Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Was ist?«, fragte Clara.
Ein Krümel Schwarzbrot klebte an ihrem linken Mundwinkel, und Paula konzentrierte sich auf dieses winzige Detail. Fast wie ein ausgefranstes Muttermal, dachte sie. Schließlich biss Clara noch einmal von ihrem Brot ab und leckte sich die Lippen. Der Krümel fiel, von Paulas Blick verfolgt und von Clara unbemerkt, zurück auf den Teller.
Paula fixierte ihn dort ein paar Sekunden lang, dann sah sie wieder Clara an.
»Was ist?«, wiederholte Clara, diesmal mit fast besorgter Stimme.
»Es ist nichts«, antwortete Paula schließlich und bemühte sich um ein Lächeln, das ein wenig schief ausfiel und Clara nicht wirklich beruhigte.
»Das stimmt doch nicht«, sagte sie.
Sie frühstückten heute draußen auf der kleinen Grünfläche, die sich vor Paula Beckers vorübergehendem Domizil befand. Ihren ein wenig wackeligen Holztisch hatte die Tochter von Paulas Wirtsleuten für drei Personen gedeckt, aber Rilke war nicht erschienen, und so hatten die beiden jungen Frauen ohne ihn angefangen.
»Paula?«
»Clara?«
»Ich bleibe dabei, du bist heute irgendwie seltsam. Geistesabwesend.«
»Das bildest du dir ein.«
So war Paula. Offen und heiter oder verschlossen und missmutig, dazwischen gab es nichts. Clara Westhoff legte ihre mit Butter und Sauerkirschmarmelade bestrichene Brotscheibe aus der Hand. Ohnehin hatte sie keinen Hunger mehr.
Es war elf Uhr vormittags, die Sonne schien nach ein paar finsteren Regentagen warm und schön von einem fast wolkenlosen, blassblauen Himmel, und normalerweise war Paula bei einer solchen Wetterlage in bester Stimmung. Aber nicht heute.
»Dein Vater hat geschrieben«, riet Clara.
»Mein Vater? Nein.«
Clara drückte das Kinn an die Brust und zitierte mit tiefer, sonorer Stimme: »Ich kann es nicht billigen, dass du dich wieder in neue Ausgaben stürzt! Meiner Ansicht nach musst du dich um eine Stelle bemühen! Also überlege dir die Sache, und lebe nicht in den Tag hinein!«
Paula kicherte nun doch, wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Ihr lockerer Haarknoten löste sich ein wenig, und eine blonde Strähne fiel ihr ins Gesicht, was ihr etwas Verwegenes verlieh. Dadurch ermutigt machte Clara weiter: »Deinen Reden glaube ich entnehmen zu können, dass du im Herbst wieder nach Paris reisen möchtest, doch sehe ich in finanzieller Hinsicht keine Möglichkeit dazu, und .«
»Schon gut«, sagte Paula, plötzlich wieder ernst, fast streng. »Es ist nicht mein Vater. Oder eigentlich doch, aber nicht nur.«
»Was denn dann, meine Süße?«
»Ich kann jetzt nicht darüber sprechen.«
»Warum?«
»Nun .«
»Sag es mir!«
»Ich weiß nicht.«
»Bitte!«
»Gut. Aber du darfst es niemandem erzählen. Das ist wirklich wichtig.«
»Natürlich nicht!«
»Ich kann nicht länger in der Pension wohnen, das Geld reicht nicht. Ich ziehe in mein Atelier bei Brünjes.«
»Aber dort ist es so eng und klein! Und du hast dann gar keinen Platz mehr zum Malen!«
»Das schaffe ich schon. Ich brauche ja nicht viel.«
»Und? Das war aber noch nicht alles, oder?«
Paula schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Kaffee. Dann beugte sie sich vor und wollte ihre Stimme konspirativ senken, als plötzlich das Gartentürchen quietschte.
»Rainer«, seufzte Clara, lehnte sich zurück und verschränkte unwillkürlich die Arme, enttäuscht über entgangene Geheimnisse.
»Schau ihn dir nur an«, murmelte Paula.
Rilke erschien in seinem üblichen extravaganten Aufzug. Er trug ein grünes russisches Bauernhemd, eine schwarze Hose und darüber rote Lederstiefel, und er zelebrierte im Rahmen der Möglichkeiten - ein verwilderter Garten mit mehreren zum Teil bereits abgeernteten Obstbäumen war keine wirklich glanzvolle Bühne - einen reichlich prätentiösen Auftritt, den er allerdings keineswegs als solchen beabsichtigte. Er selbst empfand sich als einfachen, geradezu schlichten Menschen, der lediglich vom Schicksal mit einer Form der Genialität geschlagen war, die ihn zwang, andauernd auf allerhöchster Ebene produktiv zu sein, obwohl er sich viel lieber den entspannten Freuden unkomplizierterer Zeitgenossen hingegeben hätte. Und das glaubte er auch auszustrahlen: Bescheidenheit und Geradlinigkeit, zumindest jedoch die Sehnsucht danach.
Tatsächlich wirkte er ausgesprochen geziert.
So auch jetzt, als er sich unter vielen Entschuldigungen und ungebetenen Erklärungen auf dem ihm zugedachten Platz niederließ und die Lippen schürzte, als er das hübsch angerichtete, aber nicht gerade fürstliche Frühstück musterte.
»Schwarzbrot«, seufzte er, wissend, dass sein anspruchsvoller Magen derart bodenständige Kost nicht vertragen würde.
