Schweitzer Fachinformationen
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Die Familie spielte im Judentum schon immer eine zentrale Rolle: Ob groß oder klein - um sie dreht sich alles, von ihr hängt das körperliche und geistige Wohlbefinden ab. Familienzusammenkünfte sind beglückend, können aber auch tiefe Gräben aufreißen, wenn uralte Traditionen auf moderne Lebensentwürfe treffen.
Diesem lebensbestimmenden, vielseitigen und streitbaren Thema ist der diesjährige Almanach gewidmet. Erzählt werden die unterschiedlichsten Familiengeschichten: amüsante ebenso wie dramatische, Geschichten von prägenden Kindheitserinnerungen und beeindruckenden Elternfiguren. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob sie in Israel oder in der Diaspora spielen, denn die Themen sind überall gleich: Es geht um den dringlichen Wunsch nach Nachwuchs, die Suche nach Identität, aber auch um tragische Verluste und nicht zuletzt um gut gehütete Familiengeheimnisse und deren Enthüllung.
Die Bilder stammen aus dem Projekt »One Family« von Vardi Kahana, die dafür ihre auf der ganzen Welt verstreuten Verwandten fotografiert hat.
Mit Beiträgen von Alfred Bodenheimer, Jennifer Bligh, Ellen Presser, Patricia Paveletz, Susanne Urban und vielen anderen.
Was, wenn überhaupt etwas, ist an der Untersuchung der jüdischen Familie besonders? Auf diese Frage gibt es ein paar gute Antworten. Erstens waren Juden und die von ihnen hinterlassenen Dokumente nicht nur Teil der Welten, in denen sie lebten, sondern häufig erlaubten diese auch einen eingehenden Blick auf sie: Selbst wenn die in diesen Dokumenten hervortretenden Menschen bezeichnend für ihre Zeit und ihren Ort sind, so können wir dieses Bild oft doch nur wahrnehmen, weil die Texte geschrieben wurden, um jüdische Identität und Gemeinschaft zu erhalten, und weil die Texte wegen der ausgeprägten jüdischen Wertschätzung des Lernens und der Schriftlichkeit überliefert wurden. Zweitens fasziniert und lohnt die Beschäftigung mit Juden nicht nur, wenn es darum geht, worin sie sich von anderen unterscheiden, sondern auch, weil sie es in ganz unterschiedlichen Umgebungen geschafft haben, wie Juden aus anderen Zeiten und Orten zu sein, und zugleich wie die Nicht-Juden ihrer eigenen Zeiten und Orte.
Shaya Cohen, Professorin in Harvard, mutmaßt, das römische Recht habe ein charakteristisches Merkmal jüdischer Familienstrukturen beeinflusst: die Weitergabe des Judentums durch die Mutter, nicht durch den Vater. Einerseits scheint diese Regel im Judentum selbstverständlich, andererseits war sie nicht immer Bestandteil der jüdischen Gesellschaft, wie Cohen feststellt. Sie findet sich auch nicht in der Bibel, denn dort werden mehrere israelitische Män15ner erwähnt, die »fremde« Frauen heiraten, ohne dass ihre Kinder aus der jüdischen Familie ausgeschlossen werden.
Cohen vertritt die Auffassung, die Feststellung der jüdischen Zugehörigkeit über die Mutter leite sich aus der Mischna ab. Der Autor findet eindeutige Beweise für den Einfluss der entsprechenden römischen Rechtsvorschriften und auch für eine mögliche Erweiterung biblischer Gebote, die die Vermischung unterschiedlicher Klassen von Tieren und Pflanzen untersagen. »Warum also haben die Rabbiner mit der vorher üblichen [also biblischen und späteren] Praxis gebrochen? Ich weiß es nicht.«1 Cohen zufolge könnte der Grund vielleicht eher in intellektuellen Klassifizierungsübungen der Rabbiner als in den gesellschaftlichen Erfordernissen jener Zeit liegen.
