1533 A.D.
Ein versunkenes Meer
Sie kamen mit der Morgensonne von Süden. Schlaff hingen die rechteckigen Baumwollsegel unter einem strahlend azurblauen Himmel, als die Flottille aus Flößen flimmernd wie eine Fata Morgana über das funkelnde Wasser glitt. Keinerlei Befehl erschallte in der unheimlichen Stille, während die Besatzungen die Paddel eintauchten und durchzogen. Am Himmel stieß ein Falke herab und schwang sich wieder in die Lüfte, als wollte er die Steuermänner zu dem öden Eiland geleiten, das mitten aus dem Binnenmeer aufragte.
Die Flöße bestanden aus Binsenbündeln, die an beiden Enden verschnürt und nach oben gezogen waren. Sechs solcher Bündel bildeten einen Bootsrumpf, der überdies mit einem Kiel und Streben aus Bambus versehen war. Der hochgezogene Bug und das Heck waren wie Schlangen mit Hundeköpfen geformt, deren Schnauzen gen Himmel wiesen, als wollten sie den Mond anheulen.
Der Befehlshaber der Flotte saß auf einem thronartigen Sessel im spitz zulaufenden Bug des vordersten Floßes. Er trug ein mit Türkisplättchen verziertes Baumwollgewand und einen bunt bestickten Umhang aus Wolle. Sein Kopf war mit einem Federhelm und einer Gesichtsmaske aus Gold bedeckt. Gelb schimmerten auch der Ohrschmuck, eine schwere Halskette und die Armreife in der Sonne. Selbst seine Schuhe waren aus Gold gefertigt. Ein Anblick, der umso erstaunlicher war, als auch die Besatzungsmitglieder nicht minder prachtvoll herausgeputzt waren.
Voller Furcht und Staunen verfolgten die einheimischen Stämme entlang der Küste des fruchtbaren Landes rund um das Meer, wie die fremde Flotte in ihre Gewässer eindrang. Keiner schickte sich an, ihr Gebiet gegen die Invasoren zu verteidigen. Sie waren einfache Jäger und Sammler, die Kaninchen nachstellten, Fische fingen und ein paar wenige angesäte Pflanzen und Nüsse ernteten. Im Gegensatz zu ihren Nachbarn im Süden und Osten, die ausgedehnte Reiche gründeten, gehörten sie einer archaischen Kultur an. Sie lebten und starben, ohne ihren Göttern gewaltige Tempel zu errichten, und so sahen sie nun gebannt zu, als diese Verkörperung von Reichtum und Macht über das Wasser glitt. Einhellig betrachteten sie die Flotte als eine wundersame Erscheinung von Kriegsgöttern aus der Welt der Geister.
Die geheimnisvollen Fremden nahmen keinerlei Notiz von den Menschen an der Küste, während sie weiter auf ihren Bestimmungsort zupaddelten. Sie waren in heiligem Auftrag unterwegs und ließen sich von nichts und niemandem ablenken. Ungerührt und ohne ihren verwunderten Zuschauern auch nur einmal den Kopf zuzuwenden bewegten sie ihre Boote voran.
Sie steuerten geradewegs auf eine aus dem Meer aufragende Insel zu, deren steile, felsenbedeckte Hänge einen kleinen, etwa 200 Meter (656 Fuß) hohen Berg bildeten. Sie war unbewohnt und nahezu bar jeder Vegetation. Die am Festland lebenden Einheimischen nannten sie die Tote Riesin, da der Kamm des lang gezogenen, niedrigen Berges einer in totengleichem Schlummer liegenden Frauengestalt ähnelte. Die Sonne, deren Licht ihr ein überirdisches Strahlen verlieh, trug ein Übriges zu diesem Eindruck bei.
Kurz darauf landeten die prächtig gewandeten Mannschaften mit ihren Flößen an einem schmalen, kiesübersäten Strand, der zu einem engen Felseinschnitt führte. Sie holten die gewebten Segel ein, auf denen riesige Fabelwesen prangten, Abbilder, welche die lähmende Angst und Ehrfurcht der einheimischen Betrachter noch verstärkten, und begannen damit, große Binsenkörbe und Tonkrüge zu entladen.
Den ganzen langen Tag über wurde die Fracht in einem riesigen, aber ordentlichen Haufen am Strand gestapelt. Als am Abend die Sonne im Westen versank, war das Eiland von der Küste aus nicht mehr einzusehen. Nur mehr das schwache Flackern der Lichter konnte man in der Dunkelheit erkennen. Doch in der Morgendämmerung des neuen Tages ruhte die Flotte noch immer am Gestade, und der hohe Hügel aus Frachtgut war unangetastet.
Am Gipfel des Berges auf der Insel waren Steinmetzen eifrig am Werk, die einen mächtigen Felsblock in Angriff nahmen. Während der nächsten sechs Tage und Nächte schlugen und hämmerten sie mit bronzenen Brechstangen und Meißeln mühsam auf den Stein ein, bis dieser allmählich die Gestalt eines geflügelten Jaguars mit dem grimmigen Haupt einer Schlange annahm. Als das Werk vollendet war, schien das groteske Tier förmlich von dem großen Felsen zu springen, auf dem es thronte. Während die Steinmetzen dergestalt beschäftigt waren, trugen die anderen nach und nach die schwer beladenen Körbe und Krüge davon, bis keine Spur mehr davon zu sehen war.
