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»Spanien ist das Problem, Europa die Lösung.« (José Ortega y Gasset)
Hinter den Pyrenäen beginnt Afrika, soll Alexandre Dumas der Ältere gesagt haben.
Wahrscheinlich hat er es nie gesagt. Als Dumas schon gestorben war, erklärte sein Sohn, Alexandre Dumas der Jüngere, einem spanischen Freund: »Der berühmte Satz, der meinem Vater zugeschrieben wird und in dem er nach seinem Gutdünken die Geografie verändert, ist apokryph. Sie werden ihn in keinem seiner Texte finden. Sowohl mein Vater als auch ich waren leidenschaftliche Bewunderer Spaniens, obwohl wir in der Provinz Granada von der gesamten Einwohnerschaft eines Dorfes, an dessen Namen ich mich nicht erinnern möchte, mit Steinen beworfen wurden.«
Trotz ungeklärter Urheberschaft hat der Satz vom Afrika hinter den Pyrenäen Furore gemacht. Ich hörte ihn in abgewandelter Form zum ersten Mal 1995 von einer spanischen Kollegin während eines Kongresses auf Lanzarote. Sie sagte: »Spanien ist das nördlichste Land Afrikas«, weil Spanien im Vergleich zu Europa etwas zurückgeblieben sei und weil fast 800 Jahre arabischer Herrschaft ihre Spuren in der Mentalität der Spanier hinterlassen hätten. Ich glaubte der Kollegin kein Wort. Wir waren auf Lanzarote, also geografisch in Afrika, aber alle schwarzwilde Natur konnte nicht das europäische Gepräge der Insel überdecken. In Madrid fühlte ich mich sowieso zu Hause: zu Hause in Europa. Nur die Spanier selbst hatten ihre Zweifel. Damals verreisten sie noch wenig ins Ausland, und wenn das Gespräch auf London oder Rom oder die griechischen Inseln kam, sagten sie: »Ich bin noch nie in Europa gewesen.« Sie meinten den Kontinent jenseits der Pyrenäen. Und in der Madrider Zeitung El Mundo erschien eine Karikatur, die eine Europa-Flagge zeigte, auf der ein Stern durch zwei Pobacken ersetzt worden war. Die Botschaft: Spanien ist der Arsch Europas.
Spanien war mal das mächtigste Land der Welt. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts herrschte Philipp II. über ein Reich, in dem die Sonne niemals unterging. Doch alles Gold und Silber aus den amerikanischen Kolonien verhinderte nicht Spaniens wirtschaftlichen und politischen Abstieg. »Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war fast überall in Westeuropa das Mittelalter ausgetilgt. Auf der Iberischen Halbinsel, die auf drei Seiten vom Meer, auf der vierten von Bergen abgeschlossen ist, dauerte es fort,« schreibt Lion Feuchtwanger in Goya oder der arge Weg der Erkenntnis. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlor Spanien die meisten seiner Kolonien, und während im Rest Europas die Ideen von Demokratie und Kapitalismus zu keimen begannen, blieb Spanien zurück. Weder ideell noch materiell hatte das Land etwas zur Entwicklung Europas beizutragen.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fanden es die klügeren Spanier an der Zeit, dass Spanien endlich seine mentalen Pyrenäen überwinde. Während eines Vortrages in Bilbao im März 1910 forderte der damals gerade 26 Jahre alte Philosoph José Ortega y Gasset die Erneuerung Spaniens: »Erneuerung ist untrennbar von Europäisierung. Erneuerung ist der Wunsch - Europäisierung ist das Mittel, ihn zu befriedigen. Es war von Anfang an klar zu sehen, dass Spanien das Problem war und Europa die Lösung.«
In seiner zugespitzten Form - Spanien ist das Problem, Europa die Lösung - wurde Ortegas Bemerkung zum geflügelten Wort. Wollte Spanien aus seiner Misere herausfinden, müsste es sich dem Rest Europas nähern und ihm ähnlicher werden. Doch daraus wurde vorerst nichts. Den späten Frühling der Demokratie, die 1931 ausgerufene Zweite Republik, zertrampelte General Francisco Franco. Der im Spanischen Bürgerkrieg (1936 - 1939) siegreiche Diktator verordnete seinem Land Autarkie und traditionelle Werte: Die Armen blieben arm, die Frauen am Herd und die Jungen ohne Illusionen. Franco hielt nichts von einer Annäherung an Europa, schließlich lauerten in Europa die Kommunisten. Die spanischen Kinder lernten in der Grundschule wieder, dass - Gott sei Dank! - hinter den Pyrenäen Afrika beginne. Wenn überhaupt, dann sollte sich Europa Spanien nähern, Heimstatt von Christentum und katholischer Moral.
Weil aber das Fressen vor der Moral kommt und die Spanier schon viel zu lange hungerten, leitete das Franco-Regime 1959 die wirtschaftliche Kehrtwende ein und gab seine fatale Autarkiepolitik auf. In den 1960er Jahren kamen die europäischen Touristen ins Land und legten sich im Bikini an die spanischen Strände. Die Spanier staunten: So frei war Europa! Und Hunderttausende spanische Emigranten in Frankreich, der Schweiz oder in Deutschland staunten auch: So frei war Europa, und so reich!
