Schweitzer Fachinformationen
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»Meine letzte Weihnacht in Vilaincourt. Alle meine Cousinen und Cousins besuchten über die Feiertage mit ihren Eltern Großmutter Germaine. Tante Fleur kochte acht Leberpasteten und ihre legendären Bûches de Noël. Jede Tante und jeder Onkel war Pate oder Patin irgendeines Cousins oder einer Cousine. Sie erhielten meist kleine Geschenke: Socken, Schuhe, Wintermützen oder Regenjacken. Etwas Nützliches eben. Ich glaube, Weihnachten 1962 lernte ich meinen Cousin Francis näher kennen. Er war ein fröhliches Kind und fiel dadurch auf, dass er als Einziger Großmutter Germaine duzte. Alle anderen mussten sie siezen, auch ihre Kinder. Ein Hauch von Versailles im verdreckten Vilaincourt.
Francis erhielt ein großes Paket. Es sah aus wie ein eingepacktes Krokodil, und Francis schrie vergnügt, man habe ihm ein Krokodil geschenkt. Er setzte sich rittlings auf das Paket und sang ein improvisiertes Lied von einem Krokodil, das im Amazonas schwimmt. Schließlich öffnete er das Paket. Ich hatte bis dahin noch nie ein so trauriges Gesicht gesehen. Es war kein Krokodil, sondern eine Regenjacke. Sein Vater, Onkel Maurice, forderte Francis ultimativ auf, sich bei seiner Patentante Fleur zu bedanken. Francis weigerte sich. Das hat mir imponiert. Onkel Maurice klemmte sich eine Gitane Bleue zwischen die Lippen und verpasste dem kleinen Francis eine schallende Ohrfeige.
»Wer hat das Christkind gestohlen?«, kreischte Tante Fleur.
Wir schauten alle auf das alte Klavier in der Ecke. Hier stellte Tante Fleur zu Weihnachten die Krippe auf, eine Pionierleistung des Modellbaus, alles selber gezimmert von diesem Onkel, der an Weihnachten nie dabei war. Mit großer Detailliebe war der Stall gestaltet worden, vielleicht etwas dunkel, mit viel Moos und Gestrüpp. Nur die Figuren hatten sie vor langer Zeit irgendwo eingekauft: Das kleine Jesuskind war auf echtes Stroh gebettet, umringt von Schafen. Und Josef und Maria standen zwischen Ochs und Esel. Im Hintergrund nahten die drei Könige. Natürlich fiel der Verdacht sofort auf Francis. Wieso eigentlich? Fragen Sie nicht. Vermutlich reichte die Intelligenz meiner Tanten und Onkel einfach nicht aus, um andere Verdächtige in Erwägung zu ziehen. Sie hatten den Täter überführt und nickten vorwurfsvoll mit dem Kopf. Francis musste seine Hosentaschen leeren, während ich nervös die kleine Christusfigur in meiner Hosentasche malträtierte. Ich wollte das Christkind eigentlich nicht stehlen, aber es tat mir so weh in der Seele, dieses kleine Ding allein in der Krippe liegen zu sehen. Vorsichtig hatte ich das Stroh entfernt, um herauszufinden, ob darunter Schrauben waren. Ich hatte das Christkind an mich genommen, um es zu retten. Ich hatte getan, was niemand für mich getan hatte.
Schließlich ergriff Onkel Pierre das Wort: »Friede sei mit uns. Wir sollten am Heiligen Abend liebevoll miteinander umgehen und Gott preisen.« Er fixierte abwechselnd Tante Fleur und Onkel Maurice: »Wieso glaubt ihr, dass Francis gestohlen hat?« Er breitete lächelnd seine Arme aus: »Vielleicht ist das Christkind von sich aus geflohen, weil hier so viel gestritten wird.«
Die meisten lachten, und Großmutter Germaine öffnete ihre Arme, um den kleinen Francis mit seinem blutverschmierten Gesicht an ihre Brust zu drücken. »Wir sehen uns noch, Bastard«, zischte Onkel Maurice und trank seinen Weißwein in einem Zug leer. Ich schäme mich heute noch, dass ich mich nicht stellte, um Francis zu entlasten. Aber wir hatten alle Angst vor unseren Vätern und Onkeln. Ich hatte keine Freude mehr an diesem Christuskind. Ich zermalmte es drüben in der großen Scheune, bis es vollständig pulverisiert war. Dann mischte ich es unter das Hühnerfutter, und die Hühner beseitigten die letzten Spuren. Mea culpa. Leider kann ich mich bei Francis nicht mehr entschuldigen.
Ich kehrte mit meinen Römerfiguren zu meinen Eltern in die Stadt am Rheinknie zurück. Tagsüber erfand ich Geschichten für meine Elastolin-Römer, und in der Nacht traf ich sie in meiner Script Avenue und spann die Geschichten weiter. Die Geschichten wurden komplexer. Die Figuren wollten leben, Tag für Tag, und ich war ihr Gott, der ihr Schicksal bestimmte. Wenn ich morgens aufwachte, wusste ich genau, was ich heute spielen würde. Meine Mutter mochte das gar nicht. Sie kritisierte, dass ausgerechnet ihr Bruder Pierre mir Kriegsspielzeug gekauft hatte, doch mein Vater war reflexartig anderer Meinung. Ich hatte jetzt Spielzeug, das er nicht bezahlen musste. Bei meinen Eltern in der Stadt lernte ich Vilaincourt noch mehr schätzen. Hier aber war Feindesland. In Vilaincourt hatte mich die Autorität von Großmutter Germaine geschützt.
