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Nicht bewegen. So lautete die Anweisung bei Appendizitis in Liebermeisters Grundriss der inneren Medizin.
Koldewey bewegte sich nicht. Er hatte sich, nachdem er die Strecke zur Fliegengittertür vermessen hatte, auf seine Liege zurückgezogen, um wieder den Fluss zu beobachten, nicht um nachzudenken, über Reliefziegel, 20.000 nummerierte und 100.000 unnummerierte Fragmente in 500 Kisten.
Koldewey hatte nicht vor, das Buch über das Inhaltsverzeichnis hinaus aufzuschlagen, wo Liebermeister ausführlich zu beschreiben anfing, was eine Appendizitis bedeutete und wie mit ihr umzugehen war. Koldewey fand durchaus, dass es sinnvoll sei, Dinge in eine andere Form zu übertragen, damit sie verschwinden. Er fand nicht, dass es sinnvoll sei, Dinge in schriftlicher Form sehen zu müssen, bevor sie verschwinden, überhaupt Dinge zu verschriftlichen.
Koldewey hatte nicht vor, Seite 246 bis Seite 249 aufzuschlagen, Perityphlitis, Perforation des Wurmfortsatzes: Paratyphlitis, Typhlitis, Hydrops processus vermiformis.
Koldewey hatte die Briefe der vergangenen Wochen und Monate, Briefe aus Berlin, Briefe aus Bagdad, Briefe aus Konstantinopel, Briefe aus Milet, Briefe aus Assur und Briefe aus Uruk, auf einen Stapel gelegt, der sich weit außerhalb seines Blickfeldes befand.
Nicht bewegen, würde Liebermeister schreiben, keine Vergrößerung, keine Verschlimmerung provozieren, auch innerlich nichts bewegen, nichts essen, wenig trinken, auf keinen Fall Öl, um auf keinen Fall einen Durchbruch zu provozieren, einen Durchbruch in die Inguinalgegend, in die Blase, in das retrocöcale Bindegewebe, bei unvollständiger Ausheilung könne ein Tumor zurückbleiben, eine chronische Entzündung, die zu Metastasen in der Leber führen könne, tödlichem Ausgang.
Koldewey musste seinen Kopf sehr weit herumdrehen, um den Stapel Briefe sehen zu können. Er befand sich auf dem Tisch, aufgestapelt zu einem Turm, der sich gegen die Wand lehnte, an die der Tisch gerückt war, damit das, was aufgestapelt war, nicht umfiel. Der Tisch war wie Stuhl, Bett, Kommode, Waschgestell und Türen des Kleiderschranks in Kowairesch gezimmert worden, aus dem Holz der Euphratpappel, die am Oberlauf des Flusses wuchs. Unter dem einheimischen Mobiliar lag ein persischer Seidenteppich. Der Teppich lag auf einem Fußboden aus gebrannten Ziegeln, die an der Seite das Signum Nebukadnezars trugen. Die Herstellung moderner Ziegel unterschied sich nicht von der Herstellung altbabylonischer Ziegel, war aber aufwendiger, als alte Ziegel wiederzuverwenden.
Liebermeisters Behandlung unterschied sich zunächst nicht von der orientalischen Behandlung einer Krankheit: Er gab ihr einen Namen. Dann jedoch entfernten sich beide Verfahren mit zunehmender Geschwindigkeit in entgegengesetzte Richtungen. Während Liebermeister eine Szenerie entwarf, in der Allerlei passieren konnte, konzentrierte sich der orientalische Arzt auf das, was passiert war. Was hatte man falsch gemacht? Das fragte Liebermeister nicht. Er fragte: Was könnte man falsch machen? Krankheit war für Liebermeister ein Problem der Zukunft, kein Problem der Vergangenheit. Gleichwohl verband er das lose Gefühl eines Schmerzes, das alles Mögliche bedeuten konnte, wahrscheinlich aus eben diesem Grund mit einer schriftlich fixierten Unheilsgeschichte der Blinddarmentzündung, in all ihren unwahrscheinlichen, aber definierbaren Varianten seltener Komplikationen. Obwohl Liebermeister die gegenteilige Wirkung erzielen wollte, vergrößerte er den Schmerz, indem er ihn aus der maßlosen Welt des Glaubens, in der man ihn an allem Möglichen festmachen konnte, in die vermessende Welt der Medizin übertrug, die nicht glauben konnte, dass man gesundete, ohne vorher aufgeklärt zu werden. Aufgeklärt über Dinge, die man sich vorher nie vorgestellt hätte, weil man sie sich nicht vorstellen konnte, und die man jetzt vorgestellt bekam. Dinge, die die Sprache, anders als die Krankheit es in ihren Symptomen tat, nicht vorübergehend vergegenwärtigte, sondern auf Dauer konservierte, indem sie sie verschriftlichte. Diese Schrift band ein loses Gefühl so lange in Kategorien und Unterkategorien und Unterunterkategorien ein, bis eine auf 26 an sich bedeutungslose Zeichen geschrumpfte Sprache fähig war, es ausgerechnet als Bild einer Krankheit für alle gut lesbar wiederzugeben. Weshalb schrieb Liebermeister nicht: Nehmen Sie eine Zwiebel und häuten Sie diese. Weshalb schrieb er nicht: Fangen Sie an, Bedeutung abzubauen, statt aufzubauen.
