Schweitzer Fachinformationen
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Anheimelndes Licht strömte durch die Buntglasfenster des Saals auf die Kramgasse. Von solch friedlicher Atmosphäre war die Sitzung des Stadtrates drinnen allerdings weit entfernt.
»Vier Prozent!« Der Kopf von Bäckermeister Heiner Möntgerath erinnerte mit seiner prallen Rundung und dem Anflug von Farbe schon unter günstigen Bedingungen an eine junge Tomate, die unter den ersten Sonnenstrahlen sittsam errötet war. Nun hatte der Farbton die Intensität einer roten Ampel kurz vor dem Durchbrennen angenommen.
»Um vier Prozent ist der Tourismus in Andernach während des vergangenen Jahres zurückgegangen!« Er wedelte mit einem Papier, auf dem eine erschreckende Menge von Zahlen in verschiedenen Größen und Farben an den Umsitzenden vorbeihuschte. »Sind Sie nicht fassungslos? Also ich bin so was von fassungslos!«
Michi Gabriel überlegte, ob sie ihr Handy dabeihatte, um notfalls einen Rettungswagen herbeirufen zu können. Heiner Möntgeraths leicht erregbares Gemüt war legendär. Sie hatten ihn schon zweimal abtransportieren lassen müssen.
»Jetzt übertreibst du aber, Hein.« Ines Pisalski betupfte ihre Nase mit einem Taschentuch. »Das sind doch ganz normale Schwankungen. Die kommen alle paar Jahre vor, wie eine Studie der Universität Uppsala eindeutig belegt.« Eine voluminöse Wolke krausen Haares umwippte ihren Kopf.
»Schwankungen?« Möntgeraths Tomatenkopf schnellte in ihre Richtung. »In Uppsala können sie Schwankungen haben, bis sie grün werden, das ist mir wurscht! Bei uns ist jeder einzelne Monat mit weniger Gästen eine Katastrophe für die Gastronomie! Die >Burggrabenstube< musste schon schließen, und das >Café Nikolaus< hat auch dichtgemacht.«
Michi geriet in Versuchung, den Kopf resigniert auf den Tisch sinken zu lassen, fand dieses Verhalten einer Kulturbeauftragten aber nicht würdig. Das hatte sie jetzt davon, dass sie in grauer Vorzeit einmal Kunstgeschichte studiert hatte. Sie fühlte sich, als sei das im tiefsten Pleistozän gewesen, als Mammuts über die Erde getrottet waren.
»Nun mach mal halblang«, sagte Jo Stein und lehnte sich zurück. Seine sonore Stimme erschien Michi immer wie eine sanfte Nackenmassage. »Die >Burggrabenstube< ist geschlossen worden, weil sich die Erben da gegenseitig das Inventar um die Ohren gehauen haben. Und die Chefin vom >Café Nikolaus< hat ihren Mann dabei erwischt, wie er in der Backstube die rothaarige Bedienung geknetet hat statt den Teig.« Seine weißen Haare schimmerten im Licht der Deckenlampen. »Unter der Wirtschaftskrise in den vergangenen Jahren haben alle gelitten, da geben die Leute eben weniger Geld für Urlaub und Freizeit aus. Die Besucherzahlen beim Geysir sind aber sogar gestiegen.« Er hob den Zeigefinger auf Schulterhöhe steil in die Luft und sah damit aus wie ein predigender Prophet. »Unser Geysir ist der höchste Kaltwassergeysir der Welt!«, verkündete Jo mit stolzer Stimme eine Tatsache, die allen Anwesenden hinreichend bekannt war. »Andernachs geologischer Schatz aus den Tiefen von Erde und Zeit.«
Bäckermeister Möntgerath schnaubte.
