ÜBERFÜLLTE SCHULEN:
BEHÖRDEN FINDEN KEINE LÖSUNGEN
GENICS INSTITUTE BIETET IN ZUSAMMENARBEIT MIT BILDUNGSMINISTERIUM ERWEITERTE Q-SOFTWARE AN
KAMPAGNE FÜR WERTVOLLERE FAMILIEN VERÖFFENTLICHT RICHTLINIEN
GESETZ ZUR VERBESSERUNG DER ÖFFENTLICHEN SCHULEN WIRKT SICH NACHTEILIG AUF ALLE SCHÜLER AUS!
ERSTE ANORDNUNGEN FÜR DIE NÄCHSTEN MONATE ERWARTET
Zuerst war da die Angst, dann kamen die Gesetze.
Ich schenke mir den dritten Kaffee ein und sehe auf die Uhr. »Freddie! Bitte!« Ich bemühe mich, leise und ruhig zu sprechen wie eine liebevolle Mutter. Alles zu tun, damit sie sich nicht aufregt.
Der gelbe Bus steht im Leerlauf auf der anderen Straßenseite, zwei Häuser weiter, vor der Zufahrt der Campbells. Das ist komisch, denn Moira Campbell hat gar keine Kinder mehr - zumindest keine, die noch zu Hause wohnen. Außerdem ist heute Testtag. Aber schräg gegenüber ist immer noch besser als vor dem eigenen Haus, egal, ob der Bus pünktlich ist oder nicht. Allein bei dem Gedanken läuft es mir trotz des späten, heißen Indian Summer eiskalt über den Rücken. Seit wann stellt etwas so Banales wie ein gelber Schulbus eine solche Bedrohung dar? Als würde man einem Smiley Reißzähne aufmalen. Das darf einfach nicht wahr sein!
»Verflucht nochmal, Freddie!«
Die Wahrheit über Neunjährige: So fürchterlich die Schmerzen im Kreißsaal, so chaotisch das allnächtliche Stillen, der Pseudokrupphusten und das Trotzalter waren und so sehr man sich jetzt vor dem ersten Ich habe einen Freund, Mom! aus dem Mund eines Kindes fürchtet, das dem Gefühl nach noch gestern in Windeln herumlief, so schlimm sind Mädchen zwischen acht und zehn - vor allem, was den Aufenthalt im Bad betrifft. Aber ich darf nicht wütend werden -, gerade weil Freddie so ist, wie sie ist.
Immer daran denken: einen anderen Ton anschlagen. Zwei Oktaven tiefer und eine Million Dezibel leiser.
»Beeil dich, Schatz! Heute ist der Test!«, sage ich, diesmal mit mehr Honig in der Stimme, und überlege, ob ich es rechtzeitig zu meiner eigenen Arbeit schaffe. Dann versuche ich, die große Schwester einzuspannen; sie soll den Bad Cop spielen. »Anne, du sorgst dafür, dass deine Schwester in zwei Minuten hier auftaucht, ganz egal, ob die Haarspangen zusammenpassen oder nicht!«
Es scheint zu funktionieren. Solange Anne nicht mit der Nasenspitze an ihrem iPad klebt und sich die Q-Platzierung aller Jungs in der Stadt ansieht, die als Begleiter zum Homecoming-Ball in Frage kommen, ist sie die Vernünftige. Immer startbereit, immer pünktlich, und nach jedem Test kommt sie mit diesem unbekümmerten Lächeln nach Hause und strahlt, sobald die App auf ihrem Handy oder Tablet abends anzeigt, dass sie bestanden hat. Freddie dagegen bleibt ewig im Bad, hadert mit ihrem Pony und wäscht sich die Hände fünfmal mehr als nötig. Einmal saß sie vornübergebeugt auf dem Klo, hatte den Kopf auf die Knie gelegt, zitterte am ganzen Leib und weigerte sich herauszukommen.
»Es geht nicht anders, Schatz«, sagte ich. »Zum Test müssen alle.«
»Aber warum?«
Warum? Ich suchte nach einer beruhigenden Antwort. »Damit die Leute richtig eingeordnet werden können. Du hast es doch immer gut gemacht!«
Ich sagte nie: »Du hast es jedes Mal knapp geschafft, du wirst es wieder knapp schaffen.« Damit wäre ihr überhaupt nicht gedient.
Anne kommt in die Küche. Sie klebt noch immer an ihrem iPad, wischt, zoomt hinein und heraus und murmelt Zahlen vor sich hin. »Neun Komma eins. Quel Versager. O Mann - acht Komma acht, noch schlimmer!« Dann sagt sie: »Mom, schau dir mal den da aus dieser Schule...
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