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Wenn ich an Wien denke, überkommen mich Glücksgefühle, nicht mehr diese urwienerische Melange des Hin-und-hergerissen-Seins zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit, zwischen Bleibenwollen oder doch lieber Auswandern. Denn Wien hat sich unangefochten zu einer der coolsten Metropolen weltweit entwickelt. Besonders in Deutschland ist man verwundert: ein zweites Berlin, vielleicht sogar noch besser! Wie Kopenhagen! Umfassende Lebensqualität. Eine sagenhaft gute Lokalszene. Das Wiener Popmusikwunder. Woran liegt es, dass Wien kurzerhand alle überholt hat, dass es lebenswerter als München, genauso hip wie Berlin, fast so reich wie Hamburg, kulturell mindestens so bedeutend wie Paris und lebensfreundlicher als London erscheint und regelmäßig Bestplatzierungen auf allen Städteindexlisten erreicht - 2015 Platz 3 des Innovation Cities Index, nach London und gleichauf mit San Francisco und Boston! 2018 hat es Wien als erste europäische Stadt auf den ersten Platz des Global Liveability Index des Economist geschafft, 2019, 2022 und 2023 ebenfalls Platz 1. Und dann errang die Stadt 2020 am Earth Day auch noch den Titel »grünste Stadt der Welt«. Das gilt es zu analysieren. Was ist das Geheimnis Wiens?
Der Wandel, der die Stadt an der Donau seit einiger Zeit erfasst hat und sie so nachhaltig verändert, hat viel mit den demografischen Gegebenheiten zu tun und natürlich auch mit einer modernen, viel bewunderten Stadtplanung. Aber die Demografie Wiens kommt einem Paradigmenwechsel gleich: Wien wächst wieder, die Stadt gehört sogar zu den am schnellsten wachsenden Städten Europas. Berlin hat sie diesbezüglich längst überholt, vor ihr liege nur noch London, heißt es. Was daran so besonders sei, und warum sich aus derlei Zahlen gleich ein Paradigmenwechsel ergebe? Nun, ganz knapp gesagt: Wien findet durch das Wachstum zu sich selbst. Was damit gemeint ist und was das Geheimnis dieser in die Mitte Europas gerückten Stadt sonst noch ausmacht, das werde ich Ihnen zu zeigen versuchen.
»I lass mi verbrennen, da fliag i no amal als Rauch über Wien. Die Ehrenrunde is des für an ewigen Verlierer, die hab i ma wirklich verdient.« So beantwortete in den Achtzigerjahren der typische Wiener Melancholiker am Zentralfriedhof die Fragen des Multimediakünstlers André Heller. Heute würde der damalige Friedhofsbesucher, statt als Rauch über Wien nur eine Ehrenrunde zu drehen, vor lauter Staunen zu einem Reinkarnationssturzflug in seine Stadt ansetzen. Und er würde sich für sein Leben einen »Wiener Schluss« ausdenken, so wie einst Kaiser Joseph II., um seine Untertanen nicht zu deprimieren, anordnen ließ, dass die Protagonisten solch dramatischer Theaterstücke wie Romeo und Julia nicht sterben dürfen. Und dann würde sich der zu Rauch gewordene Verlierer zu einem begeisterten Fremdenführer wandeln und uns auf seinem Flug zurück in die Stadt mitnehmen. Ganz weit im Osten, in Transdanubien, würde er uns die neue Aspern City zeigen, innovativer Leuchtturm der Wiener Stadtentwicklungsprojekte. Dann über die glitzernden Hochhaustürme auf der Donau-Platte und über die UNO-City gleiten. Über den neofuturistischen Bibliotheksbau des neuen WU-Campus von Zaha Hadid in ungläubiges Staunen geraten - »So was hat's in Wien no nia geben« -, alsbald über das noch im Bau befindliche Nordbahnviertel - dort soll auf 85 Hektar Fläche bis 2025 eine Umweltmusterstadt mit viel Grün, smarten Verkehrskonzepten und nachhaltigem Wohnen entstehen -, dann südlich der Innenstadt über dem neuen Hauptbahnhof und dem ebenfalls neu aus dem Boden gestampften Sonnwendviertel kreisen, um schließlich neben der Marx Halle im äußeren 3. Bezirk zu landen. Im 19. Jahrhundert gehörte die erste Schmiedeeisenkonstruktion der Stadt zum riesigen städtischen Schlachthofviertel, jetzt wirbt das dort neu angesiedelte Kreativquartier mit seinem Mix aus Medien- und Biotech-Start-ups mit dem Slogan »Hier passiert Zukunft«.