»Trotzdem hat Herr Möntgerath recht«, nuschelte Clemens Olm. »Wir merken den Umsatzrückgang alle.«
»Wovon haben Sie denn in Ihrer Apotheke früher mehr verkauft?«, erkundigte sich Ines Pisalski, bevor ihre Nase in einem frischen Taschentuch verschwand.
»Hühneraugenpflaster und Magentabletten gingen bei den Touristen immer sehr gut«, antwortete Olm, der mit seinen eigenen Produkten offenbar nichts gegen seine schwindende Haarpracht ausrichten konnte, voller Ernst. »Auch Mittel gegen Reiseübelkeit und Kater. Und, äh, Kondome.« Seine ohnehin leise Stimme sank in den Flüstergraben. Verhaltenes Kichern lief durch die Reihen, prallte aber an Möntgerath ab.
»Ich bin fassungslos, wie ihr das Problem auf die leichte Schulter nehmt! Die Hälfte von uns hier lebt doch von den Touristen. Der Andenkenladen. Die Hotels am Rhein. Die Cafés. Da muss man doch überlegen, was man ändern kann.« Er griff nach einem Wasserglas, das in seiner großen Hand fast versank, und nahm einen tiefen Schluck. »Wir hätten viel weniger Probleme, wenn ich meine Bakerboys Brezeln nach Holland hätte exportieren dürfen. Dann könnten wir uns vor holländischen Gästen hier gar nicht retten, weil alle die Heimat der legendären BBB besuchen wollen.«
»Wer will mich besuchen?«, flüsterte Franz-Hubert Schwalm Michi zu. Der Oberbürgermeister schaute von einem Buch auf, das er schon den ganzen Abend studierte.
»Keiner. Es geht um die BBB«, flüsterte Michi zurück.
»Ach, die legendäre Bakerboys Brezel.« Schwalm blätterte. »Ich schau mal nach, was >Brezel< auf Hebräisch heißt.«
Ines Pisalski beugte sich vor, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt. Der Bäcker zog sich instinktiv vor ihrer bedrohlich vorgestreckten Habichtsnase zurück. »Jetzt halt uns bloß nicht wieder eine Jammerrede über deine bescheuerte Brezel, Hein. Hättest du da nicht eine Oblate mit dem Bild eines Bäckerjungen draufgeklebt, der große Ähnlichkeit mit einem völlig zugedröhnten niederländischen König hat, dann hätten die Holländer die Dinger ja vielleicht genommen. Das hat jedenfalls nichts mit den Schwankungen der Tourismuszahlen zu tun.«
»Ach je, wir hatten im letzten Jahr ein bisschen Pech«, bemerkte Jo Stein. »Ein paar unglückliche Umstände, für die wir ja auch gar nichts konnten.«
Michi hatte nicht geglaubt, dass sich Ampelrot noch steigern ließe, aber sie erlebte es gerade. Während sie überlegte, ob diese Farbe nach ihrem Träger benannt werden könnte - das Möntgerath-Rot -, beugte sich Oberbürgermeister Franz-Hubert Schwalm zu ihr hinüber.
»Brezel kann ich nicht finden. Wissen Sie zufällig, was >Preisermäßigung< auf Hebräisch heißt?« Als er sein Buch mit eingelegtem Finger zuklappte, konnte Michi es anhand des blau-weiß gestreiften Einbands mit dem Davidstern als Sprachführer identifizieren. »Hier gibt's nicht mal das Wort >Oberbürgermeister<«, murmelte er ungehalten. »Ich könnte höchstens sagen: >Schalom, ich bin der König von Andernach, bekomme ich die Mazzen billiger?< Aber, hehe, das ist wohl doch ein bisschen übertrieben.« Er gluckste leise. Offenbar bereitete sich Schwalm gewohnt gründlich auf eine Dienstreise in die israelische Partnerstadt Dimona vor.
