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Kleine schmutzige Geheimnisse
Während der Wind mit trostloser Stimme schrie und an den Gebäuden rüttelte, versammelte sich das Team in der alten Kantine des Targa-House und lauschte Orr, der ihnen erklärte, weshalb sie hierher gekommen waren und was sie hier zu erreichen hofften. Nur Navy-Personal wohnte der Besprechung bei. Die Techniker, die die Bohrplattform bedienten, waren nicht eingeladen. Ihr Job war es, den Schacht zu öffnen, ihn offen und eisfrei zu halten und das Unterwasserhabitat knapp dreihundert Meter unter der Oberfläche des Sees zu überwachen. Dieses war schrittweise von einer anderen Gruppe installiert worden, die man für die Aufgabe ein- und wieder ausgeflogen hatte.
Das Team, das sich versammelt hatte, um Orr zuzuhören, bestand aus erfahren Tauchern mit jahrelanger Erfahrung im Tiefseetauchen und im Umgang mit Panzertauchanzügen.
Orr war ein Flottenadmiral der Navy und er redete gern.
Wer es hören wollte, dem erzählte er von seinen harten Tagen als Bergungstaucher der Navy, wie eine Tiefseemine sein linkes Ohr ruinierte oder über seine Tauchgänge mit dem Hydrolab und dem Sealab III. Heute aber sprach er nicht von diesen Dingen. Was er heute besprach, war geheim, und das hatte er allen Anwesenden klar gemacht - Murphy und Hubbs, Javonivic und Bell. Jeder von ihnen hatte den Official Secrets Act unterschrieben, der ihnen versprach, dass sie, wenn sie irgendwo außerhalb dieser Gruppe darüber sprachen, was sie wussten oder hier sehen würden, erst dann wieder aus einem Bundesgefängnis entlassen wurden, wenn sie bereit lange weiße Bärte trugen.
Wenig überraschend.
Bell und die anderen hatten den OSA schon viele Male unterschrieben. Sie gehörten alle der DSU - der Deep Submergence Unit - und dem DSSP - Deep Submergence Systems Project - der Navy an, die mit dem Office of Naval Research und dem Special Projects Office zusammenarbeiteten. Und wenn man in den trüben Gewässern der ONR und des SPO schwamm, war die Unterzeichnung des Geheimhaltungsgesetzes gewissermaßen eine Notwendigkeit.
Bell hatte schon an zahllosen Geheimeinsätzen der DSU teilgenommen.
Er hatte Atomsprengköpfe aus gesunkenen russischen U-Booten und Ampullen waffenfähiger Anthrax-Sporen aus einem libanesischen Frachter geborgen, den ein U-Jagdboot im Golf von Aden versenkt hatte (die Sporen waren für das New Yorker U-Bahn-System gedacht gewesen, wo ehemaligen Agenten des Islamischen Dschihad sie hätten freisetzen sollen). Und einmal war er Teil eines Teams gewesen, das bis auf den Grund des Beringmeeres getaucht war, um eine abgestürzte interplanetare Sonde zu bergen, die aus dem Orbit der Venus mit Proben aus deren oberer Atmosphäre zurückgekehrt war, die man für »biologisch instabil und möglicherweise krankheitserregend« hielt.
Er hatte immer seinen Mund gehalten, und das galt auch für alle anderen hier, sonst wären sie gar nicht ausgewählt worden.
»In Ordnung«, sagte Orr, »dann wollen wir mal das große Geheimnis lüften.«
Die Lichter gingen aus, und alle Augen waren auf den großen Bildschirm an der Wand gerichtet. Er drückte auf eine Taste auf seinem Laptop, und die Fotografie eines Mannes erschien auf dem Bildschirm. Er war hager, mit einem schroffen, windgegerbten Gesicht und einem dicken Büschel zurückgekämmten grauen Haars, die ihn auf gewisse Weise wie die abgemagerte Version von Charlie Rich aussehen ließen.
»Das ist Henry Charles Gundry, verstorben. Gundry war Glaziologe des California Institute of Technology und leitete vor fünf Jahren das Projekt DeepDrill hier in Kharkov. Er beaufsichtigte das Team, welches bis zu dem Vordog-See bohrte und dort den ATP Cryobot in den See selbst entließ«, erklärte Orr.
Projekt DeepDrill war ein NASA-Einsatz gewesen, Teil des gleichen übergeordneten, auch Kronos-Experiment genannten Projektes, zu dem auch die Cassini-3-Weltraumsonde gehörte, welche die galileischen Monde kartografierte und die Callisto-Sonde in den Graben südlich des Valhalla-Einschlagkraters abgeworfen hatte, was den Grundstein für eine der beeindruckendsten Deep-Space-Missionen gelegt hatte, die die NASA je unternommen hatte: die Erkundung der unterirdischen Oceane von Kallisto, Europa, Ganymed und Io. Eine umfassende Suche nach außerirdischem Leben, die in der Europa Ice Clipper-Mission münden sollte, bei der sich hochentwickelte Cryobots durch die Eismassen der Monde bis hinunter zu den Ozeanen schmelzen würden. Die ATP-Cryobots (die Abkürzung stand für Active Thermal Probe) waren im Prinzip robotische Unterwasserfahrzeuge, die von einer hochentwickelten künstlichen Intelligenz gesteuert wurden und in diesen schwarzen Tiefen nach Leben suchen würden. Gundry hatte mehrere Cryobots getestet, bevor man ihm den Vordog-Job gab. Seine Cryobots funktionierten fehlerfrei. Sie hatten sich durch das Eis des ursprünglich gebohrten Lochs geschmolzen und waren in den See selbst abgetaucht.
