Schweitzer Fachinformationen
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Eine der ersten Kugeln kommt durch das offene Fenster über der Toilette, vor der Luca steht. Er begreift zuerst überhaupt nicht, dass es eine Kugel ist, und es ist reines Glück, dass sie ihn nicht zwischen den Augen trifft. Luca hört kaum das leise Geräusch, das sie macht, als sie knapp an ihm vorbeifliegt und in der gefliesten Wand hinter ihm einschlägt. Aber die Salve, die ihr folgt, ist laut, donnernd und hämmernd, es macht klack-klack-klack wie die Propellerblätter eines Hubschraubers. Er hört auch Geschrei, aber das hält nur ganz kurz an und wird bald von Schüssen zum Schweigen gebracht. Bevor Luca noch den Reißverschluss seiner Hosen hochziehen, den Klodeckel schließen und hinaufsteigen kann, um hinauszuschauen, bevor er noch die Zeit hat, die Quelle des schrecklichen Lärms zu ergründen, wird die Tür aufgerissen, und Mami ist da.
«Mijo, ven», sagt sie so leise, dass Luca sie kaum verstehen kann.
Ihre Hände sind gar nicht sanft; sie schubst ihn zur Dusche. Er stolpert über die kleine geflieste Stufe und fällt auf seine Hände. Mami landet auf ihm. Im Sturz beißt er sich auf die Lippe. Er schmeckt Blut. Ein dunkler Tropfen bildet einen winzigen roten Kreis auf dem hellgrün gefliesten Boden der Dusche. Mami schiebt Luca in die Ecke. Es gibt keine Tür an dieser Dusche, nicht mal einen Vorhang. Sie ist nur eine Ecke im Badezimmer seiner abuela. Eine dritte geflieste Wand grenzt die Dusche vom Rest des Badezimmers ab wie eine Kabine. Diese Wand ist vielleicht eins sechzig hoch und einen Meter breit. Gerade groß genug, um Luca und seine Mutter mit etwas Glück zu verbergen. Lucas Rücken ist eingekeilt, seine schmalen Schultern berühren beide Wände. Er hat die Knie ans Kinn gezogen, und Mami hat sich über ihn gelegt wie ein Schildkrötenpanzer. Die Tür des Badezimmers bleibt offen, was Luca Angst macht, obwohl er gar nicht über den Körper seiner Mutter und an der Duschmauer seiner abuela vorbeischauen kann. Er würde sich gern unter seiner Mutter hervorwinden und die Tür ganz leicht mit dem Finger anstupsen. Er würde sie gern zustoßen. Er weiß nicht, dass seine Mutter sie absichtlich hat offen stehen lassen. Dass eine geschlossene Tür nur zur Überprüfung einlädt.
Das Klackern der Schüsse draußen hält an. Der Geruch von verkohltem und verbranntem Fleisch dringt herein. Papi grillt da draußen carne asada und Lucas Lieblingsessen, Hähnchenschenkel. Er mag sie, wenn sie nur ganz leicht geschwärzt sind. Er mag den knusprigen, würzigen Geschmack der Haut. Seine Mutter hebt kurz den Kopf und schaut ihm in die Augen. Sie versucht, mit den Händen seine Ohren zuzuhalten. Draußen werden die Pausen zwischen den Schüssen länger. Dann hört das Schießen ganz auf, nur um wieder zu beginnen, in kurzen Salven, und Luca hat das Gefühl, als kämen sie gleichzeitig mit seinen unregelmäßigen und seltenen Herzschlägen. Dazwischen hört Luca immer noch das Radio. Eine Frauenstimme verkündet La Mejor FM Acapulco, 100.1!, und dann singen Banda MS davon, wie glücklich sie verliebt sind. Jemand schießt auf das Radio, und es ertönt Gelächter. Männerstimmen. Zwei oder drei, das kann Luca nicht genau sagen. Schwere Schritte auf Abuelas Terrasse.
«Ist er hier?» Eine der Stimmen ist genau unter dem Fenster.
«Hier.»
«Was ist mit dem Kind?»
«Mira, hier ist doch ein Junge. Ist er das?»
Lucas Cousin Adrián. Er trägt Stollenschuhe und sein Hernández-Trikot. Adrián kann einen balón de fútbol siebenundvierzig Mal mit den Knien kicken, ohne ihn fallen zu lassen.
«Weiß ich auch nicht. Sieht aus, als wäre er im richtigen Alter. Mach mal ein Foto.»
«Hey, Hähnchen!», sagt ein anderer. «Mann, das sieht vielleicht lecker aus. Wollt ihr Hähnchen?»
Lucas Kopf liegt genau unter dem Kinn seiner mami, sie hat ihren Körper ganz eng um seinen geschlungen.
«Vergiss das Hähnchen, pendejo. Durchsuch lieber das Haus.»
Lucas mami bewegt sich in ihrer hockenden Haltung und schiebt ihn noch enger an die geflieste Wand. Sie drückt sich gegen ihn, und sie hören beide das Quietschen und Zuschlagen der Hintertür.
Schritte in der Küche. Hin und wieder das Knattern von Schüssen im Haus. Mami dreht den Kopf und bemerkt Lucas einsamen Blutfleck, der leuchtend rot auf dem Fliesenboden liegt, angestrahlt vom Licht, das durch das Fenster dringt. Luca spürt, wie ihr der Atem in der Brust stockt. Im Haus ist es jetzt ganz still. Der Flur, der auf dieses Badezimmer zuführt, ist mit Teppich ausgelegt. Mami zieht den Ärmel ihrer Bluse über die Hand, und Luca schaut voller Angst zu, wie sie sich zum verräterischen Blutfleck beugt. Sie fährt mit dem Ärmel darüber, sodass nur ein blasser Fleck zurückbleibt. Dann lässt sie sich wieder über ihn fallen, genau in dem Augenblick, in dem der Mann im Flur den Kolben seines AK-47 dazu benutzt, die Tür bis zum Anschlag aufzustoßen.