Der Verlierer reibt sich die Augen. Hochhäuser, Start-up-Firmen, Stadtentwicklungsflächen wie in China. All das hat es zu seiner Zeit, in den grauen Achtzigerjahren, nun wirklich nicht gegeben (wobei zu diskutieren bleibt, wann die Stadt aufgehört hat, grau zu sein). Dass er ausgerechnet in St. Marx, vor einem Sakralbau der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, gelandet ist, hat indes etwas mit dem Paradigmenwechsel zu tun. Denn das, was heute für Wien gilt, galt auch damals. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die damalige Kaiserstadt durch den Bau der Ringstraße sprunghaft an, aus allen Ländern der K.-u.-k.-Monarchie strömten Bauarbeiter, Unternehmer, aber auch Bankiers und Großhändler nach Wien, das sich bis zum Ersten Weltkrieg zu einer der wohlhabendsten, modernsten und kulturell bedeutendsten Metropolen der Welt entwickelte. Eine zwei Millionen Einwohner zählende Stadt mit einer erklecklichen Anzahl an Millionären, bedeutenden Wissenschaftlern und den weltbesten Literaten, Künstlern und Komponisten. Die Bedeutung des Fin de Siècle Wiens war so überwältigend, dass selbst nach dem verlorenen Krieg, dem Zerbrechen des Vielvölkerstaates, dem kontinuierlichen Verlust an Stadtbevölkerung der Glanz der alten Kaiserstadt nachhallte. »Bis 1938 fuhr man aus Prag und Brünn und Budapest noch immer zu den Wiener Theaterpremieren, lagen in den Kaffeehäusern von Agram, Krakau und Czernowitz noch immer die Wiener Zeitungen aus, war Wien sozusagen eine in Liquidation befindliche Zentrale«, schrieb Friedrich Torberg 1968. Erst seit 1945, so der Autor der urwienerischen Tante Jolesch, sei der Niedergang dann perfekt gewesen. Wien, geschrumpft und seiner geistigen Wurzeln beraubt, war endgültig zu »einer Filiale seiner selbst« geworden. Und trotz Wiederaufbau und Wirtschaftswunderjahren blieb es bis in die Achtzigerjahre grau und traumatisiert, die licht- und fröhlichkeitsscheue Hauptstadt des kleinen Mannes.
Der Tiefpunkt des Bevölkerungsschwunds war erst 1987 (1,22 Mio.) erreicht, fast eine Million Einwohner hatte die Stadt seit ihrer Blüte um 1910 (2,1 Mio.) eingebüßt. Bieder geworden trotz feudaler Titelsucht, selbstmordgefährdet und abwanderungsselig trotz der internationalen Kunsterfolge der Wiener Aktionisten oder Sängern wie Falco, blieben der Stadt bloß ihre Walzerseligkeit, ein viel gepflegter und kunstfertiger Sinn fürs Morbide, die verstaubte Hochkultur, Lipizzaner-Figürchen und tröstende Mehlspeissortiments in traditionsreichen Kaffeehäusern, die dennoch der Reihe nach schließen mussten.
1976 begann mit der Besetzung des Jugendkulturzentrums Arena - eine verspätete Mischung aus Mai 1968 und Woodstock - zwar Wiens Gegenkulturbewegung, aber grundsätzlich änderte sich die Stadt erst 1989. Damals trat die östlichste Hauptstadt der westlichen Welt aus dem Windschatten des Eisernen Vorhangs heraus und wurde zum geistigen und ökonomischen Mittelpunkt der sich verändernden Länder Mittel- und Osteuropas. Dann kam 1995 der EU-Beitritt Österreichs und mit ihm die deutschen Studenten, gefolgt von den Balkankriegen, in denen sich flüchtende Serben, Kroaten, Bosnier und Kosovo-Albaner in die ehemalige k. u. k. Hauptstadt aufmachten und wie selbstverständlich an die alten Migrationsbewegungen anknüpften, die schon im 19. Jahrhundert zum Bevölkerungswachstum Wiens geführt hatten. Nicht zu vergessen natürlich die Türken, die, in den Sechzigerjahren wie in Deutschland als Gastarbeiter angeworben, längst in dritter Generation hier leben und weitere Türken nach sich zogen. In letzter Zeit gibt es auch einen starken Zuzug von Russen und seit dem Krieg auch von Ukrainern, die die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten an Zahlen längst übertreffen. Heute wächst Wien jährlich um die Größe einer Kleinstadt, schon im September 2023 (nach den neuesten Zahlen) wurde die magische Grenze von zwei Millionen wieder erreicht. Das Trauma von einst wird sich bald gänzlich in der Wiener Luft aufgelöst haben. In den Straßen und Cafés, den Künstlerateliers und Co-Working-Spaces der Start-up-Szene hört man schon jetzt die Sprachen der Welt, überwölbt freilich von Englisch, der Lingua franca des digitalen Zeitalters. Mit seinen rund 39 Prozent im Ausland geborener Mitmenschen ist Wien neben Brüssel eine der diversesten Millionenstädte ...
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