Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Oslo, 1942. Die Stadt ist von den Nazis besetzt. Die Jüdin Esther kämpft im Widerstand - bis sie verraten wird. In letzter Sekunde gelingt ihr die Flucht nach Schweden. Ihre Familie jedoch wird deportiert. In Stockholm trifft Esther den Widerstandskämpfer Gerhard Falkum, der ebenfalls aus Oslo geflohen ist. Er steht unter Mordverdacht an seiner Frau. Ein Verdacht, der nie ausgeräumt werden kann und Esther Jahrzehnte später noch beschäftigt. Denn zurück in Oslo will sie herausfinden, wer ihre Familie damals in den sicheren Tod geschickt hat ...
Das Vorderrad landet in der Gleisrille der Straßenbahn. Sie dreht am Lenkrad, aber es ist zu spät. Sie wird stürzen. Das Vorderrad folgt dem Gleis, bis das Fahrrad kippt. Ester springt ab und läuft ein paar Schritte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie rutscht aus und landet beinahe auf dem Hintern, kann sich aber gerade noch auf den Beinen halten, während das Fahrrad gegen die Bordsteinkante scheppert. Das muss vollkommen idiotisch ausgesehen haben, denkt Ester. Die Stille in ihrem Rücken sagt ihr, dass alle Leute, die an der Haltestelle warten, sie beobachten. Ohne aufzuschauen oder jemanden anzusehen, klopft Ester sich den Staub von der Kleidung.
Da sieht sie, wie jemand ihr Fahrrad aufrichtet. Grüner Ärmel. Uniform. Ein Soldat. Als er sich bückt, zeigt der Gewehrlauf über seiner Schulter direkt auf sie. Esters Blick wird von dem runden Loch im Gewehrlauf angezogen. Der Soldat sagt etwas, aber sie ist zu abgelenkt, um seine Worte zu verstehen. Endlich richtet er sich wieder auf, sodass auch der Gewehrlauf wieder nach oben zeigt. Sie nimmt das Fahrrad entgegen und bedankt sich, erst auf Norwegisch, dann auf Deutsch und schließlich auch auf Englisch. Ihre letzten Worte scheint der Soldat lustig zu finden. Er sagt auf Deutsch: »Sehen Sie nicht, dass ich Deutscher bin?« Er lacht. Es ist ein putziges Lachen. Der breite Mund hustet kurze Pfeiflaute aus, wie ein quietschendes Rad. Er sieht nett aus. Unschuldig, denkt sie. Ein bisschen dumm. Wenn er wüsste, auf wen er seine Galanterie verschwendet hat.
Sie setzt den linken Fuß auf das Pedal, stößt sich ab, setzt sich auf das Fahrrad, ohne sich umzuschauen. Nähert sich der Kreuzung am Parkveien, bremst für den Fall, dass Autos kommen. Keines zu sehen. Sie biegt nach links ab, tritt in die Pedale, muss bremsen, weil ein Mann über die Straße läuft, bevor sie mit Wind im Haar in die Sven Bruns gate hineinfährt. Sie bremst in der Abfahrt. Senkt die Geschwindigkeit, um die Rechtskurve in die Pilestredet zu meistern. Die Wolkendecke bricht auf, und die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Niedrige Sonne, Oktobersonne. Sie wirft einen raschen Blick auf ihren Rock. Ein Fleck. Sie rafft den Stoff zusammen. Die Beine werden bis über die Knie entblößt. Ein mehrstimmiges Pfeifen ertönt. Sie dreht den Kopf. Entdeckt zwei deutsche Soldaten, die an der Ecke stehen und johlen. Sie verliert beinahe wieder das Gleichgewicht, kann sich aber fangen und lässt den Rock wieder fallen. Noch mehr Pfiffe. Sie fährt in den Hinterhof. Bremst. Steigt vom Fahrrad. Lehnt es an die Wand. Atmet durch und lauscht. Sie zählt lautlos bis zehn. Haufen von nassem Laub liegen im Hof, und es riecht nach verbranntem Koks. Eine Elster springt von einem Mülltonnendeckel zum nächsten, schlägt mit den Flügeln und verschwindet. Ester hält die Luft an, damit ihr kein Geräusch entgeht. Aber im Eingang rührt sich nichts, keine Schritte sind zu hören. Im Hof ebenfalls nicht. Sie sieht sich kurz um und geht zum nächsten Mülleimer und dem Ziegelstein, der dahinter an der Mauer liegt. Sie hält die Luft an, um dem Gestank zu entkommen. Schnell zieht sie ihren Schuh aus, holt die Papiere heraus und versteckt sie unter dem Ziegelstein. Dann schlüpft sie wieder in den Schuh und verlässt so schnell wie möglich den Hinterhof.
