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Charlotte starrte auf den Deckel ihres alten Klaviers. Ihr Übungsinstrument aus früheren Zeiten, das sein Dasein in einer Abstellkammer im hintersten Raum des ersten Stocks fristete, war bereits in die Jahre gekommen. Der Steinway, den Mutter ursprünglich für Agathe in Hamburg hatte anfertigen lassen, klang viel besser, aber um darauf zu spielen, hätte sie sich nach unten begeben müssen.
Der Deckel hatte Staub angesetzt und knarrte widerstrebend, als Charlotte ihn hob. Sie legte den rechten Zeigefinger auf eine Taste, drückte sanft, ließ den Ton klingen. In diesem niedrigen Raum verhallte er rasch. Dann wandte sie den Blick zu den Notenheften, die in einem unordentlichen Stapel auf dem Tisch lagen, und ging sie kurz durch. Es waren ältere Stücke; die neuen lagen in ihrem Zimmer. Aber das machte nichts, für Mendelssohns Lieder ohne Worte brauchte sie keine Noten. Sie legte die Finger auf die Tasten, erfühlte die Glätte und Härte von Elfenbein und Ebenholz. Normalerweise waren die Tasten lebendig unter ihren Fingern, bereit, mit ihr in einen Tanz einzustimmen. Heute nicht. Auch nicht gestern und vorgestern. Nicht, seit sie erfahren hatte, dass die Familie, in der sie aufgewachsen war, nicht die ihre war.
Hufgetrappel in der Einfahrt, Mutters Stimme, dann die von Agathe. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die beiden fuhren in die Stadt, Vater war mit einem Freund ausgeritten. Endlich war das Haus fast leer.
Die letzten drei Tage waren an ihr vorbeigezogen wie graue Schlieren. Hatte es geregnet, hatte die Sonne geschienen? Sie konnte es nicht sagen. Sie hatte sich jeden Tag von Bethli ankleiden lassen und war zum Essen hinuntergegangen, und sie hatte bei Mutter durchgesetzt, dass Bethli am kommenden Sonntag freibekam. Das war der einzige Lichtblick dieser Tage gewesen. Mutters Nörgelei über ihren Müßiggang hatte sich mit jedem Tag verschärft, aber es hatte sie nicht berührt. Ihr Herz fühlte sich an wie ihr Arm, als sie als Kind ihre erste Pockenimpfung bekommen hatte: Ein stechender Schmerz, als die Nadel in die Haut drang, so scharf, dass sie vor Schreck geweint hatte; danach hatte die Stelle nur noch dumpf gepocht. Und als sie vorsichtig daraufgedrückt hatte, hatte es sich angefühlt, als wäre es nicht ihr Arm, sondern der einer Puppe.
Doch unter der Dumpfheit nagten die Fragen an ihr, die Mutters Worte ausgelöst hatten. Wer waren ihre Eltern? Warum war sie nicht bei ihnen aufgewachsen? War sie ein uneheliches Kind? Der Gedanke war seltsam tröstlich. So vieles ergab endlich einen Sinn: Warum Mutter sich nie gefreut hatte, wenn sie etwas erreichte; warum es immer wichtiger war, dass Agathe strahlen konnte. Wenigstens Vater hatte oft zu ihr gehalten.
Vater.
Er war ihr Halt gewesen, der Einzige, der sich für sie zu interessieren schien, und er war es, dessen Wohlergehen ihr immer am Herzen gelegen hatte. Dessen stille Traurigkeit, die sie manchmal zu spüren vermeinte, sie geschmerzt hatte. Doch die Worte Vater und Mutter hatten in diesen drei Tagen jede Bedeutung verloren.
Ein schrilles Klingeln drang durch das Haus. Charlotte spähte aus dem Fenster. Es war der Postbote, sicher mit weiteren Glückwunschtelegrammen. Bethli hatte ihr die von Mutter geöffneten Briefe jeweils auf einem Tablett hochgebracht, aber sie hatte sich nicht zum Lesen überwinden können. Es waren nur Höflichkeitsschreiben; formuliert an ihre Eltern, die gar nicht ihre Eltern waren.
Es klingelte erneut. Wahrscheinlich waren die Dienstboten mit den Vorbereitungen für Mutters heutige Soirée de Joie beschäftigt. Widerstrebend stieg sie die Treppe hinunter, öffnete die Tür, nahm den Packen vom strahlenden Briefträger entgegen und legte die Kuverts auf den Esszimmertisch. Ein kurzer Blick bestätigte ihre Vermutung: Alle waren an Mutter und Vater gerichtet. Dann fiel ihr Blick auf ein Kuvert aus dickem, cremefarbenem Papier. Stand da wirklich Charlotte Henzi?
Neugierig griff sie danach. Tatsächlich, es war ihr Name und auf der Briefmarke prangte ein Poststempel aus Bern. Wer konnte das sein? Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, brach das Siegel und suchte nach der Unterschrift. Da war sie, in derselben ausdrucksvollen Schrift wie der kurze Brief: Thomas von Bonstetten. Ihr Götti! Das war eine Überraschung. Soweit sie wusste, lebte er in Großbritannien. Gesehen hatte sie ihn nie und geschrieben hatte er ihr schon lange nicht mehr. Neugierig begann sie zu lesen.
Liebe Charlotte,
sicher wunderst du dich über mein Schreiben, aber ich möchte es nicht verpassen, dir zu deinem zwanzigsten Geburtstag zu gratulieren. Ich bin mir bewusst, dass ich dir kein guter Götti war, aber ich möchte das wiedergutmachen.
