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Der diesjährige Almanach widmet sich einem Thema, das in diesen Zeiten die Welt umtreibt: dem Protest. In der Geschichte spielten oft Juden eine prominente Rolle bei der Auflehnung gegen soziale und politische Ungerechtigkeiten. Die europäischen Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts waren von Karl Marx über Rosa Luxemburg und Leo Trotzki zu großen Teilen das Werk einer jüdischen Avantgarde oder von einer solchen beeinflusst. Aus historischer und sozialpsychologischer Sicht lässt sich das Engagement von Juden und Jüdinnen mit dem Widerstand gegen Diskriminierung und dem Wunsch nach Emanzipation erklären. Doch fordert auch der jüdische Grundsatz vom »Tikkun Olam« dazu auf, die Welt durch menschliches Zutun besser zu machen. Im Talmud steht: Wer gegen eine Ungerechtigkeit protestieren kann und es unterlässt, macht sich zum Komplizen.
Inwiefern und warum Proteste gegen herrschende Verhältnisse ein jüdisches Merkmal sind, wird im Folgenden unter die Lupe genommen. So warnt Moshe Zimmermann in seinem Eröffnungsbeitrag vor dem pauschalisierenden Bild des Juden als Speerspitze des Protestes der Moderne. Dies sei vielmehr ein Element der antisemitischen Propaganda gewesen, die abschätzig die »liberalistische Weltanschauung« mit »dem Judentum« assoziieren wollte. Der Historiker erinnert daran, dass Juden zu Sündenböcken für gesellschaftliche Missstände gemacht wurden. Nur über die – strategische – Forderung nach einer generellen Gleichheit bestand Aussicht auf Besserung der eigenen Lage.
Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Feministin, Sozialarbeiterin und Schriftstellerin Bertha Pappenheim genügend Gründe für ihr Engagement. Neben der bürgerlichen Gleichstellung der Juden kämpfte sie für die Rechte von Frauen und gegen Prostitution – aber erst nachdem ihre eigene, damals so diagnostizierte »Hysterie« überwunden war. Viola Roggenkamp erzählt von dem außergewöhnlichen Schicksal der gebürtigen Wienerin, die als Patientin Anna O. in die Geschichte der Psychoanalyse einging. Als Bertha Pappenheim kurz vor ihrem Krebstod 1936 von der Gestapo vorgeladen wurde, wurden die Juden längst als »Drahtzieher« und »Zersetzer« beschimpft, womit ihre Entfernung aus dem deutschen Volk und schließlich ihre Vernichtung gerechtfertigt werden sollte.
Die Bundesrepublik galt als ein Neuanfang, in dem aber tatsächlich Tabus den Umgang mit den wenigen übrig gebliebenen Juden regelten. Für manche Überlebende schien die Bundesrepublik so vielversprechend, dass sie zur Wahlheimat wurde. Zu ihnen gehört Andrew Steinmans Vater, der sich in den 1980er Jahren nach der ermutigenden Lektüre von Günter Grass' Blechtrommel für einen Umzug von New York nach Frankfurt entschied. In einem sehr persönlichen Beitrag über die »Dialektik des Protests« erzählt Andrew Steinman, wie ihn seine Auseinandersetzungen mit dem Vater und mit Deutschland schließlich dazu brachten, Rabbiner zu werden.
Im anderen Deutschland herrschten nach 1945 andere Regeln, wenn auch nicht minder problematische. Über Juden wurde nämlich gar nicht geredet. Also wurde auch nicht an sie als Juden erinnert, wenn es ans Gedenken ging, sondern an antifaschistische Widerstandskämpfer. Die Juden wiederum hofften, sich mit dem Verschwinden ihrer Geschichte aus dem Alltag der DDR die Normalität verdient zu haben. Einer, der heute ein ganz anderes Verständnis seines Jüdisch-Seins an den Tag legt und einen hohen Preis dafür bezahlt, ist Uwe Dziuballa aus Chemnitz. Anetta Kahane berichtet, wie der Besitzer des Restaurants Shalom in der ehemaligen Karl-Marx-Stadt weiterhin stoisch sein koscheres Bier ausschenkt – allen rechtsradikalen Angriffen zum Trotz.
Dass aber die Kur, falls diese denn möglich wäre, für einen besseren Umgang mit Juden und der deutschen Vergangenheit nicht unbedingt in einem Besuch in Auschwitz liegen müsse, betont Henryk Broder. In seiner Polemik schreibt er gegen eine ritualisierte Erinnerungskultur an, wozu der Besuch der kompletten deutschen Fußballelf im ehemaligen Konzentrationslager gehört hätte, wie er für die Europameisterschaft 2012 zeitweilig geplant war.
In Frankreich, das mit dem Regime von Vichy sein eigenes autoritär-faschistisches Erbe zu tragen hat, gibt es andere Debatten. Viele der jüdischen Intellektuellen gingen ganz im Säkularismus auf. So wissen nur wenige, dass René Goscinny, der Schöpfer der weltberühmten 34 Asterix-Bände, Jude war. Dieser Teil seiner Identität mag ihn aber beim Erzählen mehr beeinflusst haben, als ihm womöglich bewusst war. Bernard Kahane und Eric Nataf gehen den vielen versteckten jüdischen Spuren in seinem Werk nach und sehen darin auch das Rezept für den großen Erfolg: »Wenn Asterix uns bis heute hinreißt, dann deshalb, weil er über seine Komik hinaus den Widerstand gegen das Unabwendbare und gegen die Welt der Mächtigen verkörpert«. Ein anderer prominenter Franzose, der gerne protestiert, aber längst nicht so viel einhellige Begeisterung auslöst, ist Bernard-Henri Lévy. Der jüdische Philosoph kämpft an vielen Fronten gleichzeitig gegen das »Böse«, wobei er die Welt nicht nur verstehen, sondern auch reparieren will. Gero von Randow porträtiert den umstrittenen BHL jenseits seiner Starallüren und findet jede Menge Substanz.
