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Kohls Versprechen der blühenden Landschaften und die dahinterstehende Haltung, dass aus der Einheit kein neues gemeinsames Deutschland, sondern letztlich nur eine erweiterte Bundesrepublik entstünde, war eine den Einheitsprozess bis heute prägende Fehleinschätzung. Viele Deutsche aus der DDR hatten nach dem 3. Oktober 1990 das Gefühl, zu Deutschen zweiter Klasse zu werden. Die Bundesregierung konnte damals nicht aufhören zu siegen. Die Regierenden strahlten nicht nur eine gewisse Arroganz aus, sondern waren vor allem nicht bereit, sich die DDR genau anzuschauen und sinnvoll positive Seiten aus ihr im vereinten Deutschland zu bewahren. Die DDR wurde ausschließlich mit Mauertoten, Staatssicherheit und SED identifiziert. Aber es gab auch ein Leben in ihr, das nicht interessierte. Ich erinnere an den deutlich höheren Grad der Gleichstellung der Geschlechter im Vergleich zur alten Bundesrepublik. Man darf auch die Berufsausbildung mit Abitur, die Polikliniken und die Art und Weise der Müllentsorgung ins Gedächtnis rufen. Die BRD war damals eine Wegwerf-, die DDR eine Behaltegesellschaft. Hätte die Bundesregierung solche Seiten übernommen, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und nicht nach unten gedrückt worden. Wir hätten uns gesagt: Wir hatten zwar eine Diktatur, aber sechs Gegebenheiten waren so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten. Die Westdeutschen hätten erlebt, dass sich ihre Lebensqualität in diesen sechs Gebieten durch den Osten erhöhte. Das ist ihnen nicht gegönnt worden. All das hat Konsequenzen für das Denken und Fühlen in Ost und West bis heute.
Allerdings muss auch immer wieder betont werden, dass die Stadtzentren, die Kirchen und viele Wohnungen saniert wurden, was den Ostdeutschen und den Besucherinnen und Besuchern zugutekommt.
Ein Denken, dass der Osten einfach nur so werden müsste wie der Westen, ist Mario Czaja fremd. Wer wie er im Osten Berlins direkt kandidiert hat und mehrfach ins Abgeordnetenhaus und 2021 auch in den Bundestag gewählt wurde, hätte dies nicht geschafft, ohne ostdeutschen Biografien und Leistungen den Respekt entgegenzubringen, den sie verdienen. 2001 traten wir bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus gegeneinander an, und das war das letzte Mal, dass Mario Czaja seinen Wahlkreis nicht gewann. Geblieben aus dieser Zeit und den nachfolgenden nun schon über 20 Jahren ist bei ihm eine Haltung, die mit Unvereinbarkeitsbeschlüssen unter demokratischen Konkurrenten nichts anfangen kann. Dies umso mehr, wenn die Demokratie sowie Demokratinnen und Demokraten direkt und handgreiflich bedroht werden. Letztlich nimmt er damit den urdemokratischen Impuls der Wendezeit in der DDR wieder auf und stellt an uns die Frage, ob und wie man nicht gerade die Erfahrungen des friedlichen Umbruchs 1989/90 heute zum Tragen bringen könnte und müsste.
Denn die Friedlichkeit damals hatte zwei Seiten: "keine Gewalt" durch Demonstrierende und der Verzicht darauf bei den Soldaten, bei der Polizei, nicht gleich, aber ab dem 9. Oktober 1989. Es ist eine beachtliche Leistung, dass während des Umbruchs kein einziger Schuss fiel, von keinem aus den sogenannten bewaffneten Organen der DDR (Polizei, Armee, Zoll, Staatssicherheit, Kampfgruppen). Beides ist zu würdigen, nicht das Schwarz-Weiß, sondern das große Dazwischen bestimmt den Lauf der Geschichte.
Der Prozess des Machtwechsels war einzigartig, geschah in äußerst strittigem Dialog und ohne rigorose Konsequenzen für die alten Machthaber in der DDR. Manchen erscheint das inkonsequent, aber aus meiner Sicht zeigte sich gerade darin eine demokratische Kraft und Reife, die zugleich dafür sorgte, dass der Alltag für die Menschen weiterlief. Diese Kraft und Reife wären wieder bitter nötig, um die heutigen Gefahren für die Demokratie zu bannen.
Die Lohnlücke zwischen Ost und West besteht nach wie vor - 20 Prozent verdient man im Osten durchschnittlich weniger als im Westen. Das gilt auch für ungleiche Arbeitszeit, im Osten wird für geringeren Lohn länger gearbeitet. Für die gleiche Lebensleistung gibt es nach wie vor keine gleiche Rente. Erst seit dem vergangenen Jahr, 33 Jahre nach Herstellung der Einheit, sind die Rentenwerte nominell angeglichen, aber die geringeren Löhne aus der Vorzeit und jetzt drücken auch die Einzahlungen in die Rentenkasse, sodass Ostdeutsche auch in 33 Jahren noch niedrigere Renten haben werden als Westdeutsche bei vergleichbaren Erwerbsbiografien. Und die Ungleichbehandlung in vielen Berufsgruppen, zum Beispiel bei Polizistinnen und Polizisten, Ingenieurinnen und Ingenieuren bis zu mithelfenden Angehörigen privater Handwerkerinnen und Handwerker aus der DDR, soll bleiben.