Sicher weißt du, dass ich bisher in England gelebt habe. Vor Kurzem bin ich zurückgekehrt und habe mich in Bern niedergelassen. Wie wäre es, wenn du mich besuchst? Ich habe dir Geld für eine Fahrkarte beigelegt. Ich würde mich sehr freuen, dich kennenzulernen.
Mit den herzlichsten Grüßen,
dein Götti Thomas von Bonstetten
Nachdenklich betrachtete Charlotte die Zeilen. Sie wusste wenig über ihren Götti; ungewöhnlich wenig, wie ihr jetzt bewusst wurde. Dass er in England lebte, hatte man ihr als Kind gesagt. Er sei nicht mit ihr verwandt, sondern ein Freund der Familie, hatte es geheißen; doch warum er als Freund der Familie und ihr Götti nie zu Besuch kam, hatte man ihr nicht gesagt. Agathes Gotte und Götti hatten ihr Patenkind an jedem Wiegenfest mit Geschenken und Küssen überhäuft. Zwar war auch an ihrem Geburtstag immer ein Geschenk eingetroffen, aber Götti selbst war nie gekommen. Als Kind hatte sie mehrmals nach ihm gefragt, doch die Antworten ihrer Eltern waren ausweichend gewesen: Götti war gerade unabkömmlich, er hatte keine Zeit, war auf einer Reise. Irgendwann hatte sie aufgegeben. Zu gut hatte man sie spüren lassen, dass ihre Fragerei irritierte. Vielleicht hatten sich ihre vermeintlichen Eltern mit ihm zerstritten. Aber während sie Göttis Zeilen ein zweites Mal las, ergriff sie eine seltsame Erregung. Was, wenn es für die Reaktionen der Eltern eine andere Erklärung gab? Was, wenn Thomas von Bonstetten ihr Vater war? Das klang unwahrscheinlich, aber alles war möglich. Doch selbst wenn nicht, wusste er vielleicht mehr über ihre Herkunft. Sie musste ihn besuchen!
»Dein Götti? Den habe ich nie gesehen.« Bethli, die sich an ihrem Bett zu schaffen machte, klang so überrascht wie Charlotte selbst.
»Ich auch nicht, aber er hat jedes Jahr ein Geschenk geschickt. Erst waren es Bücher; dann habe ich ihm einmal in einem Dankesbrief geschrieben, dass ich Klavier spiele. Von da an hat er meistens Noten geschickt. Die Lieder ohne Worte sind von ihm; das hatte ich vergessen. Sie sind mir so lieb geworden.«
Durch das halb geöffnete Erkerfenster drangen fröhliche Stimmen. Agathe hatte ein paar Freundinnen eingeladen, mit denen sie im Garten Tennis spielte - ein neumodischer Sport, von dem eine ihrer Freundinnen erzählt hatte. Daraufhin hatte Agathe tagelang genörgelt, bis Albert ihr im Garten ein Spielfeld bereitet hatte, komplett mit Netz und Linien und allem. Schläger, Bälle und Sportausstattung hatte sie sich von der britischen Insel schicken lassen und war nun die Erste ihrer Freundinnen, die mit einem eigenen Tennisplatz glänzen konnte.
»Charlotte?«
Charlotte drehte sich um und blickte in Bethlis verwundertes Gesicht. »Verzeih. Das Gegacker von Agathes Freundinnen hat mich abgelenkt. Was hast du gesagt?«
»Ich habe gefragt, warum du so bedrückt bist«, sagte Bethli. »Es ist doch eine schöne Nachricht, dass er dich sehen will.«
Charlotte setzte sich auf das untere Ende ihres Bettes und strich über das festgezurrte Leintuch. »Du hast recht«, sagte sie dann. »Göttis Brief ist nicht der Grund. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«
Bethli setzte sich neben sie und legte ihr sanft die Hand auf den Arm. »Am besten ein Wort nach dem anderen.«
»Na gut. Du weißt sicher noch, wie ich am Morgen nach dem Fest zum Frühstück hinuntergegangen bin. Als ich mich dem Salon näherte, hörte ich die Eltern meinetwegen streiten. Und dann .« Sie stockte. »Dann hörte ich Mutter sagen, dass ich nicht zur Familie gehöre. Dass ich nicht ihr Kind bin.«
»Du meinst, sie war so wütend, dass sie sagte, du seist nicht mehr ihre Tochter?«
»Nein, sie meinte es wirklich, und Vater hat es bestätigt. Ich bin wieder gegangen, bevor sie mich gesehen haben.«
Bethli hob die Hände an den Mund. »Ich kann das nicht glauben. Wessen Kind sollst du denn dann sein?«
»Das frage ich mich seitdem jeden Tag. Und dann kam der Brief von Götti Thomas. Vielleicht weiß er mehr über meine Herkunft, oder ., aber das ist wahrscheinlich albern.«
»Du denkst, er könnte dein Vater sein?«
»Unmöglich ist es nicht. Aber am wichtigsten ist, dass ich erfahre, wer meine Eltern sind.« Sie schluckte. »Wohin ich wirklich gehöre.«
»Warum fragst du nicht deine Eltern - ich meine die Henzis?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Du hättest das Gift in Mutters Stimme hören sollen! Es klang, als hasse sie mich.«
»Das tut sie nicht«, entgegnete Bethli liebevoll. »Wenn eine schwierige Geschichte dahintersteckt, hat ihr Unmut sicher damit zu tun und nicht mit dir.«
»Ich bin mir da nicht so sicher. Sie gab mir immer das Gefühl, dass ich an allem schuld bin. Egal, ob die Blumen in der Vase verwelkten oder die Milch sauer wurde: Irgendwie war immer ich dafür verantwortlich.«
Bethli drückte ihre Hand. »Dein Vater ist auch noch da. Er wird...
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