Ein gewaltiger Aufschrei aus dem 19. Jahrhundert prägt (nicht nur) das französische Kollektivbewusstsein bis heute: Emile Zolas »J'accuse«. Es handelt sich um den langen, aufrüttelnden Aufruf, den der bekannte Autor auf der ersten Seite der Tageszeitung L'Aurore an den Präsidenten der Republik richtete. Er warf der Regierung Antisemitismus vor, der zur unrechtmäßigen Verurteilung des der Spionage bezichtigten Hauptmanns Dreyfus geführt hatte. Jean-Noël Jeanneney schreibt über diese entscheidende Wendung in der französischen Geschichte, die schließlich zum Freispruch führte. Zugleich wurde damals auch der Einfluss der Medien deutlich.
»Die Medien« wiederum stehen heute bei vielen jüdischen Gemeinden und Organisationen in Europa und den Vereinigten Staaten generell am Pranger, wenn es um die Berichterstattung über Israel und den Nahostkonflikt geht. Vor allem seit der Zweiten Intifada 2000 wird zunehmend gegen eine verzerrte Wahrnehmung Israels protestiert. Jérôme Bourdon beschreibt Facetten dieses neuen jüdischen Engagements, dessen historische Wurzeln sowie den Wandel des Israel-Bilds im Ausland seit der Staatsgründung im Jahre 1948.
Einen Blick auf die besonderen historischen Umstände, unter denen der Zionismus entstehen konnte, wirft Anita Shapira. In ihrem Beitrag zeigt sie die Verbindung auf zwischen der Verwirklichung des zionistischen Projekts und dem Zeitalter der Revolution und wirft dabei die These auf, dass dieses Unterfangen ohne die Eigentümlichkeiten des 20. Jahrhunderts wohl nicht gelungen wäre.
63 Jahre nach der Staatsgründung ging im Sommer 2011 die israelische Mittelschicht auf die Straße, um gegen hohe Preise und Wirtschaftsmonopole zu protestieren. Mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit knüpften die Demonstranten an die ideologischen Ursprünge des Landes an. Dazu wurde ein altes Symbol der jüdischen Geschichte mobilisiert: das Zelt. Amos Goldberg schreibt über die Bedeutung des Zelts in früheren und heutigen Kontexten. Wenige Monate später kam es in Israel erneut zu Auseinandersetzungen: über den Umgang mit Frauen in ultraorthodoxen Kreisen. Tamar Rotem erzählt, wie sich die fromme Yocheved Horowitz über herrschende Konventionen hinwegsetzte und gegen die Geschlechtertrennung in spezifischen Buslinien protestierte. In einem literarischen Essay schreibt Almog Behar anschließend von seinem ganz persönlichen – linguistischen – Widerstand als orientalischer Jude in Israel. Dieser manifestierte sich vor allem in seiner Aussprache des Hebräischen mit arabischem Klang.
Lange Zeit war Wehrdienstverweigerung in Israel mit einem Tabu behaftet, bis sich diese Erscheinung zunächst am linken, und später auch am rechten Rand der Gesellschaft etablierte. Eithan Orkibi und Udi Lebel zeichnen nach, wie sich der militärische Ungehorsam zu einem festen Bestandteil des israelischen Protestrepertoires entwickelt hat. Zu diesem Repertoire gehören in Israel seit den 1990er Jahren auch die hebräischen »Shticker«. Gemeint sind Aufkleber, die besonders gerne an den Heckscheiben der Autos angebracht werden. Über dieses Phänomen, das vor allem nach der Ermordung Yitzhak Rabins eine ganze Generation von Stickern hervorbrachte, schreibt Hagar Salamon. Als einer, der sich noch nie vor Obrigkeiten gefürchtet hat, gilt Natan Scharansky. Neun Jahre verbrachte der prominente sowjetische Dissident im Gulag, weil er seine Auswanderung aus der UdSSR und seine Einwanderung nach Israel beantragt hatte. Dort trat er 2005 aus Protest gegen den Abzug aus Gaza als Regierungsmitglied zurück. Heute ist er Vorsitzender der israelischen Einwanderungsbehörde und reagiert – wieder anders als der israelische Mainstream – mit Hoffnung auf die Proteste in der arabischen Welt, die er tatsächlich schon vor Jahren vorausgesagt hatte.
Aus der eigenen Freiheit, wie sie jedes Jahr an Pessach mit der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten zelebriert wird, leitet sich für viele amerikanische Juden auch das Sich-Einsetzen für die Freiheit Anderer ab. Das jüdische Engagement für die Bürgerrechtsbewegung wird durch ein ikonenhaftes Bild verkörpert: Rabbi Abraham Joshua Heschel demonstrierte 1964 an der Seite von Martin Luther King in Selma, Alabama. Es gibt aber auch andere Facetten dieser Geschichte. In ihrem Beitrag geht Cheryl Greenberg den vielschichtigen...
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