Eines Morgens blickten die Eingeborenen dann über das Wasser zu der Insel und stellten fest, dass sie verlassen war. Die rätselhaften Menschen aus dem Süden waren mitsamt ihrer Flotte aus Flößen verschwunden, im Schutze der Dunkelheit davongesegelt. Nur die mächtige steinerne Jaguarschlange mit den gefletschten Giftzähnen im weit aufgerissenen Rachen und den geschlitzten Augen, die über das riesige Land aus endlosen Hügeln jenseits des beschaulichen Meeres blickten, kündete von ihrer Fahrt.
Rasch siegte die Neugier über die Furcht. Am folgenden Nachmittag paddelten vier Männer aus dem größten Dorf entlang der Küste des Binnenmeeres, die sich mit einem kräftigen heimischen Gebräu Mut angetrunken hatten, in einem Einbaum über das Wasser, um die Insel zu erkunden. Nachdem sie an dem schmalen Strand gelandet waren, sah man sie in den engen Felseinschnitt vordringen, der in das Innere des Berges hineinführte. Den ganzen Tag lang und bis weit in den nächsten hinein warteten ihre Freunde und Verwandten voller Sorge auf ihre Rückkehr. Doch die Männer wurden nie wieder gesehen. Selbst ihr Einbaum blieb verschollen.
Die Furcht der Einheimischen nahm zu, als plötzlich ein schwerer Sturm über das beschauliche Meer fegte und es in eine tosende See verwandelte. Wolken, schwärzer als je einer der Menschen dort sie gesehen, verdunkelten die Sonne. Mit der erschreckenden Dunkelheit ging ein fürchterlicher Wind einher, der die See in Schaum verwandelte und die Küstendörfer verwüstete. Es war, als sei ein Krieg unter den Mächten des Firmaments ausgebrochen. Mit unglaublicher Wut raste das tobende Wetter über die Küste hinweg. Die Einheimischen hegten keinerlei Zweifel, dass die Götter des Himmels und der Dunkelheit, geführt von der Jaguarschlange, sie für ihr Eindringen bestrafen wollten. Flüsternd sprachen sie davon, dass diejenigen, die es wagen, die Insel zu betreten, verflucht seien.
Dann zog der Sturm so unverhofft, wie er gekommen war, am Horizont davon, und eine merkwürdige Stille breitete sich aus, als der Wind erstarb. Gleißend strahlte die Sonne auf das Meer herab, das wieder so ruhig war wie eh und je. Kurz darauf erschienen Möwen und kreisten über etwas, das am sandigen Strand der Ostküste angespült worden war. Als die Menschen das reglose Ding im zurückweichenden Wasser liegen sahen, näherten sie sich wachsam und blieben stehen, gingen dann vorsichtig weiter und sahen es sich genauer an. Sie stöhnten auf, als sie erkannten, dass es sich um die Leiche eines der Fremden aus dem Süden handelte. Er trug nur ein prunkvolles, besticktes Gewand. Die goldene Gesichtsmaske, der Helm und die Armreife waren verschwunden.
Alle, die der schaurigen Szene beiwohnten, starrten erschrocken auf den Leichnam. Im Gegensatz zu den dunkelhäutigen Einheimischen mit ihrem blauschwarzen Haar hatte der Tote weiße Haut und blonde Haare. Leblos starrten seine blauen Augen ins Leere. Aufrecht wäre er einen guten halben Kopf größer gewesen als die erstaunten Menschen, die ihn nun betrachteten.
Zitternd vor Furcht trugen sie ihn vorsichtig zu einem Kanu und betteten ihn sanft hinein. Dann wurden zwei der tapfersten Männer auserkoren, die den Leichnam zu dem Eiland bringen sollten. Kaum am Strand angelangt, legten sie ihn eilends in den Sand und paddelten wie wild zurück zur Küste. Noch Jahre nachdem jene, die das denkwürdige Ereignis miterlebt hatten, gestorben waren, ragte das gebleichte Skelett aus dem Sand; eine grausige Warnung an alle, sich von der Insel fernzuhalten.
Man flüsterte einander zu, der Wächter der goldenen Krieger, die geflügelte Jaguarschlange, habe die vorwitzigen Männer verschlungen, die in sein Heiligtum eingedrungen waren, und niemand wagte es jemals wieder, seinen Zorn herauszufordern, indem er den Fuß auf die Insel setzte. Das Eiland hatte etwas Unheimliches, fast schon Gespenstisches an sich. Es wurde zu einer heiligen Stätte, von der man nur mit gedämpfter Stimme sprach und die man nie aufsuchte.
Wer aber waren die goldenen Krieger, und woher kamen sie? Warum waren sie in das Binnenmeer gesegelt, und was taten sie dort? Die Augenzeugen mussten sich mit dem bescheiden, was sie gesehen hatten - es gab keine Erklärung dafür. Aus Mangel an Wissen wurden Mythen geboren. Sagen entstanden und erhielten neue Nahrung, als das Land ringsum von einem gewaltigen Erdbeben erschüttert wurde, das die Dörfer an der Küste zerstörte. Als das Beben nach fünf Tagen endlich abklang, war das Binnenmeer verschwunden, und dort, wo sich einst die Küste befunden hatte, war nur mehr ein breiter Gürtel aus Muscheln verblieben.
Die geheimnisvollen Eindringlinge fanden bald Aufnahme in das religiöse Brauchtum und wurden zu Göttern. Im Laufe der Zeit entstanden immer mehr Geschichten von ihrem jähen Erscheinen und Verschwinden und gerieten wieder in Vergessenheit, bis sie nur mehr undeutliche Bruchstücke in der von Generation zu Generation weitergegebenen religiösen Überlieferung eines Volkes waren, das in einem verwunschenen Land lebte, über dem unerklärliche Phänomene dräuten wie der...