Heiner Möntgerath hatte sich derweil in ein Hecheln hineingesteigert. Michi sah es gelassen. Stadtoberhaupt Schwalm kannte sich neuerdings ein bisschen in Erster Hilfe aus, weil er sich vor Kurzem von einem Reporterteam zu einem Tageskurs beim Roten Kreuz hatte begleiten lassen. Er würde den Bäckermeister also notfalls wiederbeleben können.
Michi hauchte in ihre Hände und klinkte sich aus der Sitzung aus. Sie dachte neidvoll an ihren Mann. Sie dachte häufig an ihn, mal liebevoll, mal unanständig und manchmal auch genervt. Im Moment überwog eindeutig der Neid. Wie brachte es ein so schlanker, kleiner Mensch fertig, nie zu frieren? Wahrscheinlich hing es mit seinem Bewegungsdrang zusammen, der kein Kältegefühl in ihm aufkommen ließ. Selbst im tiefsten Winter, wenn sie mit zwei Paar Socken im Bett zitterte, trug er nur Boxershorts. Wo befand sich in diesem Raum eigentlich die Heizung? Für Mitte Mai war es wirklich verboten kalt. Waren das die Eisheiligen oder die Schafskälte? Sie konnte sich das nie merken.
»Also . also«, hechelte Möntgerath.
Wenn sie sich überlegte, dass sie jetzt unter ihrer Schneesterndecke auf dem Sofa sitzen könnte, statt sich zum dritten Mal diese unfruchtbare Diskussion anzuhören! Anfangs war ihr die Aussicht, hin und wieder einen Abend außerhalb der Hörweite ihrer drei bewegungs- und lautstärkeintensiven Söhne zu verbringen, sehr verlockend erschienen. Da hatte sie aber noch nicht gewusst, wie sich solche Abende gestalteten. Wie auch immer, sie musste das Beste daraus machen. Fern von heißem Tee und der dreizehnten Wiederholung von »Columbo« hatte sie das boshafte Bedürfnis, ein bisschen mitzumischen, und sei es nur, um auf Betriebstemperatur zu kommen.
»Jetzt passt mal auf.«
Bewegung kam in die Gruppe. Alle Ratsmitglieder drehten sich zu ihr.
Michi hatte mindestens zwei Gesprächstermine pro Halbjahr beim Schuldirektor ihrer Söhne und Rosemarie Nill, der Leiterin des Kindergartens. Ganz zu schweigen von ihrem Mann, der gern schon mal die anstehenden Taufen und Beerdigungen verwechselte und Trauungen in Bermudashorts abzuhalten versuchte, wenn Michi ihn nicht entsprechend dirigierte. Es gab nichts, das Michi Gabriel so schnell erschüttern konnte.
»Die Probleme habt ihr euch doch selbst gebastelt«, setzte sie ruhig an. »Ein paar von den Aktionen, die hier in den letzten zwei Jahren gelaufen sind, waren zum Mäusemelken.«
Murren. Möntgerath kurz vor dem Kollaps. Michi blieb unbeeindruckt, Oberbürgermeister Schwalm würde Heiner Möntgerath in die stabile Seitenlage bringen können, sobald der umkippte. Allerdings würden sie damit wahrscheinlich warten müssen, bis die Presse informiert war und ein Foto von Schwalm bei der Rettungsaktion schießen konnte.
»Jetzt stellen Sie uns aber wie die Rumpelstilzchen dar, Frau Gabriel«, stellte Ines Pisalski verschnupft fest.
Michi ging auf diese Bemerkung gar nicht erst ein. »Fangen wir mal an mit der begnadeten Aktion >Nur nackig ist knackig<.«
»So heißt das gar nicht«, wandte Ines Pisalski gekränkt ein und entfaltete aufwendig ein neues Taschentuch. »Laut der Studie der Universität von Den Haag heißt das Projekt >Selbstintegration bei gruppendynamischer Interaktion im Gemeinschaftsmittelpunkt<.« Schnupf. »Und auf dem Papier sah es sehr vielversprechend...
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