Koldewey versuchte gedanklich zu formulieren, was sich wie und weshalb verkehrt hatte. Im Orient übertrug man die Krankheit auf einen Gegenstand und ließ diesen verschwinden. Im Okzident übertrug man die Krankheit in ein Buch, das man nicht verschwinden ließ, das man im Gegenteil so lange offen hielt, bis die Krankheit verschwunden war. Das hieß in den meisten Fällen: durch Herausschneiden entfernt worden war. Perityphlitis, Perforation des Wurmfortsatzes: Paratyphlitis, Typhlitis, Hydrops processus vermiformis. Die wissenschaftliche Poesie magischer Vorgänge. Koldewey sah nach draußen. Einmalig und anhaltend war die Sicht über Fluss und Lauf während der vierzig Minuten, die er von Pfeife zu Pfeife benötigte und in denen er nicht mehr bei jedem Geräusch seinen Kopf automatisch vom Fenster zur Tür drehte. Reuther und Wetzel waren auf dem Weg ins Freie und hatten die Plattenkamera, die eigentlich Magazinkamera hieß, nach ihrem Magazin, in das die Glasplattennegative einzeln einzusetzen waren, gegen eine mit Rollkassette und Rollfilm eingetauscht. Das war eine Kodak 3A oder 4, für die es neuerdings einen Adapter für Photoplatten zu kaufen gab. Dieser ließ sich zwar leichter bedienen als eine ganze Plattenkamera, war aber auch teurer und leider wiederholt auf dem Weg nach Babylon abhanden gekommen. Statt jeder für sich mit einem Pinsel dieselbe Umgebung unterschiedlich auf Papier zu streichen, belichteten sie diese nun in ihrem eigenen Licht, wieder und wieder und wieder. Bei leichter Bewölkung durfte die Blende nur wenig geöffnet sein, entsprechend hoch war die Blendenzahl (24), entsprechend kurz die Belichtungszeit von 1/15 Sekunde, oder länger, wenn sie in den Schatten photographierten. Es ging darum, die Intensivität des Lichts zu manipulieren, um ein- und dieselbe Bildqualität zu produzieren, nicht zu hell, nicht zu dunkel. Es ging darum, eine Normalität zu erzeugen, deren artenreiche Einstellungen im Verborgenen existierten. Wieder und wieder und wieder. Was in anderer Funktion half, Naturgesetze zu beweisen oder Krankheitsbilder zu definieren, dem schien hier nicht derselbe Wert beigemessen zu werden. 24, 1/15: Das waren die Einstellungen, mit denen Reuther und Wetzel sich aus dem Umkreis seines Zimmers wegbewegt und Koldewey allein gelassen hatten, nachdem er die Strecke über zwei Meter neunundsiebzig vermessen und sich enttäuscht auf seine Liege zurückgezogen hatte, enttäuscht und erleichtert zugleich, dass er sie, ohne sie abzulaufen, immer nur schätzen konnte, dass sie ihm die Unfähigkeit des visuellen Sinns, andere Sinnesorgane ersetzen zu können, buchstäblich vor Augen geführt hatte. Diese Unfähigkeit disqualifizierte sie aber nicht, sie ließ sich zelebrieren und perfektionieren, sie war nicht das Kommunikationsmittel der vorsokratischen Redner, der Dichter und Denker, sie war das geheime Zuhause der aristotelischen Logik, sie war ein Werkzeug der Schreibtischgelehrten, der Keilschriftforscher und Philologen, sie war das Kommunikationsmittel der Briefeschreiber, machte sie misstrauisch, ungläubig und übermäßig wachsam.
Aus den Berliner Briefen, die zusammen mit anderen Briefen auf dem Euphratpappelholztisch lagen, hatte Koldewey eine simple Formel abgeleitet, die veranschaulichte, auf welcher Grundlage man sich einer distanzierten Umgebung schriftlich zu nähern hatte. Die Ungleichung: Berlin ? Babylon. Je weiter entfernt der Ort lag, den man über eine Briefkorrespondenz erreichen wollte, desto mehr musste man, um dorthin zu gelangen, sich von seiner lokalen Art zu denken und zu handeln entfernen, wollte man nicht, am Ziel angekommen, denselben Ort vorfinden. Berlin ? Babylon. Koldewey hatte den Überblick verloren, wie viele Kommissionen es mittlerweile in Berlin gab, deren Mitglieder sich mit der babylonischen Expedition beschäftigten. Allein drei waren damit beschäftigt, Koldewey zu bewegen, seine bisherigen Grabungsergebnisse zu veröffentlichen oder veröffentlichen zu lassen. Es gab die Orientalische Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften, die eine Anzahl fester Stellen schaffen sollte für die Bearbeitung der Funde, für die Schaffung von Wissen über Dinge, die sich als Fundtrophäen nicht mehr so unkompliziert wegbewegen ließen aus einem Staat, der sie selbst als Fundtrophäen entdeckt hatte. Wissenschaftliche Erkenntnis war die in der Not entdeckte Tugend, Macht auch gegenstandslos ausüben zu können, um kurz darauf im wissenschaftlichen Thema einen neuen Gegenstand zu finden. Es gab eine Unterkommission, die sich über mögliche und notwendige Veröffentlichungen mit Koldewey verständigen sollte, und einen wissenschaftlichen Beirat, der dem Arbeitsausschuss der Deutschen Orientgesellschaft nur deshalb unterstellt war, da dieser sich statutenmäßig nicht in weitere Unterausschüsse aufteilen durfte. Sämtliche Kommissionen bestanden aus nahezu denselben Mitgliedern, die monatlich eine Anzahl festgelegter Sitzungen absolvierten, die Mitgliederversammlung der Deutschen Orientgesellschaft, deren Sitzungen des Arbeitsausschusses, die Sitzungen des Publikationsausschusses, die Sitzungen der Akademie der Wissenschaften. Diese rundum und über die Berliner Museumsinsel zirkulierenden Veranstaltungen fanden wöchentlich zu festen Zeiten statt und deren Teilnehmer probten wie das...
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