Ester muss jetzt kräftig in die Pedale treten. Sie hätte direkt zum Kirkeristen fahren sollen, statt zuerst die Papiere abzuliefern. Dafür hätte sie noch den ganzen Tag Zeit gehabt. Aber der Hinterhof an der Pilestredet lag ja praktischerweise auf dem Weg, und es war nur ein kurzer Halt. Doch jetzt kommt die Angst. Die Befürchtung, nicht mehr genug Zeit zu haben. Es sind nur wenige Leute auf der Straße. Es ist früh, aber vielleicht nicht früh genug. Überall sieht Ester Uhren. Vor Uhrmachergeschäften, an Kirchtürmen. Die Freia-Uhr. Sie versucht an etwas anderes zu denken. Radelt die Apotekergata hinauf und biegt in Richtung Stortorget ab. Bald rast sie auf die Domkirche zu. Auch hier wird ihr Blick von der Turmuhr angezogen. An der Ecke vor dem Kaufhaus Glasmagasinet springt sie vom Rad, schaut in beide Richtungen und schiebt das Fahrrad neben sich her über die Straße. Sie hält abrupt inne, als sie uniformierte Männer vor dem Geschäft sieht. Eine knappe Sekunde bleibt sie stehen, dann geht sie weiter. Schiebt das Fahrrad an den Schaufenstern entlang, langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Zieht die Handbremse an, als es bergab geht. Einer der Uniformierten klebt ein Plakat auf das Schaufenster. Er wischt mit der Handfläche darüber und scheint zufrieden mit seiner Arbeit. Geht zur Seite.
Jüdisches Geschäft.
Ester kneift die Augen zusammen und liest das Plakat noch einmal. Und noch einmal. Plötzlich dringen laute Rufe aus dem Geschäft. Ein Mann in Zivilkleidung - es ist ihr Vater - wird auf die Straße gezerrt. Männer in schwarzer Uniform ziehen ihn hinter sich her. Ester bleibt stehen und schaut zu. Sie rufen auf Norwegisch. Bitten ihn, ruhig zu bleiben, obwohl er sich gar nicht wehrt. Er sieht verloren aus. Seine Jacke ist offen und sein Kopf unbedeckt, er hält den Hut in der Hand. Er stolpert, als der Polizist ihn loslässt. Fällt auf die Knie, steht aber wieder auf und versucht, sich den Dreck von den Knien zu klopfen. Der andere Polizist packt ihn wieder und schiebt ihn in den Laderaum des Polizeiautos, das am Straßenrand steht. Die hintere Wagentür knallt zu. Als wäre er von einem eisernen Maul verschlungen worden.
Ester sieht einen Teil des Gesichts ihres Vaters durch das Gitterfenster. Den Haaransatz, die Locke, die über die Stirn und auf die Brille fällt. In diesem Moment entdeckt er sie. Ihre Blicke begegnen sich. Seine Hand umklammert das Gitter am Türfenster. Sie schließt die Augen und bereut, dabei zugesehen zu haben. Sie hätte ihm die Demütigung lieber erspart.
Deshalb hört sie zuerst nicht, dass der Polizist etwas ruft. Der schwarz gekleidete Mann zeigt in ihre Richtung. Sie versteht nicht. Nimmt eine Hand vom Lenkrad, deutet auf sich selbst. Ich?
»Ja, du!«
Ester ist wie gelähmt. Sie steht wie angefroren da und ist zu nichts anderem in der Lage, als den mit den Armen fuchtelnden Mann anzustarren. Dann versteht sie.
»Sieh zu, dass du wegkommst!«
Das Polizeiauto muss zurücksetzen, und sie steht im Weg.
