Schweitzer Fachinformationen
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EINLEITUNG
1 Warum strafen?
Mord und Totschlag haben Konjunktur. Verbrechen lohnen sich und generieren Profite in Millionenhöhe. Jedenfalls für manche Medienunternehmen. Wir beobachten eine paradox-gegenläufige Entwicklung: Die Verbrechen werden seltener, die Berichte über sie aber häufiger und intensiver. Kaum eine überregionale Zeitung und Zeitschrift verzichtet auf eine eigene Crime-Rubrik. Der Durst der Leserschaft nach Berichten über menschliche Abgründe wird bedient, mal mehr, mal weniger sensationsheischend, aber selten nüchtern. Zu beobachten ist zudem ein anschwellender Chor jener, die »Klartext« reden, die ein »Ende der Geduld« verkünden oder fordern, die vor »No-Go-Areas« warnen, kurz gesagt: die Schluss machen wollen mit der »Kuscheljustiz«. Hier artikuliert sich eine Stimme, die eine Abkehr von den strafrechtlichen Reformen der Siebzigerjahre verlangt. Jenen Reformen, die den Fokus weg von der Strafe als Vergeltung für begangene Verbrechen hin zur Prävention und Resozialisierung des Verurteilten vollzogen. Diese sollen ganz oder teilweise rückgängig gemacht werden. »Der Sozialromantiker kümmert sich liebevoll um den, der das Nasenbein gebrochen hat«, schreibt der Jugendrichter Andreas Müller in seinem Buch Schluss mit der Sozialromantik. Ein Jugendrichter zieht Bilanz1. Er bekommt viel Zustimmung, wenn er härtere Strafen fordert. Warum ist eine solche Forderung in Zeiten rückläufiger Straftaten sinnvoll? - diese Frage wird selten gestellt und noch seltener beantwortet. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, wann jemals in der Geschichte der Menschheit härtere Strafen zu einem Rückgang von Straftaten geführt hätten.
»Langweilig« ist nicht zwangsläufig das Gegenteil von »sensationsheischend«. Den Beweis liefern die Berichte des Bundesamtes für Statistik Jahr um Jahr, besonders wenn es um Straftaten geht. Hier werden in blutdruckschonender Weise spannende Einblicke in das deutsche Innenleben geboten.
Im Jahr 2016 verurteilten deutsche Gerichte 737 873 Personen rechtskräftig wegen eines strafrechtlichen Verbrechens oder Vergehens mit rückläufiger Tendenz. Im Vorjahr gab es noch 0,2 % mehr Verurteilungen. Die allermeisten Verurteilungen sahen Geldstrafen vor, bei 107 381 stand jedoch eine Freiheitsstrafe im Urteil. Das bedeutet aber nicht, dass alle oder auch nur die meisten der Verurteilten tatsächlich ins Gefängnis müssen. Bei 72 % der Heranwachsenden und 69 % der Erwachsenen wurden die Haftstrafen zur Bewährung ausgesetzt, so das Statistische Bundesamt. Im Jahr 2017 saßen circa 64 000 Menschen in deutschen Gefängnissen. 94 % waren Männer und nur 6 % Frauen. Das entspricht etwa 0,06 % der Gesamtbevölkerung. Das ist im internationalen Vergleich ein relativ geringer Wert. In den USA zum Beispiel befinden sich fast 2,3 Millionen Menschen hinter Gittern. Das sind circa 0,75 % der Gesamtbevölkerung oder 0,9 % aller erwachsenen US-Amerikaner. Anders ausgedrückt: In den USA leben in etwa viermal so viele Menschen wie in Deutschland, aber 40-mal (!) so viele fristen ihr Leben hinter Gittern. Warum ist das so? Wenn in einer Diktatur oder einem autoritären Staat wie China Menschen in übergroßer Zahl eingesperrt werden, liegt der Grund auf der Hand. Aber nun sind die USA wie auch Deutschland eine Demokratie. Man sollte meinen, dass Demokratien bei allen Unterschieden das gleiche oder zumindest ein ähnliches Menschenbild zugrunde liegt. In Deutschland gilt zum Beispiel, dass auch wegen schwerster Straftaten wie Mord verurteilte Menschen grundsätzlich Anspruch darauf haben, irgendwann wieder ein Leben in Freiheit zu führen. Deswegen bedeutet eine Verurteilung zu lebenslanger Haft in Deutschland eben nicht, dass der Verurteilte bis zum Tag seines Todes keinen Moment in Freiheit mehr erleben wird. Die Regelentlassung erfolgt nach 15 Jahren. Längere Haftstrafen, auch das kommt vor, sind Ausnahmen von dieser Regel und bedürfen besonderer Begründung. Alles andere widerspricht unserem in Artikel 1 Grundgesetz postulierten Verständnis von der Würde des Menschen.
