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Wer tagsüber die Calle del Pez entlangläuft, wird unweigerlich Ramón begegnen. Ramón ist schrecklich geschäftig, aber für Komplimente hat er immer Zeit. "Wie schön Sie heute sind, Señora!", sagt er den jungen und besonders gern den alten Damen. Vor jedem Kinderwagen bleibt er stehen und fragt: "Wie gehts denn dem Kleinen?" und den Männern ruft er zu: "An die Arbeit, Spanier!" Niemand fühlt sich belästigt, die Angesprochenen erwidern den Gruß und gehen mit amüsiertem Lächeln weiter. Sie kennen Ramón, sie wissen, er ist nicht der Klügste. Die Ladenbesitzer der Straße geben ihm kleine Aufträge, er trägt Brot aus, bringt Altpapier zum Container oder verteilt die Madrider Gratiszeitung. Ramón gehört dazu: gar nicht wegzudenken aus der Calle del Pez.
Glauben Sie den Madridern kein Wort. "Die Stadt geht gerade gewaltig den Bach runter!", sagen sie und schimpfen über den Dreck, den schlechten Zustand der Straßen und natürlich über die Stadtpolitiker. Vor allem über Ana Botella, die 2013 als damalige Madrider Bürgermeisterin dem Internationalen Olympischen Komitee ihre Heimatstadt mit peinlicher Emphase anpries. "Madrid is fun!", behauptete sie und lud zum Genuss einer "relaxing cup of café con leche in Plaza Mayor" ein - wobei sie ein Gesicht machte, als habe sie gerade stärkere Drogen als eine Tasse Milchkaffee genommen. Die Sommerspiele 2020 wurden danach an Tokio vergeben.
In Wirklichkeit sind die Madrider natürlich trotzdem fürchterlich stolz auf ihre Stadt, so wie alle Spanier stolz auf ihre Heimatorte sind. Aber die spanische Hauptstadt hat in der Tat schon bessere Zeiten erlebt. Woran allerdings nicht Ana Botella schuld ist, die den Bürgermeisterposten 2011 von ihrem ausgesprochen populären Vorgänger Alberto Ruiz-Gallardón übernommen hatte - als Madrid schon, wie das ganze Land, tief in der Krise steckte. Ruiz-Gallardón hatte ein gutes Gespür für die Wünsche der Madrider. Auf seine Initiative verschwand die Ringautobahn in einem Tunnel, die jahrzehntelang das Flüsschen Manzanares eingeschnürt hatte, und machte Platz für einen Park zu Füßen der Altstadt. Ein großartiges Projekt, das Madrid ein neues, freundlicheres Gesicht gegeben hat.
Leider kostete das Projekt sehr viel Geld, weswegen Madrid heute mit mehr als 7 Mrd. Euro verschuldet ist. Europas Norden hat ja sowieso den Eindruck, dass der Süden samt und sonders über seine Verhältnisse gelebt habe, was eine etwas vereinfachende Sicht der Dinge ist. Auf alle Fälle müssen gerade alle sparen, sparen, sparen. Das Leben ist sehr viel härter geworden in Spanien - wovon Sie als Besucher allerdings nichts mitbekommen. Die Cafés sind voll, die Geschäfte sind voll, die Straßen sind voll. Die Häuser sehen gepflegt aus, die Menschen sowieso. Wo ist die Krise? Nun gut, die Metro fährt seltener als früher und dauernd streiken die Rolltreppen. Und die Straßenpflaster sind in keinem besonders guten Zustand. Das war aber schon immer so.
Die Madrider schimpfen trotzdem. Sie haben aber auch in guten Zeiten geschmimpft, so sind die Hauptstädter in aller Welt: nie zufrieden. Javier Marías, der Schriftsteller und bekannteste Madridnörgler, schrieb einmal, die Stadt sei eine einzige Baustelle und trotzdem merke man nirgends Verbesserungen. Er hatte unrecht. Die Bauwut der 1990er- und frühen 2000er-Jahre hat die Stadt lebenswerter, fußgängerfreundlicher und bunter gemacht. Die ehemals grauen Fassaden erstrahlten, die trüben Altstadtstraßen verwandelten sich in grüne Alleen. Und mit dem Boom kamen Ausländer in die Stadt, vor allem Lateinamerikaner, Rumänen, Chinesen und Marokkaner. Madrid wurde damit noch nicht zur kosmoplitischen Weltstadt, legte aber etwas von seiner früheren Provinzialität ab. Und auch wenn viele Immigranten nach Ausbruch der Krise 2008 in ihre Heimat zurückkehrten, weil der Stadt, wie dem ganzen Land, die Arbeit ausgegangen war, blieb Madrid, selbst mitten in der Krise, einer der wirtschaftlichen Motoren des Landes.
Also alles halb so schlimm? Wahrscheinlich nicht. Madrid ist mehr als seine von buntem Leben erfüllte Innenstadt. Man muss genauer hinschauen, um die Menschen zu sehen, die in Mülltonnen nach Essbarem suchen oder sich vor Kirchen oder dem Roten Kreuz zur Armenspeisung anstellen. Die Not prägt nicht das Bild der Stadt, aber sie ist da: hinter der schön geputzten Fassade, wo sich eine vierköpfige Familie, Eltern und zwei halbwüchsige Söhne, das einzige Schlafzimmer teilt. In der Altstadtwohnung, in der ein 50-jähriger Informatiker, seit fünf Jahren arbeitslos, bei der alten Mutter in seinem 6-m2-Kinderzimmer wohnt. Die Menschen kommen über die Runden, weil die familiäre Solidarität funktioniert. Madrid hält diese Krise aus, weil die Ärmsten zu Helden des Alltags werden. "Madrid is fun?" Nicht für sie.
