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Eliza May Drayden ist bereits tot, als der Roman 1847 im englischen Yorkshire beginnt. Sie wuchs mit ihren Schwestern in einem einsamen Pfarrhaus in dem kleinen Dorf Bridge Fowling auf, wo sie vor dem wütenden Tod, der nach und nach ihre Familie dahingerafft hat, in eine Fantasiewelt flüchtete. Das Ergebnis: der so verstörende wie faszinierende Roman Haegar Mass - Effekthascherei, urteilen die Zeitgenossen, ein Meisterwerk, schwärmt die Nachwelt. Mit den Jahren wächst ihr Ruhm, ebenso wie das Mysterium der Drayden-Schwestern - zumal sich eines Tages herausstellt, dass der Sarg der großen Schriftstellerin, zu dem jährlich Tausende Literaturliebhaber pilgern, leer ist. Über das Leben Elizas ist wenig bekannt, die Todesumstände sind geheimnisumwittert, und neben ihrem Roman hat sie nur ein Notizbuch mit undurchsichtigen Zeichnungen, Gedichten und Tabellen hinterlassen. Wir lernen Eliza durch die Leben von Menschen kennen, die alle auf die eine oder andere Weise mit ihr zusammenhängen, und in Auszügen aus Biografien und Zeitungsartikeln, die die großen Rätsel zu lösen suchen.
Inspiriert vom Leben und Werk der britischen Schriftstellerin Emily Brontë schafft Anjet Daanje ein kaleidoskopisches Meisterwerk über die ewige Suche des Menschen nach Stabilität und Sinn - und inszeniert dabei ein packendes literarisches Verwirrspiel.
Der 12. Dezember 1847 ist der Tag, der das Leben von Susan Knowles bestimmt, sie ist da schon um die sechzig, und vier Jahre später stirbt sie. Im Laufe ihres Lebens gibt es viele Tage, auf die sie sich freut, die sich im Vorhinein und auch, wenn sie herangerückt sind, mit Bedeutung füllen, aber im Nachhinein ihre Verheißung nicht einlösen können. Doch als nun jener 12. Dezember im Jahre unseres Herrn 1847 anbrach, schien es ein ganz gewöhnlicher Wintertag zu sein, der in Finsternis begann und in Finsternis und Kälte endete, ein Nordwind bläst, der körnigen Schnee in seinem Atem mitführt und die Straßen von Bridge Fowling während der Dämmerung fröstelig weiß färbt. Nur kurz verraten Susans Fußspuren, wohin sie gegangen ist, rechts in die Church Street, steil hinauf am Friedhof vorbei, aber schon zu der Zeit, als sie leise den Platz vor dem Pfarrhaus betritt, könnte anhand ihrer Spuren niemand mehr erkennen, zu welcher armen Seele die Abgesandte des Todes geeilt ist.
Die Einheimischen verabscheuen ihre Arbeit, wo sie auch hinkommt, schwimmt Trauer wie Treibholz in ihrem Kielwasser, doch wenn die Zeit gekommen ist, rufen viele sie zu Hilfe, das ist ein offenes Geheimnis. Wie sie alle wissen, dass die meisten Menschen, selbst die gläubigsten, nicht hinübergleiten ohne Angst oder körperliche Erniedrigungen, obwohl sie sich in Behauptungen ergehen, wie ruhig sich der Verstorbene dem Willen Gottes gefügt habe und wie friedlich, wie tröstlich es gewesen sei, so weiß jeder im Ort auch, dass viele Frauen nach Wochen, manchmal sogar Jahren der Pflege eines Familienangehörigen diese allerletzte Obliegenheit vor lauter Kummer nicht mehr auf sich nehmen können, oder sie wagen es nicht, wollen es nicht, wissen nicht, was sie tun sollen. Susan lehrt sie die ehrerbietigen Rituale, die praktischen Handgriffe, und selbst dann, wenn sie nach dem ersten Mal die Gebräuche kennen, legen sie die Ausführung doch lieber in ihre Hände. Sie kommt heimlich, geht heimlich, an der Hintertür drücken ihr die Wohlhabenden ein paar Shilling in die Hand, die Armen ein paar Pennys, niemand braucht davon zu wissen, manchmal nicht einmal die Familie, der eigene Ehemann.