Bemerkenswert ist, dass es praktisch keine Änderung gibt seit über 30 Jahren. Der Lohnabstand zwischen West und Ost wird nicht kleiner. Das ist schlicht und einfach skandalös. Seit 1995, als in den westdeutschen Unternehmen die 35-Stunden-Woche erkämpft wurde, musste ein Metaller im Osten 4000 Stunden länger arbeiten - das sind zwei Arbeitsjahre. Die Gewerkschaften taten zu wenig. Dass es so ist, liegt aber auch daran, dass sich die Bundesregierung nie für eine wirkliche Einheit energisch einsetzte und sich die Ostdeutschen zu wenig wehrten. Jeder kleine Schritt musste der Bundesregierung abgerungen werden. Angela Merkel, der Kanzlerin aus dem Osten, war der Osten leider auch nicht wichtig genug.
Es zeigt sich auch daran, dass nur zwei von 35 beamteten Staatssekretärinnen und Staatssekretären in den Bundesministerien der Ampelkoalition und nur elf von 135 Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern aus dem Osten kommen. Insgesamt sind nur 13,9 Prozent der Führungspositionen in 94 Bundesbehörden, vier Verfassungsorganen und fünf Bundesgerichten mit Ostdeutschen besetzt. Nimmt man nur die ostdeutschen Flächenländer, sind es sogar nur 7,4 Prozent bei einem deutlich größeren Anteil an der Bevölkerung. Das ist grundgesetzwidrig, denn in der Verfassung werden nicht nur gleiche Lebensverhältnisse, sondern auch eine angemessene Beteiligung sämtlicher Bundesländer auf der Leitungsebene des Staates gefordert.
Dass man dies ändern müsste, war in der Führung der Christdemokratie durchaus nicht wenigen klar. Wolfgang Schäuble hat es in seiner am 19. Februar 2020 in Erfurt gehaltenen Ringvorlesung "Die Einheit, die uns trennt? 30 Jahre vereintes Deutschland" mehr als nur indirekt anklingen lassen. Doch die Kraft dazu fehlte der Union, was auch eine Ursache dafür war, dass sie nach 16 Jahren das Kanzleramt verlor. Mario Czaja plädiert in seinem Buch nun dafür, trotz wieder günstigerer Wahlaussichten seiner Partei die Entwicklung im Osten, das Verhältnis von demokratischen Parteien auch und gerade in der Auseinandersetzung mit den die Demokratie bedrohenden Kräften sowie die soziale Frage nicht aus den Augen zu verlieren. Dass er mit dieser Haltung bei seinem aktuellen Parteivorsitzenden nicht unbedingt offene Türen einrennt, scheint offenkundig. Es kann aber erwartet werden, dass Friedrich Merz sich nach den Landtagswahlen im Osten im Frühherbst diesen Herausforderungen wird stellen müssen, wenn er im nächsten Jahr Kanzler werden will.
Dass bei Löhnen und Renten zwischen Ost und West endlich Augenhöhe hergestellt werden muss, ist auch eine Frage des Respekts und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Den Ostdeutschen und dem Osten wurde seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelt. Die reale und gefühlte Benachteiligung wurde auch auf die Generationen übertragen, für die die Wende ebenso wie der Mauerfall Ereignisse aus Geschichtsbüchern sind, die sie sich kaum vorstellen können. Dennoch erleben sie selbst und in ihren Familien, worauf sich das Gefühl, benachteiligte Menschen zu sein, gründet. Dies verschwindet erst dann, wenn es keine konkreten Benachteiligungserfahrungen mehr gibt, deutlich mehr für Arbeitsplätze und Jugend im Osten getan wird und das Potenzial, das im Osten aus dem Umgang mit einem Epochenumbruch erwachsen ist, endlich für die Bewältigung der aktuellen Krisen in Gesellschaft und Wirtschaft genutzt wird. Investitionen wie die von Tesla oder Intel machen deutlich, dass internationale Konzerne dieses Potenzial offenbar eher erkennen, als die (west)deutsche Wirtschaft es vermag - und die Politik es unzureichend fördert. Die von Union und FDP Anfang der 2010er Jahre maßgeblich dem Ausverkauf preisgegebene Solarindustrie war vor allem im Osten beheimatet. Dass sich dieser Prozess heute und erneut vornehmlich im Osten wiederholt, weil Union und FDP meinen, die Schuldenbremse habe Vorrang vor der Entwicklung einheimischer Forschungs- und Produktionskapazitäten für eine Kerntechnologie der Energiewende, verstärkt das Gefühl, dass der Osten einfach nicht wichtig genug genommen wird.
Das Potenzial des Ostens aktiv für das ganze Land zu nutzen, wäre auch eine Voraussetzung dafür, rechtsextremen Kräften das Wasser abzugraben, die aus den politischen Enttäuschungen und sozialen Abstiegsängsten im Osten Kapital zu schlagen suchen. Denn machen wir uns nichts vor. Die Enttäuschungen haben sich über 30 Jahre lang ins ostdeutsche Bewusstsein eingegraben und korrespondieren mit dem zur Wendezeit Erlebten. Dies wird sich nicht von heute auf morgen mit ein paar Milliarden für die Investitionsförderung verändern lassen, sondern nur mit einer langfristig angelegten Politik, die gesellschaftlichen Krisen, noch dazu, wenn sie existenzieller Natur sind, strikt in sozialer Verantwortung...
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