»O nein«, sagte Paula lächelnd, »wir haben natürlich auch Weißbrot, extra für dich beim Bäcker bestellt. Und echten Schwarzwälder Schinken.«
»Köstlich, Sie sind ein Engel. Sie wissen, meine Konstitution .«
»Waren wir nicht schon beim Du, lieber Rainer? Man sollte sich nur noch in Briefen siezen!«, befand Paula, woraufhin Rilke errötete wie ein junges Mädchen und sich erneut entschuldigte, weil er mit den lockeren Sitten Worpswedes noch nicht wirklich vertraut sei.
»Oh, so locker sind sie gar nicht, das täuscht«, sagte Paula, weigerte sich aber trotz neugieriger Nachfrage, näher zu erklären, was sie damit meinte, und so wechselten sie nach einigem Hin und Her das Thema und unterhielten sich ganz allgemein über Worpswede, die das Dorf umgebende wundervolle, geradezu magische Landschaft und die lustigen Abende im Barkenhoff, wo der im Wesen eigentlich so schüchterne Heinrich Vogeler immer wieder neue interessante Gäste bewirtete, um sich dann, sobald es zu ausgelassen wurde, zurückzuziehen.
»Ich verstehe ihn so gut«, sagte Rilke.
»Das glaube ich«, sagte Paula. »Ihr seid verwandte Seelen.«
»Das stimmt!«, rief Rilke und sah Paula schwärmerisch an. Ihr Gesicht war wie eine Landschaft, dachte er, unscheinbar und beinahe hässlich bei verhangenem Wetter, doch zum Niederknien anziehend, wenn die Sonne sich schließlich durch Regenwolken kämpfte - so wie jetzt.
Schließlich entwickelte sich eine lebhafte Diskussion über den Unterschied zwischen »Schreiberlingen«, wie sich Rilke gewollt verächtlich selbst titulierte, und Künstlern wie Paula, Clara, Heinrich oder Otto, deren Blick auf die Welt so viel unmittelbarer und ehrlicher war.
»Der Zugang mag unterschiedlich sein, doch du solltest beides nicht gegeneinander aufrechnen«, sagte Paula. »Jedes - ob Literatur oder Malerei - hat doch seine eigene Schönheit, und beide sind Interpretationen der Realität, jedoch nie ein Eins-zu-eins-Abbild der Wirklichkeit.« Clara stimmte ihr zu, doch Rilke widersprach ihnen fast vehement. So verlief der Vormittag, ging langsam in den Mittag und schließlich in den Nachmittag über, und dann verabschiedete sich Clara, Rilke jedoch nicht.
Es entstand eine kleine Pause. Seit Rilkes Ankunft vor einer Woche waren sie noch nie miteinander allein gewesen.
»Otto hat mir erzählt .«, begann Rilke.
»Otto?« Paula dachte an das Schreiben an ihn, das sie heute eigentlich hatte verfassen wollen, und wurde angesichts der Tageszeit ein wenig nervös. Sie war nämlich sozusagen im Rückstand - Otto hatte in den letzten Tagen zwei ausführliche und leidenschaftliche Briefe in ihrem gemeinsamen Versteck deponiert, insofern wäre längst sie an der Reihe gewesen. Doch ihr wollte gerade gar nichts einfallen, keine Gefühle und keine Gedanken, die sie nicht schon mehrmals in unterschiedlichen Worten ausgedrückt hatte, und es gab noch ein paar andere Gründe, weshalb sie gerade überhaupt keine Lust hatte, sich mit Ottos Person zu befassen.
»Ja, er berichtete, dass Sie .«
»Du!«
». du längere Zeit in Paris warst.«
»Ja, mehrere Monate lang. Und nun wirst du mich fragen, wie ich es nach Paris hier in der Einsamkeit aushalte.«
»O nein. Nein. Ich bin ja selbst so glücklich hier, in diesem in Gärten verlorenen Giebelhaus, ich erfreue mich an seinen Blumen, an dem Alleinsein inmitten der Natur, das eine gewisse Tiefe der Gedanken erst ermöglicht.« Nicht zum ersten Mal fiel Paula auf, dass es Rilke auf sehr charmante Weise stets gelang, das Gespräch zwar mit einer Frage an sein Gegenüber zu beginnen, doch anschließend die Aufmerksamkeit geschwind auf sich zu lenken.
»Mit dem in Gärten verlorenen Giebelhaus meinst du den Barkenhoff?«, erkundigte sie sich.
»Nun ja, nicht nur. Es ist alles hier reine Poesie. Ein großes Glück, eine seelische Heimat.«
Rilke schwieg nun und sah Paula wieder unverwandt an, und sie bemerkte nicht zum ersten Mal den schönen Schwung seiner Lippen, überhaupt eine Ebenmäßigkeit der Züge, eine Harmonie, die fast etwas Feminines hatte, wogegen der Blick, der auf ihr ruhte, sich eindeutig männlich anfühlte.
Vielleicht sollte sie ihn malen?
Ob er ihr Modell sitzen würde? Dann hätte sie ihn viele Stunden ganz für sich.
Sie musste lächeln über diese ein wenig verbotene Idee und senkte die Augen. Der ausstehende Brief an Otto war fürs Erste vergessen.
»Wollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte sie, als das Schweigen lastend wurde und sie befangen zu machen drohte.
»Gern«, sagte Rilke freundlich, seinerseits nicht im Geringsten verlegen, und bot ihr seinen Arm.
Und während er das quietschende Gartentürchen öffnete und Paula vorangehen ließ, räumte Anne, die Tochter der Wirtsleute, das von Essensresten hoffnungslos verklebte Geschirr auf ein großes Tablett. Dann setzte sie...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.