Ihre Mutter hat es ihr beigebracht, als ihre liebe, kleine Susey starb, gerade vier Jahre alt war sie, als sie dem Scharlach erlag. Das Schrecklichste an dem ganzen Ritual war für Susan die nasse Watte, die sie ihrem Töchterchen auf die Augenlider hatte legen müssen, denn noch Stunden, nachdem Susey ihre Augen zum letzten Mal geschlossen hatte, hatte Susan immer wieder den Eindruck, sie würde sie wieder öffnen wollen, um mit ihrem hilflosen, sanften, braunen Blick nach der Mama Ausschau zu halten. Und auch das Tuch, mit dem Susan die Kiefer zusammengebunden hatte, ehe die Leichenstarre einsetzte, war schrecklich, als würde sie ihr endgültig den Mund zuschnüren. Aber Susans Mutter erklärte ihr, dass sie Susey aus Liebe und Respekt so gut wie möglich auf das ewige Leben vorbereiten müssten. Die Gebete, die sie sprachen, das Waschen, das saubere Nachthemd, das Bürsten ihres kurz geschnittenen Haars, die gefalteten Hände, alles musste vollkommen sein für die, die sie noch ein letztes Mal sehen wollten, und auch für Susey selbst, die ihrem Schöpfer bald in Würde entgegenträte, um als kleiner Engel in den Himmel eingelassen zu werden. Es ist wie bei einer Hochzeit, sagte Susans Mutter, da putzt du dir auch die Ohren und wäschst dich zwischen den Beinen, ziehst deine besten Kleider an, sprichst feierliche Worte, und dann beginnst du ein neues Leben. Susan hatte das nie vergessen, ein Hochzeitsfest, so versuchte sie es zu sehen, während es für andere einfach nur der Tod war.
Nach Suseys Hinscheiden breitete sich Düsternis über Susans Leben, sie erwachte im Schatten des Todes und legte sich in ihm zur Ruhe, jeden Tag aufs Neue, wie ein nicht enden wollender Gang von Bett zu Bett. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie über das symbolische Schwarz der Trauer nachgedacht, über die Weisheit von Pfarrer Draydens biblischen Worten, über den Trost, der von einem Familiengrab ausging, das wie ein sorgfältig gemachtes Bett war, in das sie eines Tages selbst hineinkriechen konnte, um Susey in den Schlaf zu wiegen. Als Stütze diente ihr vor allem der Gedanke, dass all diese Rituale im Laufe der Jahrhunderte gediehen waren, weil Millionen von Menschen ihr in der Trauer vorangegangen waren und festgestellt hatten, dass es eben diese Verrichtungen waren, die für Erleichterung sorgten. Das Grab von Susey konnte man aufsuchen, die Locke von Suseys blondem Haar war zum Anfassen da und um an die Zeit zu erinnern, als es noch nicht wegen des Fiebers kurz geschnitten war, und die Predigt, die Psalmen und Gebete gab es, damit sie gehört, gesungen und geflüstert werden konnten. Wie eine Beschwörung näherten sich die sorgfältig gewählten Worte dem Rand des Dunkels, wo der Lichtkreis des Lebens die Toten berührte, ihre Zehen kitzelte, ihren Scheitel streichelte, mehr nicht, sodass sie wussten, dass ihrer gedacht wurde, aber sie nicht erwachten. Und deshalb ging Susan am Sonntag, allein am Sonntag, mit dem friedlichen Gefühl zu Bett, dass sie da oben bei Susey gewesen war, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben und sie warm zuzudecken, und dass sie schlafen würden, sie und Susey.
Am liebsten würde Susan die leibhaftige Erscheinung des Todes vergessen, aber gerade das Bild von Suseys aufgebahrtem Körper war ihr am lebendigsten in Erinnerung geblieben. Dieses unnatürlich blasse Gesicht, die Züge erstarrt zu einem Ausdruck irgendwo zwischen Ergebenheit und Erstaunen, die Hände rechtschaffen fromm auf der Brust gefaltet, und kalt war sie, jedes Mal, wenn Susan sich nicht hatte zurückhalten können, nach den kleinen Fingern zu greifen oder die Wange zu küssen, ließ das Steife, Kalte, das sie berührte, sie zurückschrecken, es war wie gestärkte Laken im Winter. Sie sprach darüber mit Pfarrer Drayden, der sagte, dass es sehr menschlich sei, gerade ein solch schockierendes Erlebnis im Gedächtnis zu bewahren. Wenn du lernst, den Tod als einen unverzichtbaren Teil des Lebens anzusehen, sagte er, werden deine Erinnerungen an die lebendige Susey zurückkehren.