Nach dem Weihnachtsfest waren die Straßen der Stadt drei Wochen lang wie leer gefegt. Im Fernsehen lief der Krimi-Mehrteiler Das Halstuch von Francis Durbridge. Alle Menschen sprachen davon. Wer ist der Mörder?
»Schwer zu sagen«, sagte meine Mutter einer Nachbarin. Es war für sie besonders schwierig, weil wir keinen Fernseher hatten und niemand es wissen durfte. Kinos und Restaurants blieben geschlossen, Nachtschichten in Fabriken wurden gestrichen, selbst im Rotlichtmilieu saßen die Damen nicht auf den Freiern, sondern vor dem Fernseher. Leider wurden meine Drehbücher später nie zu Straßenfegern, was bei einer Auswahl von mittlerweile 1574 TV-Sendern auch nicht mehr so einfach ist, aber dafür verdiente ich später mehr als Francis Durbridge. Wir sind aber noch mitten im Kalten Krieg. Die Sowjetunion will 40 000 Soldaten auf Kuba stationieren und ihre dort in Stellung gebrachten Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen bestücken. Die Beatles machen ihre ersten Probeaufnahmen bei Decca, werden aber abgelehnt, weil Gitarrengruppen keine Zukunft mehr haben. Prognosen sind natürlich immer heikel. Erinnern Sie sich an Pablo Picasso, der behauptete, Computer seien absolut nutzlos? Oder an den großen Thomas Watson, der als IBM-Chef posaunte, dass es einen Weltmarkt für höchstens fünf Computer gebe. Sogar Bill Gates behauptete einmal, dass man nie einen Speicherplatz über 640 MB brauchen würde, und ein anderer meinte, dass es möglich sein sollte, einen Computer mit weniger als 1,5 Tonnen Gewicht herzustellen. Meine Lieblingsprognose bleibt aber: Wozu brauchen wir Telefone? Wir haben genügend Meldeboten. Auch beim Fernsehen wurde am Anfang behauptet, dass kein vernünftiger Mensch den Abend damit verbringen würde, in eine Holzkiste zu starren. Und auch über den Roman Script Avenue waren sich alle Experten einig, dass er unverkäuflich sei, weil er keinem eindeutigen Genre entspreche. Und was halten Sie gerade in den Händen? Ein Buch, das Sie bezahlt haben. Oder ist es etwa eine Raubkopie, die Sie auf Ihren iPad runtergeladen haben?
Marilyn Monroe wurde zum Sexsymbol, und meine Mutter rechnete mit einer großen Sintflut, der ultimativen Bestrafung durch die Hand Gottes. Ich stellte mir vor, dass Gott einfach auf die Erde hinunterpinkelt, bis alle ersoffen sind. Doch die Flut kam nur bis Hamburg, und ein Onkologe teilte meiner Mutter mit, dass ihre Überlebenschancen zwar gering wären, es aber durchaus schon vorgekommen sei, dass jemand so was noch ein paar Jahre überlebt habe. Sie entwickelte nun einen eisernen Überlebenswillen. Sie betete und erflehte Tag und Nacht Gottes Hilfe. Gottes Schweigen interpretierte sie als Zustimmung. Verfärbungen am Himmel waren Botschaften. Sie schmunzelte dann, weil nur sie diese Farbenspiele genau verstand. Sie würde überleben. Kein Zweifel. Manchmal hatte sie aber doch Zweifel und heulte stundenlang in ihrem Bett. Ich kuschelte mich unter ihre Decke und versuchte, ihr Mut zu machen. Wenn ich den Druck nicht mehr aushielt, blökte ich. »Hör doch auf, du bist doch kein Schaf«, sagte sie manchmal genervt. Oder: »Du hast doch gar keine Ahnung vom Leben.« Da täuschte sie sich. Ich hatte durchaus bemerkt, dass die Welt ein Ort des Grauens ist. Man hätte mir bei der Geburt unmittelbar nach dem Apgar-Test ein Schild hinhalten sollen: You’re entering a world of pain. Der Satz stammt von John Goodman (The Big Lebowski). Tim meint, ich müsse das erwähnen. Urheberrecht und so.
Wider Erwarten entwickelte meine Mutter nach einigen Monaten wieder Energie. Sie kochte wieder öfter. Leider, muss ich hinzufügen. Es gab täglich ölige Bratkartoffeln. Wir hatten im Keller einen Hundert-Kilo-Sack von Großmutter Germaine. Fleisch war etwas für reiche Leute. An Weihnachten gabs eine Büchse Ravioli, aber leider hatte meine Mutter die Angewohnheit, diese mit den Teigwaren des Vortages und mit den Reisresten der letzten Woche zu vermischen. Also für die Aufnahme in die ChaÎne des Rôtisseurs hätte es bestimmt nicht gereicht.
Was ich jetzt sage, sage ich sehr ungern. Aber ich bin auch heute Morgen aufgestanden … Hatten wir schon. Also: Meine Mutter war eine grauenhafte Köchin. Dem Blonden im hellblauen Hemd war das egal, er aß eh nicht zu Hause. War er zu Hause, stritt er mit meiner Mutter und hatte keinen Appetit. Er trank Bier, und sie predigte ihre Umerziehungspläne. Sie wollte den Naturburschen, der die Schweizer Grenzen bewachte und mit seinem...
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