Doch erst mit dem Tod des Diktators Ende 1975 öffnete sich Spanien aus vollem Herzen dem Rest des Kontinents: Europa war die Lösung! Und der Kontinent öffnete sich Spanien. Nachdem das Land den Übergang zur Demokratie gewagt und geschafft hatte, wurde es 1986 zur Belohung in die damalige Europäische Gemeinschaft aufgenommen. Erst feierten die Spanier. Und dann schimpften sie, weil Zugehörigkeit zu Europa auch Konkurrenz aus Europa bedeutete. Überall nur deutsche, französische, holländische Waren! Weinstöcke mussten ausgerissen, Milchquoten eingehalten, der Fischfang reduziert werden. Spanien war wirklich der Arsch Europas. Dass gleichzeitig die Exporte von Apfelsinen, Zitronen und sonstigem Obst und Gemüse sprunghaft anstiegen, machte weniger Schlagzeilen. Darum merkten es die Leute anfangs kaum, dass Spanien ab Mitte der 1990er Jahre zum Wirtschaftswunderland aufstieg. Das Inlandsprodukt wuchs stärker als im Rest Europas und die Beschäftigung auch. Und weil die Regierung noch dazu den Staatshaushalt in den Griff bekam, durfte Spanien, was vorher viele nicht für möglich gehalten hätten, von Anfang an beim Euro mitmachen. Grund für neu erwachten europäischen Stolz: Wir sind immer noch arm, aber richtige Europäer.
Die relative Armut - das spanische Prokopfeinkommen lag Ende der 1990er Jahre bei 80 Prozent des EU-Durchschnitts - war keine Schande, sondern eine Herausforderung: für die anderen. Schon der Sozialist Felipe González, Regierungschef von 1984 bis 1996, besaß keine Hemmungen, die Partnerländer mit seinen Forderungen nach Solidarität zu nerven. Er hatte Erfolg damit. Das reichere Europa gab sich großzügig und trug mit Kohäsions- und Regionalfonds jahrelang mehr als 1,5 Prozent zur spanischen Wirtschaftsleistung bei. Auch der konservative González-Nachfolger José María Aznar, Regierungschef von 1996 bis 2004, wollte nicht als europäischer Subventionsversager dastehen. Noch im Frühjahr 2001 pochte er darauf, dass Spanien wegen des Beitritts ärmerer osteuropäischer Länder zur EU zwar verhältnismäßig reicher aussehe als früher, aber wegen dieses »statistischen Effektes« keinesfalls benachteiligt werden dürfe. Europa war gut. Aber am besten war Europa, wenn es Geld brachte.
Irgendetwas geschah dann. Für Mentalitätswandel gibt es keinen Stichtag, er vollzieht sich unmerklich, und erst im Rückblick wird er augenfällig. Kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt als Regierungschef Anfang 2004 sagte José María Aznar in Brüssel: »Wir haben immer gesagt: Unser Ehrgeiz ist es, kein Kohäsionsland mehr zu sein, sondern wie ein wohlhabendes Land zu denken. Und wir sind kurz davor, dieses Ziel zu erreichen. Spanien muss diese Tatsache akzeptieren und eine entsprechende Mentalität annehmen.« Was Spanien vor allem akzeptieren musste: dass der Geldfluss aus der EU-Hauptstadt spärlicher rinnen würde. Unwahr an Aznars Behauptung war nur, dass er das schon immer gesagt habe. Aber er hatte Recht in der Hauptsache: Spanien war nicht mehr der arme Verwandte hinter den Pyrenäen, sondern eine der am kräftigsten wachsenden Wirtschaften der Europäischen Union. Das Preußen des Südens: verlässlich, ernsthaft, zielstrebig. Vorbei die Zeiten der Bettelei in Brüssel. Aznars sozialistischer Nachfolger José Luis Rodríguez Zapatero, Regierungschef von 2004 bis 2011, forderte keine Geschenke mehr. Er forderte seinen Platz am Tisch der Großen: im Kreis der G-20. Spanien war erwachsen geworden. Es war kein Problemkind mehr. Spanien war endlich Europa - also ein Teil der Lösung.
»Als junger Mann«, sagt der Soziologe Emilio Lamo de Espinosa, Jahrgang 1946, »bin ich mit einem unbezwingbaren Minderwertigkeitskomplex durch Europa gereist und - warum soll ich's nicht sagen - fast beschämt, ein Spanier zu sein. Wenn meine Kinder reisen, tun sie es nicht komplexbeladen, sondern stolz. Es gibt nichts, wessen sie sich schämen müssten. Ganz im Gegenteil.«
Spanien, eine Erfolgsgeschichte. Aber sie ist hier noch nicht ganz zu Ende.
Am Telefon. Ich verabrede mich mit einem Spanier zum Interview: »Damit Sie mich erkennen, ich sehe so aus, wie Sie sich einen Deutschen vorstellen, groß, blond, Brille .« - »Und ich bin der typische Spanier, dunkelhaarig, klein, hässlich .« Großes Gelächter am anderen Ende der Leitung.
Gewöhnlich zeichnen sich Spanier nicht durch den Hang zur Selbstironie aus, aber wenn sie »groß und blond« hören, fällt ihnen zur Selbstbeschreibung sofort »klein und hässlich« ein. Antonio Banderas hin oder her. Meinen sie das ernst? Ja, ein bisschen. Im Juni 2008 hatte es die spanische Fußballnationalmannschaft ins Viertelfinale der Europameisterschaft geschafft. Der Gegner würde Italien sein. Am Vorabend zeigte der Fernsehunterhalter Andreu Buenafuente in seinem Nachtprogramm erst ein Bild des gut aussehenden italienischen...
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