Susan wusste nicht, was sie mit diesem Ratschlag anfangen sollte, sie war sich jetzt mehr denn je bewusst, dass jeder Mensch sterben würde, aber was sie darüber hinaus noch verstehen musste, um Susey wiederzufinden, war ihr nicht klar. Sie wagte es nicht, Pfarrer Drayden noch einmal zu fragen, aber der spürte ihren anhaltenden Kummer. Und so geschah es, dass er am schrecklichsten Tag seines Lebens sein eigenes Leid beiseiteschob, zumindest für eine Weile, und sich um das ihre bekümmerte.
Pfarrer Robinson Drayden war mit Betty Stancliff verheiratet, die er während seines Studiums in Cambridge kennengelernt hatte. Er liebte sie sehr, viel zu sehr, tuschelte man in Bridge Fowling, denn sie wurde mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks schwanger, obwohl sie zart gebaut und von schwacher Gesundheit war. So hatte sie in sechs Jahren zwei Fehlgeburten und bekam vier Töchter, aber keinen einzigen Sohn, und bei der Geburt ihres fünften Kindes musste sogar Doktor Allsopp hinzugezogen werden. Mary Pickles, das Dienstmädchen der Pfarrei, war gegen Ende des Nachmittags aufgekreuzt, um ihn zu holen, Susan hatte die beiden eilig die Barley Street entlanglaufen sehen. Sie hatte für Betty gebetet und in den folgenden Stunden noch mehrmals an sie gedacht.
Mitten in der Nacht wurde sie durch Wummern an die Haustür geweckt, Joseph ging verschlafen und im Nachthemd die Treppe hinab, und einen Moment später rief er nach oben, dass es die Mary aus dem Pfarrhaus war, sie sei wegen Susan gekommen. Susan schlüpfte in ihr Kleid und eilte die Treppe hinab. Geht es Betty nicht gut, fragte sie, und Mary erzählte, dass das Baby falsch gelegen habe, mit den Füßen zum Ausgang, sagte sie. Doktor Allsopp hatte Pfarrer Drayden gefragt, wen von beiden er behalten wolle, Mutter oder Kind, und Pfarrer Drayden hatte, ohne zu zögern, seine Frau gewählt. Die aber hatte ihm diesen romantischen Beschluss untersagt, die Entbindung habe so lange gedauert und sei so schwer gewesen, hatte sie gesagt, dass sie sowieso in ein paar Tagen sterben würde, das bisschen Leben, das sie noch in sich habe, solle dem Baby vorbehalten bleiben. Die beiden Männer hatten keine andere Wahl, als ihren Wunsch zu respektieren. Mit großer Mühe gelang es Doktor Allsopp, das Baby zu drehen, und es wurde geboren, gesund und wohlauf, ein wahres Wunder, und wieder war es ein Mädchen. Helen heißt sie, sagte Mary, aber über Betty schwieg sie.
Susan ging mit ihr durch das schlafende Dorf zum Pfarrhaus. Es war eine laue Augustnacht, der Himmel begann sich am Horizont bereits zartrosa und blau zu färben, und es roch feucht nach dem warmen Tag, der hinter den blühenden Hügeln in der Ferne schlummerte. Susan fragte Mary nicht, warum Pfarrer Drayden nach ihr geschickt hatte. Er saß am Tisch im Salon, den Kopf tief gesenkt, als sei er tonnenschwer von all den aufgestauten Tränen, aber er betete nicht, stellte Susan fest, als Mary sie eintreten ließ. Er sah zu ihr auf, sie erkannte diesen Blick, die Verwirrung, den Schmerz, so groß, dass er jedes andere Gefühl betäubte, und sie wusste, warum sie hier war. Sie ist oben, sagte er, zweite Tür links, würden Sie sie bitte herrichten. Bettys Familie lebte weit weg in Cambridge, seine eigene Mutter und seine Schwestern wohnten in der Nähe von Manchester, seine Töchter, zwischen sieben Jahren und zwei Stunden alt, waren viel zu klein, Mary hätte es...
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