Allerdings sollte man sich die Rabbiner nicht als reine und über jeden sozialen Zwang erhabene Intellektuelle vorstellen. In The Culture of the Babylonian Talmud entwirft Jeffrey Rubenstein ein Bild dieser heute nicht mehr namentlich bekannten Gelehrten, zu deren Zeit der endgültige Text des Talmud festgelegt wurde. Er betont die erstaunlich enge Verbindung zwischen der Autorität, wenn es um die Torah geht, und den Erhabenen, speziell denen von priesterlicher Herkunft. Laut Rubenstein hatte die große Bedeutung der »guten Abstammung« als Qualifikation der führenden Gelehrten viel mit der Judenheit in der babylonischen Diaspora zu tun: »Seit ihren ersten Anfängen scheint die jüdische Gemeinde in Babylon eifersüchtig über ihre Abstammung gewacht zu haben, um die Assimilation mit der größeren Gesellschaft zu verhindern.«2 Offensichtlich reichte es in dieser Welt nicht aus, wen man »jüdisch heiratete«, es empfahl sich außerdem, Ehen mit den »richtigen Familien« zu arrangieren. Rubenstein vermutet allerdings, dass die große Bedeutung für die Abstammung auch »den Wert des ed16len Blutes in der persischen Kultur« ausdrückte.3 Diese beiden Behauptungen - dass das jüdische Interesse an einer guten Genealogie im tiefen Wunsch begründet sei, die Trennung der jüdischen Gemeinde aufrechtzuerhalten, und dass es den Werten der nicht-jüdischen Umwelt entspreche - mögen logisch widersprüchlich erscheinen. Aber in der realen Welt erscheinen beide in ihrer Bedeutung völlig plausibel.
Die im Talmud bestehende Spannung zwischen der verdienstvollen Abstammung und dem durch Torah-Gelehrsamkeit errungenen individuellen Verdienst bildet sich in dem komplexen Begriff yikhes oder »Verbindung« ab, womit gesellschaftliche Unterschiede und Heiratsaussichten bei den Juden im Osteuropa der frühen Moderne gesteuert wurden.4 In seiner Grundbedeutung bezieht er sich auf das Prestige, das einem Individuum dank der Vorfahren auf beiden Seiten zuwächst. Gleichzeitig geht es um die persönlichen Verdienste und Fehler des Einzelnen, denn yikhes konnten sich durch mangelnde Gelehrsamkeit oder Charakterschwächen verringern, durch Erfolge beim Studieren oder im Geschäftsleben vermehren. Auch ererbtes oder verdientes Geld war hilfreich.
Wo waren die Frauen jüdischer Familien in diesen Jahrhunderten? In letzter Zeit wurden zahlreiche Quellen zitiert, um ihre Präsenz zu belegen. Eine ausnehmend beliebte Quelle waren lange Zeit Die Memoiren der Glückel von Hameln. Glückel lebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Norddeutschland und berichtet ausführlich über ihre geschäftliche und familiäre Situation. Sie ist von tiefer jüdischer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit durchdrungen, dabei aber auch eine nordeuropäische Frau ihrer Zeit. In welchem Maß sie mit ihrer Mischung aus geschäftlichen und häuslichen Rollen ein typisches jüdisches Familien17modell verkörpert oder aber die Gebräuche des Kaufmannsstandes ihrer Zeit und ihrer Stadt widerspiegelt, ist nicht klar auszumachen.
Glückel bekam zahlreiche Kinder, nicht alle überlebten. Nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes begann sie mit den Aufzeichnungen. Sie führte den ausgedehnten Handel der Familie weiter, um dem geschäftlichen Ruin zu entgehen und nicht von ihren Kindern abhängig zu werden. Glückel sah ihre Kinder eher nüchtern und betrachtete sie auch nicht als ihr Lebensziel. Während ihrer Witwenschaft dachte sie darüber nach, ob sie sich den Traum frommer alter Juden erfüllen und nach Zion heimkehren sollte. Glückel überschätzte ihre Kinder und deren Begabungen nicht. Und mit den Protestanten ihrer Zeit teilte sie die Einstellung, allzu große Trauer, selbst um den Tod eines kleinen Kindes, sei eine Sünde.