Anders in den USA: Dort können Richter schon bei der Urteilsverkündung jede Strafaussetzung zur Bewährung ausschließen. In einzelnen Staaten der USA gelten »Three Strikes Laws«. Diese wurden 1994 während der Präsidentschaft von Bill Clinton bundesstaatlich zugelassen. Dies bedeutet, dass ein Angeklagter, der bereits zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, beim dritten Mal ungeachtet des Tatvorwurfs zu extremen Strafen verurteilt werden darf. Den Bundesstaaten räumte Clinton dabei einen Spielraum ein, ob und wie sie Three Strikes Laws implementieren. Im Bundesstaat Maryland beispielsweise werden Angeklagte mit drei Vorstrafen beim vierten Mal, sofern es sich dabei um eine Gewalttat handelt, automatisch zu lebenslanger Haft ohne jede Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ein 20-jähriger Angeklagter, der dreimal wegen Ladendiebstahls verurteilt worden ist und dann wegen Körperverletzung vor dem Richter steht, kommt nie wieder auf freien Fuß. Er stirbt als alter Mann hinter Gittern. Von der Möglichkeit der Todesstrafe in den USA einmal ganz zu schweigen. Solche Strafvorstellungen sind im Deutschland unserer Tage mit der Werteordnung unserer Verfassung unvereinbar.
Niemand sollte aber überheblich die Nase über die Zustände in den USA rümpfen. Es gibt nicht wenige, die lieber heute als morgen amerikanische Zustände in Deutschland einführen würden. Vor allem aber herrschten hierzulande vor gar nicht langer Zeit wesentlich schlimmere Zustände als in den fernen USA. Im östlichen Teil Deutschlands wurde zudem die Todesstrafe erst kurz vor dem Kollaps der DDR Ende 1987 abgeschafft. 227 Mal wurde diese »Strafe« (im Grunde waren es staatliche Mordaufträge) in 40 Jahren DDR verhängt, und in mehr als zwei Dritteln der Fälle auch durch Enthauptung oder durch einen Schuss in den Hinterkopf - den sogenannten unerwarteten Nahschuss - vollstreckt. In der demokratischen Weimarer Republik wurde ebenfalls die Todesstrafe verhängt - 1 141 Mal - und auch vollstreckt, ganze 184 Mal. Drakonische Strafen sind weiß Gott kein Privileg diktatorischer Systeme. Nicht nur der einzelne Mensch wird durch die Umstände seiner Gesellschaft sozialisiert. Auch die Gesellschaft selbst wird sozialisiert: Wenn im Wilden Westen einem einsamen Cowboy das Pferd gestohlen wurde, bedeutete dies für den Cowboy oft das Todesurteil. Deswegen hat man Pferdediebe sicherheitshalber aufgehängt. Diese Vorstellungen von Law and Order finden sich dann auch in den USA des 21. Jahrhunderts, wo jeder Politiker jeder Partei in jedem Wahlkampf seinen Wählern verspricht, tough on crime zu sein.
Noch einmal: Auch in Deutschland waren - und sind! - Konzepte wie die »Three-Strikes«-Gesetze nicht unbekannt. Im deutschen Strafrecht finden sich solche Überlegungen unter dem Stichwort »Gewohnheitsverbrecher«. Schon gleich nach der nationalsozialistischen Machtergreifung fanden sich solche Ideen in Gesetzen wieder. Im November 1933 wurde das Strafgesetzbuch im nationalsozialistischen Sinne mit dem neuen § 20a erweitert. Dort hieß es:
Absatz 1
Hat jemand, der schon zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, durch eine neue vorsätzliche Tat eine Freiheitsstrafe verwirkt und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, dass er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so ist, soweit die neue Tat nicht mit schwererer Strafe bedroht ist, auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren und, wenn die neue Tat auch ohne diese Strafschärfung ein Verbrechen wäre, auf Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen.
Absatz 2
Hat jemand mindestens drei vorsätzliche Taten begangen und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, dass er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so kann das Gericht bei jeder abzuurteilenden Einzeltat die Strafe ebenso verschärfen, auch wenn die übrigen im Absatz 1 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
Wie viele andere Nazi-Gesetze auch, blieb diese Gesetzesverschärfung auch nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Erst die Reformen von 1969 und 1973 führten zu einer Änderung.
Aber auch nach diesen Reformen blieb die Idee hinter der Gesetzesverschärfung von 1933 bestehen. In § 48 StGB, der noch bis zum 1. Mai 1986 galt, wurde nun normiert:
Begeht jemand, der schon mindestens zweimal wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens zu Strafe verurteilt worden ist und wegen einer oder mehrerer dieser Taten für die Zeit von mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe verbüßt hat, eine mit Freiheitsstrafe bedrohte vorsätzliche Straftat, und ist ihm im Hinblick auf Art und Umstände der Straftat vorzuwerfen, dass er sich die früheren Verurteilungen nicht hat...
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