Mit 3,2 Mio. Ew. ist Madrid die größte Stadt Spaniens, aber eine mit ländlichen Wurzeln - was vielleicht das Geheimnis hinter dem Zusammenhalt in der Not ist. Es gibt nur wenige alteingesessene Familien in der Stadt, die Bewohner sind Zugezogene oder Kinder von Zugezogenen oder höchstens Enkel von Zugezogenen. Deswegen macht sich auch an jedem Brückenwochenende eine Autokarawane von Madrid in alle Winkel Spaniens auf. Voy al pueblo sagen sie dann, ich fahr aufs Dorf: Gemeint ist das Dorf der Eltern, der Onkel oder Tanten oder Großeltern. Jeder Madrider hat irgendwo in Spanien seine zweite Heimat.
Seit der Habsburgerkönig Philipp II. das unbedeutende kastilische Städtchen 1561 zur Hauptstadt seines Reichs machte, hat Madrid nicht aufgehört, Immigrantenstadt zu sein. Über Jahrhunderte war es vor allem der königliche Hof, der Arbeit versprach. Doch die Lebensbedingungen der meisten Bewohner waren so miserabel, dass mehr Menschen starben, als geboren wurden. Ohne die Zugezogenen aus Galicien, Andalusien, der Extremadura, dem Baskenland oder dem kastilischen Umland hätte Madrid nicht überlebt. Trotzdem wuchs die Stadt sehr langsam. 1910 lebten in Paris fast 3 Mio. und in Berlin gut 2 Mio. Menschen - in Madrid gerade 500 000.
Der Anschluss an Europa sollte noch Jahrzehnte auf sich warten lassen. Spanien und Madrid erlebten das Drama des Bürgerkriegs 1936-1939 und der anschließenden Diktatur des Generals Francisco Franco. Politisch blieb das Land auf dem Nullpunkt, wirtschaftlich begann es sich erst ab den 1960er-Jahren langsam zu entwickeln. Mit Francos Tod 1975 kam die Befreiung aus fast 40 Jahren Muff und Enge. Madrid erlebte eine Explosion der Lebenslust. "Es war eine unbesonnene, verspielte, kreative Epoche, voller fiebriger Nächte", sagt Filmregisseur Pedro Almodóvar. Für ein paar Jahre war Madrid die heißeste Stadt der Welt. Die heute 50- bis 60-Jährigen trauern den Tagen dieser Movida Madrileña immer noch hinterher. Doch nicht nur die Lust auf marcha - auf lange, durchtanzte Nächte - hat überlebt, sondern auch der weltoffene Geist. Das Schwulenviertel Chueca ist der Stolz der Stadt, der Día del Orgullo Gay, der "Tag des schwulen Stolzes", das größte Volksfest Madrids.
Besucher aus dem Rest Spaniens finden die Stadt vor allem groß und laut. Die Größe ist eine Frage der Perspektive, der Lärm ist messbar. Der Autoverkehr ist lästiger als in anderen Städten, weil Madrid extrem dicht bebaut ist und die Straßen vor allem im Zentrum kleinstädtisch schmal sind. Das schlägt sich auch auf die Luftqualität nieder. Die Madrider lassen sich davon nicht schrecken. Sie trinken ihren Kaffee auf den Bürgersteigen der Gran Vía oder den terrazas des Paseo de Recoletos. Das Phänomen der abends und sonntags ausgestorbenen Fußgängerzonen kennt die spanische Hauptstadt nicht: Die Madrider lieben das Leben auf der Straße, zu jeder Zeit (und außerdem haben die meisten Geschäfte lange geöffnet, auch feiertags).
Madrid ist übrigens die höchstgelegene Hauptstadt Europas (wenn man von San Marino und Andorra la Vella absieht), eine Tafel am Sitz der Regionalregierung an der Puerta del Sol zeigt die Meter über Normalnull an: 650,7. Doch ansonsten sehen die Madrider keinen Grund, ihre Stadt für etwas Besonderes zu halten. Sie klagen lieber, das gehört hier zum guten Ton. Als die Stadtverwaltung 2014 einen öffentlichen Elektrofahrradverleih auf die Beine stellte, war das zum einen eine Revolution: Radfahrer waren in der spanischen Hauptstadt bis dahin Exoten gewesen und ein bisschen lebensmüde. Zum anderen ging in den ersten Wochen alles schief: überlastete Server, Kartenlesegeräte, die keine Karten lasen, ratlose Gesichter vor den Ausleihstationen. Da sieht man's ja mal wieder, sagten die Nörgler, in dieser Stadt klappt einfach nichts!
Die Kinderkrankheiten des Systems waren dann doch schnell kuriert. Die Stadt war plötzlich voller Radfahrer und damit wieder ein wenig lebenswerter geworden, allen Widrigkeiten zum Trotz. So schwer die Krise Madrid auch zugesetzt hat, die Stadt hat sich...
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