In Glückels Kreisen war die Ehe ganz eindeutig durch Geschäftsinteressen bestimmt. Und doch liebte sie ihren Mann tief, sie bewunderte ihn und unterstützte ihn bei wichtigen Entscheidungen. Der finanzielle Beitrag beider Elternpaare zu den Eheschließungen der Kinder wurde genauestens ausgehandelt. Glückels Sohn Nathan sollte die »Tochter des reichen Samuel Oppenheimer« heiraten, aber wegen schlechten Wetters ließ die Mitgift der Oppenheimers auf sich warten, und Nathans Eltern glaubten, Oppenheimer sei von dem Vertrag zurückgetreten. Verlobungen wurden schon im Kindesalter arrangiert - wie Glückel selbst wurde auch ihre älteste Tochter Zipporah kurz vor ihrem zwölften Geburtstag verlobt -, passende Partien, bei denen große Besitztümer überschrieben wurden. Etwa eineinhalb Jahre nach der Verlobung wurde Zipporahs Hochzeit mit einem reichen Juden in der holländischen Stadt Cleves gefeiert, dem Hörensagen nach ein riesiges Fest.18
In diesem kurzen Überblick über Glückels Erinnerungen habe ich den Unterschied zu den vermeintlich modernen bürgerlich-westlichen Normen der weiblichen Häuslichkeit und der romantischen Liebe hervorgehoben, aber auch meinen Zweifel daran, ob dieser Unterschied nur daran liegt, dass sie eine jüdische Frau war. Mein Bruder Daniel Boyarin, Talmudprofessor in Berkeley, hat eine ähnliche Frage zur Männlichkeit jüdischer Väter gestellt. Auf den ersten Seiten seines Buchs Unheroic Conduct: The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Male lehnt er es mit Nachdruck ab, ein unwandelbares oder grundlegendes Muster jüdischer Geschlechtsbeziehungen aufzuzeigen. Er bringt jedoch das Argument vor, die Struktur des jüdischen Genders hebe sich vom dominanten europäischen Modell ab. Darüber hinaus koexistiere die männliche Dominanz in der jüdischen Kultur zumindest örtlich und zeitlich begrenzt mit einer Gestaltung der männlich-weiblichen Unterschiede, die von der der umgebenden Gesellschaft deutlich abweiche. Daniel bezieht sich auf Glückels Beschreibung ihres geliebten und nun verstorbenen Mannes: »In ihrer Schilderung des jungen Ehemannes als idealer jüdischer Mann ihrer Zeit betont sie seine Innerlichkeit, Frömmigkeit und besonders seine >Sanftmut<.« In dem Maße, wie der Druck auf die modernen europäischen Juden zunahm, sich den nationalen und bourgeoisen Standards anzupassen, wurde dieses alternative männlich-jüdische Ideal zunehmend als anormal oder neurotisch angegriffen.
Wie sieht es mit der jüdischen Familie in der Gegenwart und der näheren Zukunft aus? Die Sorge um »jüdische Kontinuität« mag zur Idealisierung einer Vergangenheit mit einer angeblich unkomplizierten Identität geführt haben, aber ein genauerer Blick auf die Aufzeichnungen früherer Generationen zeigt uns, dass auch sie häufig - irgendwo - weiter19machen mussten, selbst wenn sie sich ihrer Ursprünge nicht sicher waren.
Als ich vor einigen Jahren in Cleveland bei Cousins, ich nenne sie Gabriel und Dina, meiner Frau übernachtete, erlebte ich, wie lebendig und produktiv dieser Impuls sein kann. Sie lebten in einem Viertel mit großen Synagogen, Schulen und anderen Einrichtungen der jüdischen Gemeinde. Gabriel und Dina unterrichteten in der modernen orthodoxen Schule des Viertels, die der religiös-zionistischen Misrachimbewegung nahestand. Auch ihre fünf Kinder besuchten diese Schule. In Wohnzimmer und Esszimmer gab es Regale mit gelehrten...
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