Es müssen drei sein, denn Luca hört immer noch zwei Stimmen im Garten. Auf der anderen Seite der Duschwand öffnet der dritte Mann seine Hose und entleert seine Blase in Abuelas Toilette. Luca hält den Atem an. Mami hält den Atem an. Sie haben die Augen geschlossen, ihre Körper sind regungslos, selbst den Adrenalinpegel haben sie durch schiere, starre Willenskraft eingefroren. Der Mann hat Schluckauf. Er zieht die Spülung, wäscht sich die Hände. Er trocknet sie an Abuelas gutem gelbem Handtuch ab, das sie nur herausholt, wenn sie Gäste hat.
Sie rühren sich nicht, als der Mann geht. Auch nicht, als sie noch einmal das Quietschen und Zuschlagen der Küchentür hören. Sie bleiben da, erstarrt in ihrem festen Knoten aus Armen und Beinen und Knien und Kinnen und zugekniffenen Augen und verschlungenen Fingern, selbst als sie hören, dass der Mann zu seinen Kumpanen geht und verkündet, dass das Haus sauber ist und er jetzt Hähnchen isst, weil es keine Entschuldigung dafür gibt, gutes Grillfleisch verkommen zu lassen, solange in Afrika die Kinder hungern. Der Mann ist immer noch nah genug am Fenster, dass Luca die feuchten, gummiartigen Schmatzgeräusche hören kann, die sein Mund beim Essen des Hähnchenfleisches macht. Er konzentriert sich auf seinen Atem, ein und aus, geräuschlos. Er sagt sich, dass das hier nur ein böser, ein schrecklicher Traum ist, wenn auch einer, den er schon sehr oft hatte. Er wacht dann immer mit klopfendem Herzen auf und ist vollkommen erleichtert. Es war nur ein Traum. Denn das hier sind die modernen Schwarzen Männer von Guerrero. Selbst die Eltern, die vor ihren Kindern nicht über die Gewalt sprechen, die den Sender wechseln, wenn wieder eine Schießerei gemeldet wird, die ihre schlimmste Angst vor ihnen verbergen, können nicht verhindern, dass ihre Kinder mit anderen Kindern sprechen. Auf den Schaukeln, auf dem fútbol-Feld, im Jungenklo in der Schule werden die gruseligen Geschichten immer größer und blähen sich auf. Diese Kinder, reich, arm, aus dem Mittelstand, haben allesamt schon Leichen in den Straßen gesehen. Zufallsmorde. Und sie wissen aus ihren Gesprächen, dass es eine Hierarchie der Gefahr gibt, dass einige Familien in größerer Gefahr schweben als andere. Obwohl Luca also von seinen Eltern nie auch nur den kleinsten Hinweis auf ein mögliches Risiko bekommen hat, obwohl sie ihren Mut vor ihrem Sohn tadellos zur Schau gestellt haben, wusste er - wusste er immer, dass dieser Tag kommen würde. Und diese Wahrheit kann den Schock kein bisschen mildern.
Es dauert eine lange, lange Zeit, bis Lucas Mutter endlich den festen Griff an seinem Nacken löst, bis sie sich so weit von ihm wegbeugt, dass er den Winkel des einfallenden Lichts in das Badezimmerfenster erkennen kann. Er hat sich verändert.
Die Momente nach der Angst und vor der Bestätigung, dass sie vorbei ist, sind eine Gnade. Als er es endlich wagt, sich zu regen, spürt Luca kurz dieses taumelnde Hochgefühl angesichts der Tatsache, dass er noch am Leben ist. Einen Moment lang genießt er das Gefühl, wie sein Atem stockend in seine Brust strömt. Er legt die Handflächen flach auf den Boden, um die kühlen Fliesen zu spüren. Mami sackt an der Wand ihm gegenüber zusammen und presst die Kiefer so fest aufeinander, dass man das Grübchen in ihrer linken Wange sehen kann. Es ist merkwürdig, sie mit ihren guten Sonntagsschuhen in der Dusche zu sehen. Luca berührt die Wunde an seiner Lippe. Das Blut ist getrocknet, aber er fährt mit den Schneidezähnen darüber, und die Wunde öffnet sich wieder. Er begreift: Wenn das hier ein Traum wäre, würde er kein Blut schmecken.
Endlich steht Mami auf. «Bleib hier», befiehlt sie ihm flüsternd. «Rühr dich nicht, bis ich dich holen komme. Mach keinen Mucks, verstehst du?»
Luca greift nach ihrer Hand. «Mami, geh nicht.»
«Mijo, ich bin gleich wieder da, okay? Du bleibst hier.» Mami löst Lucas Finger von ihrer Hand. «Rühr dich nicht vom Fleck», wiederholt sie. «Guter Junge.»
Luca fällt es leicht, dem Befehl seiner Mutter zu gehorchen, nicht so sehr, weil er so ein folgsames Kind wäre, sondern weil er das nicht sehen will. Seine ganze Familie da draußen, in Abuelas Garten.
Heute ist Samstag, der 7. April, die quinceañera seiner Cousine Yénifer, ihre Party zu ihrem 15. Geburtstag. Sie trägt ein langes weißes Kleid. Ihr Vater und ihre Mutter sind gekommen, Tío Alex und Tía Yemi, und Yénifers kleiner Bruder Adrián, der, weil er schon neun ist, gern behauptet, dass er ein Jahr älter sei als Luca, obwohl sie in Wirklichkeit bloß vier Monate...
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