Mit gesenktem Kopf schiebt sie das Fahrrad auf den Bürgersteig. Die Schutzbleche klappern. Das Auto fährt Richtung Ostbahnhof, biegt ab und verschwindet. Sie wirft einen Blick über die Schulter. Vor dem Geschäft steht immer noch eine kleine Gruppe Polizisten. Einer von ihnen vertreibt Schaulustige. Ein anderer verriegelt die Eingangstür mit einer Kette und einem Vorhängeschloss. Der Dritte malt mit weißer Farbe auf die Tür: Geschlossen (Jude).
Ester schiebt das Fahrrad über die Torggata. Bleibt stehen. Sie hat keine Ahnung, wohin sie geht. Ein Fußgänger hinter ihr läuft beinahe in ihr Fahrrad, flucht und geht an ihr vorbei. Ester sieht sich um. Die Welt sieht immer noch genauso aus wie vorher. Leute strömen über die Bürgersteige. Eine Frau fegt vor dem Eingang zur Christiania Dampkjøkken. Der Friseur stellt sein Schild vor die Eingangstür. So ist es also, wenn man stirbt, denkt sie. Man ist weg, und die Welt kümmert es nicht. Man stirbt, und jemand isst eine Brezel. Mit den Händen am Fahrradlenker geht sie weiter und sie spürt nichts, außer dass sie friert. Sie lehnt das Fahrrad an ihre Hüfte, lässt den Lenker los. Ihre Hände zittern. Sie steht vor dem Kiosk mit der Dachwerbung für Tenor-Halspastillen. Eine ältere Frau mit Einkaufsnetz kommt aus der Passage unter dem Folketeateret. Ester nimmt die kräftige Gestalt aus den Augenwinkeln wahr. Sie kommt ihr bekannt vor. Der wiegende Gang, der ausgestreckte Arm, mit dem sie das Gleichgewicht zu halten scheint, während sie geht, und der lustige Hut. Es ist Ada, die auf Esters Flur gegenüber wohnt.
Ada packt sie am Arm und sagt, dass Ester nicht nach Hause gehen dürfe. Ester antwortet automatisch. Sie weiß es. Sie war da, als sie am Morgen kamen. Ada sieht sich um, geht sicher, dass niemand lauscht. »Kannst du irgendwo bleiben«, flüstert sie, »wo die Polizei dich nicht findet?«
Ester denkt nach, nickt. »Ich glaube schon.«
Ada nimmt sie in die Arme. Ihr Körper ist groß und weich. Durch die Umarmung kann Ester ihr Fahrrad nicht mehr halten. Es kippt um, und sie muss sich bücken, um es wieder aufzurichten. Sie nickt ein weiteres Mal und versichert: »Ich weiß, wo ich hingehen kann.«
Es scheppert, während sie in die Pedale tritt. Die Steigung in der Uelands gate wird immer steiler, aber Ester bleibt auf dem Sattel sitzen. Strampelt kräftig mit beiden Beinen. Sie nähert sich dem Lager mit den Lastkraftwagen und den deutschen Soldaten. Sieht hinunter auf das Vorderrad und das Schutzblech, das sich verzogen hat. Die Pedale schrammen mit jedem Tritt über eine Beule am Kettenschutz. Bis jetzt hat sie die gar nicht bemerkt. Sie muss auf dem Youngstorget entstanden sein, als Ada sie umarmt hat und das Fahrrad umgefallen ist. Ihr ist warm. Die Steigung ist anstrengend. Sie wird immer langsamer. Aber sie will nicht absteigen, will nicht vor den Soldaten stehen bleiben.
Schließlich ist sie oben, jetzt geht es leichter. Sie fährt an der Ulvetrappen, der monumentalen Steintreppe, vorbei. Die Bäume im St. Hanshaugen Park haben rote Kronen. Sie biegt nach links ab. Noch eine Steigung. Dann geht es wieder bergab. Sie schiebt ihr Fahrrad in den Hof.
Sie geht die Treppe hinauf und klopft an die Tür einer Wohnung im zweiten Stock. Dreimal schnell hintereinander, dann eine kleine Pause, einen kurzen Schlag, dann drei...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.