Ausbruch
2. April 1865
Richmond, Virginia
Sie schien über dem geisterhaften Abendnebel zu schweben wie ein bedrohliches Ungeheuer, das sich aus dem Dunkel des Urwalds erhebt. Schwarz und geheimnisvoll hob sich ihre niedrige Silhouette gegen die Baumreihe am Ufer ab. Schattenhafte, phantomartige Gestalten bewegten sich im schwachen, gelben Licht der Laternen, während die Feuchtigkeit an den grauen aufragenden Flanken kondensierte und in die trägen Fluten des James River sickerte.
Ungeduldig wie ein Hund, der darauf lauert, dass ihm zur Jagd die Leine abgenommen wird, zerrte die Texas an ihrer Vertäuung. Ihre Geschützpforten waren mit schweren eisernen Klappen verschlossen, und die zehn Zentimeter dicke Armierung ihres Panzerdecks wies keinerlei Beschädigungen auf. Allein die weißrote Kriegsflagge oben am Mast hinter dem Schornstein, die reglos in der feuchten Luft hing, zeigte, dass es sich um ein Kriegsschiff der konföderierten Flotte handelte.
In den Augen der Landratten wirkte sie plump und hässlich, doch für Seeleute besaß sie ganz unverkennbar Charakter und eine gewisse Grazie. Die Texas war leistungsfähig, sie war tödlich; das letzte Exemplar einer Baureihe, die nach einer kurzen Phase anhaltender Siege jetzt zum Untergang verurteilt war.
Commander Mason Tombs stand auf dem Vorderdeck und zog ein blaues Tuch aus der Hosentasche, um sich den Schweiß, der sich unter seinem Uniformkragen gesammelt hatte, abzutupfen. Das Aufnehmen der Ladung verlief zu langsam, viel zu langsam. Die Texas würde für ihr Entkommen aufs offene Meer jede einzelne Minute der Dunkelheit benötigen. Ungeduldig beobachtete er seine Mannschaft, die unter Fluchen die Holzkisten über die Gangway und dann weiter durch eine offene Luke unter Deck wuchtete. Dafür, dass die Kisten Akten einer Regierung enthielten, die nur vier Jahre lang im Amt gewesen war, schienen sie außergewöhnlich schwer zu sein. Sie stammten von den von Mulis gezogenen Wagen, die in der Nähe des Docks standen und von den abgekämpften Überlebenden einer Infanteriekompanie aus Georgia streng bewacht wurden.
Tombs warf einen beunruhigten Blick nach Richmond hinüber, das nur zwei Meilen entfernt im Norden lag. Grant hatte Lees verbissene Verteidigung von Petersburg durchbrochen, und jetzt zog sich die angeschlagene Armee der Südstaaten auf Appomattox zurück und überließ die Hauptstadt der Konföderierten schutzlos dem Ansturm der Truppen der Union. Die Evakuierung war angelaufen, und in der Stadt herrschte eine heillose Verwirrung. Ein tobender und plündernder Mob füllte die Straßen. Explosionen ließen die Erde erbeben, und Flammen schossen hoch in die Nacht, als die mit Nachschub gefüllten Lagerhäuser und Arsenale in die Luft gejagt wurden.
Tombs war ehrgeizig und energisch, einer der herausragendsten Seeoffiziere der Konföderierten. Er war klein gewachsen, gut aussehend, hatte braunes Haar, dunkle Augenbrauen und einen mächtigen roten Bart. Seine olivschwarzen Augen blickten eiskalt.
Als Kommandant auf kleinen Kanonenbooten hatte sich Tombs in den Kämpfen vor New Orleans und Memphis als ernsthafte Bedrohung für die Sache des Nordens erwiesen. Danach kam er als Artillerieoffizier auf die Arkansas und später als Erster Offizier auf die Florida, ein berüchtigtes Kaperschiff. Das Kommando über die Texas hatte er eine Woche nach ihrem Stapellauf in der Rockettswerft in Richmond übernommen. In der Folgezeit regte er eine Reihe von Verbesserungen an und beaufsichtigte die Umbauarbeiten, die vor der kaum zu bewältigenden Reise flussabwärts, vorbei an tausenden Kanonen des Nordens, notwendig waren.
Der letzte Wagen entfernte sich jetzt vom Dock und verschwand in der Nacht; Tombs wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Ladevorgang zu. Er zog seine Uhr aus der Tasche, ließ den Deckel aufspringen und hielt das Zifferblatt ins Licht einer Laterne, die an einem Pfahl hing.
Es war zwanzig nach acht. Kaum acht Stunden blieben bis zum Sonnenaufgang. Das reichte nicht, um die letzten zwanzig Meilen des Spießrutenlaufs im Schutz der Dunkelheit zurücklegen zu können.
Ein offener Zweispänner, der von zwei scheckigen Pferden gezogen wurde, rollte heran und hielt neben dem Dock. Der Kutscher blieb stocksteif, und ohne sich umzudrehen sitzen, während seine beiden Passagiere zusahen, wie die letzten paar Kisten in den Laderaum gehievt wurden. Der dickere von beiden, der Zivil trug, ließ erschöpft die Schultern hängen, während der andere, in der Uniform eines Seeoffiziers, Tombs erspähte und ihm zuwinkte.