Das allein war eine wissenschaftliche Meisterleistung gewesen, der die NASA applaudiert hatte.
Aber was sie dann dort unten gefunden hatten, über vierzig Millionen Jahre unter dem Eis verborgen, hatte ihnen allen eine Scheißangst gemacht.
»Die folgenden Bilder, die ich Ihnen zeigen werde, sind Standbilder einer Video-Liveübertragung«, sagte Orr. »Sie wurden beinahe zwei Kilometer unter unseren Füßen von Gundrys Cryo aufgenommen.«
Bell sah zu Murphy hinüber, und Murphy verzog wie Groucho Marx die Augenbrauen, als wollte er sagen: Okay, Kumpel, jetzt kommen wir zum interessanten Teil. Dem Top-Secret-Kram, von dem sie seit dem ersten Tag an keine Kenntnis haben durften.
Orr hieb auf ein paar weitere Tasten und eine Reihe von Aufnahmen erschien auf dem Bildschirm. Nichts Weltbewegendes, und doch außergewöhnlich. Aufnahmen der Kreaturen, die in dem See tief unter ihnen lebten, der Wissenschaft unbekannt oder längst für ausgestorben gehalten: Kolonien vielfarbiger Quallen, die wie lebendige Seifenblasen aussahen, gigantische Krabben und Seeskorpione, gewellte Röhrenwürmer, wie Basketbälle geformte biolumineszente Fische und eine riesige, tintenfischartige Albino-Kreatur, die sich in die Dunkelheit zurückzog. Letzte wurde von Orr nicht als Seemonster bezeichnet, aber es erfüllte zweifellos die dafür notwendigen Kriterien.
Er drückte eine weitere Taste, und irgendwer atmete geräuschvoll ein.
Sie sahen eine Stadt.
Eine weitläufige Unterwasserstadt, die offenbar von einer vormenschlichen Intelligenz errichtet worden war, Äonen, bevor der Mensch von den Bäumen gesprungen war und seinen Greifschwanz verloren hatte.
Es war fantastisch.
Das erste Bild zeigte etwas, bei dem es sich wohl um Ruinen handelte - Rundbögen, eingestürzte Kuppeln und schiefe Türme, eine Ansammlung auf- und absteigender Formen, die von Meeresablagerungen verkrustet waren. Die nächste Reihe von Bildern zeigte Monolithen und Obelisken, Kanäle und bruchstückhafte Mauern, die wie eine ausgefeilte Reihe von mit megalithischen Strukturen bedeckten Gruftkammern wirkten.
Orr tippte weiter in die Tasten, und dann war die Stadt selbst zu sehen, aus der Sicht von Gundrys Hydrobot, dem frei beweglichen robotischen Unterseefahrzeug, welches der Cryobot an der Oberfläche abgesetzt hatte. Es war unmöglich, die gesamte Anlage ins Bild zu bekommen, denn sie schien sich unendlich weit zu erstrecken. Es war ausgeschlossen, dass der Hydrobot weit genug hätte zurücksetzen können, um sie komplett ins Bild zu bekommen und gleichzeitig mit seinen Scheinwerfern zu beleuchten. Was sie sahen, war also nur ein Ausschnitt der Stadt, aber genug, um sich von der gesamten albtraumhaften Architektur ein Bild machen zu können. Es war ein gewaltiges, wabenförmiges Labyrinth bestehend aus Rechtecken und Türmen und Bögen und Kugeln, die miteinander verbunden waren, sich überkreuzten und überlappten. Eine zyklopische Fülle; etwas, das eher wie natürlich gewachsen und weniger wie gebaut wirkte, und das darüber hinaus seltsam bearbeitet und reich an geometrischen Formen schien.
»Jesus, Maria und Joseph«, entfuhr es Murphy.
Etwas an diesem Anblick bereitete Bell eine Gänsehaut, ließ seine Kopfhaut kribbeln und füllte seinen Verstand mit treibenden Trugbildern und seltsamen, verzerrten Erinnerungen, die er nicht verstand. Blitzartig aufflackernde Eindrücke, die ihm verrieten, dass er das alles schon einmal gesehen hatte, aber nicht, wie oder wann.
Die Stadt ähnelte sehr stark dem, was Insekten bauen würden, karg, schroff und beinahe militaristisch. Die Art, wie sie mit Vertiefungen und Passagen durchlöchert war, erinnerte ihn an die von Spinnweben durchzogenen Höhlen von Trichternetzspinnen. Kein Wesen, das über ein Herz oder eine Seele verfügte, hätte so etwas entwerfen können. Das war ein Insektennest. Ein groteskes außerirdisches Nest, das stark an die biomechanischen Maschinen eines H. R. Giger erinnerte, ein fürchterlicher organisch-mechanischer Hybrid, der seit Millionen von Jahren am Grunde dieses uralten Sees vor sich hin rottete und rostete und darauf wartete, wieder aktiviert zu werden.
Und das war auch der Kern dieser Angst, die Bell beim Anblick dieser Bilder verspürte: dass es urplötzlich wieder erwachen könnte.
Orr löschte die Bilder und blickte in die fahlen Gesichter seiner Taucher. »Es . äh . scheint einen seltsamen Effekt auf jeden haben, der sich die Bilder ansieht. Ging mir beim ersten Mal auch so, als ich sie mir ansah, Leute. Und ich bin mir nicht zu schade, zuzugeben, dass es mir eine Heidenangst machte und eine Woche lang Albträume bescherte.«
»Ich glaube, ich habe in diesem Moment welche«, sagte Hubbs mit vollem Ernst.
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