Tombs stieg über die Planke auf das Dock, lief auf dem Kai zum Zweispänner hinüber und salutierte zackig. »Es ist mir eine Ehre, Admiral, Herr Minister. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass von Ihnen jemand die Zeit zum Abschiednehmen finden würde.«
Admiral Raphael Semmes, der als Kommandant des konföderierten Kaperers Alabama wahre Ruhmestaten vollbracht und inzwischen das Kommando über die Flottille gepanzerter Kanonenboote auf dem James River innehatte, nickte und lächelte. Unter dem gewachsten Schnurrbart schob sich dabei der kleine Spitzbart unter der Unterlippe nach vorn. »Selbst ein Regiment Yankees hätte mich nicht davon abhalten können, Ihnen Lebewohl zu sagen.«
Stephen Mallory, Marineminister der Konföderierten, streckte die Hand aus. »Von Ihnen hängt zu viel ab, als dass wir uns nicht die Zeit nehmen würden, Ihnen Glück zu wünschen.«
»Ich habe ein starkes Schiff und eine tapfere Mannschaft«, erwiderte Tombs voller Selbstvertrauen. »Wir werden den Durchbruch schaffen.«
Semmes' Lächeln verschwand, und seine Augen spiegelten eine böse Vorahnung wider. »Sollte Ihnen das nicht gelingen, müssen Sie das Schiff in Brand stecken und an der tiefsten Stelle des Flusses versenken. Auf gar keinen Fall darf es für die Union möglich sein, unsere Archive zu bergen.«
»Die Sprengladungen sind angebracht und scharf gemacht«, versicherte Tombs. »Der Schiffsboden wird weggesprengt, und die beschwerten Kisten versinken im Schlamm des Flusses, während das Schiff unter Volldampf noch eine gute Strecke zurücklegen wird, bevor es untergeht.«
Mallory nickte. »Ein guter Plan.«
Die beiden Männer im Zweispänner tauschten einen Blick aus. Nach einem Moment des Zögerns sagte Semmes: »Tut mir leid, dass ich Ihnen im letzten Augenblick eine weitere Aufgabe übertragen muss. Sie werden noch die Verantwortung für einen Passagier übernehmen müssen.«
»Einen Passagier?«, knurrte Tombs. »Hoffentlich niemand, der am Leben hängt.«
»Ihm bleibt keine andere Wahl«, murmelte Mallory.
»Wo ist er denn?«, erkundigte sich Tombs und sah sich auf dem Kai um. »Wir wollen jeden Augenblick ablegen.«
»Er wird bald eintreffen«, erwiderte Semmes.
»Darf ich fragen, um wen es sich handelt?«
»Sie werden ihn auf Anhieb erkennen«, sagte Mallory. »Und beten Sie, dass auch der Feind ihn erkennt, falls das nötig sein sollte.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Zum ersten Mal lächelte Mallory. »Das werden Sie schon begreifen, mein Junge. Ganz bestimmt.«
»Da gibt es noch etwas, das Sie wissen sollten«, wechselte Semmes das Thema. »Meine Spione haben berichtet, dass die Atlanta, eines unserer Kanonenboote, das im vergangenen Jahr den Panzerschiffen der Union in die Hände gefallen ist, jetzt bei der Marine der Nordstaaten Dienst tut und auf dem Fluss oberhalb von Newport News patrouilliert.«
Tombs strahlte. »Ja, verstehe. Die Texas hat ungefähr die gleichen Konturen und ganz ähnliche Abmessungen, sodass sie in der Dunkelheit gut mit der Atlanta verwechselt werden könnte.«
Semmes nickte und reichte ihm eine zusammengefaltete Flagge. »Die >Stars and Stripes<. Sie werden sie zur Tarnung brauchen.«
Tombs griff nach der Fahne der Union und klemmte sie sich unter den Arm. »Ich werde sie, kurz bevor wir die Geschützstellungen des Nordens bei Trent's Reach erreichen, hissen lassen.«
»Dann viel Glück«, sagte Semmes. »Tut uns leid, dass wir nicht bleiben können, bis Sie ablegen. Der Minister muss noch einen Zug erreichen, und ich muss zurück und mich um die Zerstörung der Flotte kümmern, bevor uns die Yankees überrennen.«
Der Marineminister schüttelte Tombs zum Abschied die Hand. »Der Blockadebrecher Fox wartet auf der Höhe von Bermuda, um Ihre Kohlenvorräte aufzufüllen. Viel Glück, Commander. Das Heil der Konföderation liegt in Ihren Händen.«
Noch ehe Tombs etwas erwidern konnte, befahl Mallory dem Kutscher anzufahren. Tombs hob die Hand zu einem letzten Gruß und blickte dem Zweispänner verwirrt nach. Das Heil der Konföderation? Diese Worte ergaben überhaupt keinen Sinn. Der Krieg war verloren. Von Süden vorstoßend, marschierte Sherman durch Carolina heran, während Grant sich mit seinen Truppen wie eine Woge durch Virginia Richtung Süden wälzte. Es konnte sich nur noch um ein paar Tage handeln, bis Lee gezwungen sein würde, sich zu ergeben. Und Jefferson Davis würde sich bald vom Präsidenten der Konföderierten Staaten in einen gewöhnlichen Flüchtling verwandeln.
Wo sollte das Heil liegen, selbst wenn die Texas entkommen konnte? Tombs hatte nicht die leiseste Ahnung. Seine Befehle lauteten, die Archive der Regierung in einen neutralen Hafen seiner Wahl zu bringen und dort zu verharren, bis ein Kurier Kontakt zu ihm aufnehmen würde. Wie in aller Welt sollte das Herausschmuggeln von...