Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Es war an einem warmen Nachmittag im Juni, als Johanna Bulgakov ihr Auto im Ortsteil Melverode abstellte. Sie kam von der Frühschicht im Herzogin-Elisabeth-Hospital und hatte sich einen Spaziergang um den Südsee reichlich verdient. Die frische Luft, das Sonnenlicht, das satte Grün der Bäume und Sträucher wirkten nach den Stunden im fensterlosen Raum der Radiologie wie eine kostbare Medizin. Und das ohne Nebenwirkungen.
Sie stieg aus dem weißen Polo, prüfte sorgfältig, ob die Fahrertür wirklich verriegelt war, und ging dann auf die Brücke zu, die hier die Oker überspannte. Eine leichte Brise wehte eine Locke ihres schwarzen Haars in ihr Gesicht, als sie den Fluss überquerte, der etwa zwei Kilometer weiter nördlich das Stadtgebiet von Braunschweig erreichte. Auf der anderen Seite angekommen, entschied sie sich dafür, sich nach links zu wenden und den See im Uhrzeigersinn zu umrunden. Eine fatale Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte. Sicherer wäre die andere Richtung gewesen.
Johanna schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Die Gäste würden erst in vier Stunden bei ihr zu Hause vor der Tür stehen, und ihr Mann hatte die Einkäufe bereits erledigt. Auch wenn sie langsam ging, hätte sie noch genug Zeit für eine Runde. Aber sie wollte etwas für ihr Herz tun, das in den letzten Jahren, seit sie die 40 hinter sich gelassen hatte, nicht mehr ganz so rund lief. Also schritt sie forsch aus, legte die ersten paar Hundert Meter auf dem mit Büschen und Bäumen bewachsenen Weg zügig zurück, der sich auf dem schmalen Streifen Land entlangschlängelte, neben dem auf der linken Seite träge die Oker floss und rechter Hand die Oberfläche des Sees in der hochstehenden Sonne glitzerte.
Nach einigen Minuten hatte sie die Holzbrücke erreicht, die über einen kurzen Kanal führte, der Fluss und See miteinander verband. In der Mitte blieb sie stehen, schaute in den von grünem Gestrüpp gesäumten Wasserlauf, der nach einigen Metern in den See mündete. Es sah schlammig aus und war mit braunen Algen versetzt. Da hineinzufallen wäre auf keinen Fall ein Vergnügen, dachte sie und setzte sich wieder in Bewegung.
Auf dem Asphaltweg kamen ihr einige Spaziergänger entgegen. Sie überholte zwei Frauen mit Kinderwagen, die im Gespräch vertieft langsam dahinschlenderten. Wurde ihrerseits von zwei schnaufenden Joggern überholt, die weiter vorn einem großen weißen Hund ausweichen mussten. Als sie an ihm vorbeiging, schaute er sie neugierig aus großen, schwarzen Augen an, wandte sich dann aber seinem Herrchen zu, das auf einer Bank am Ufer des Sees eine Ruhepause eingelegt hatte.
Bevor sie die Südspitze des Sees erreichte, schaute sie noch einmal auf die smarte Uhr. Herzfrequenz und -rhythmus waren nicht top, aber okay, trotz des Wetters und der Siebeneinhalbstundenschicht, die hinter ihr lag. Sie atmete tief die warme, nach Wasser riechende Luft ein. Bog auf einen Holzsteg ein, der die Spitze des Sees abschnitt und direkt über das Wasser auf die andere Seite führte. Nicht weil der Weg kürzer war, sondern weil sie ihn schöner fand. Auf der anderen Seite saß auf einer Bank eine Gestalt, die sie beobachtete und sich erhob, als sie den Steg betrat.
Johanna Bulgakov war mittelgroß und kräftig, und ihre energischen Schritte erzeugten auf den Bohlen dumpfe Geräusche. Auf der Seite des Stegs, die dem Ufer zugewandt war, ragten in gleichmäßigen Abständen hüfthohe, hölzerne Pfeiler hervor, die mit Ketten verbunden waren und ein wackeliges Geländer bildeten. In vielen der Kettenglieder hingen Liebesschlösser mit eingravierten Namen und Herzen. Johanna verlangsamte ihren Schritt, blieb stehen und schaute sich zwei, drei an: Tim & Sara, Norbert & Klaus, Kira & Burak. Dann drehte sie sich um und blickte nach Norden über den lang gestreckten See. Auf dieser Seite gab es keine Pfeiler und keine Ketten. Hier lag einem das Wasser frei und offen direkt zu Füßen. Johanna füllte ihre Lunge mit einem langen tiefen Atemzug bis in die Spitzen.
Die leichte Brise erzeugte feine Rippen auf der himmelblauen Oberfläche, in der die Wolken weiße Tupfen bildeten und die Kronen der sich spiegelnden Uferbäume grüne Zacken. Heute war wirklich ein wunderschöner Tag, dachte sie. Holte wieder tief Luft. Entließ mit dem Atem alles, was sie auf der Arbeit genervt und verärgert hatte, in die frische, laue Juniluft. Erst als sie sich umdrehte und weiterging, sah sie den Mann, der den Steg von der anderen Seite aus betreten hatte und ihr entgegenschlenderte.
Er schien nicht viel größer zu sein als sie, aber rundlicher und jünger. Trug einen ballonseidenen blauen Trainingsanzug, eine verspiegelte Sonnenbrille und ein dunkles Basecap. Dünne Barthaare bedeckten die Außenseiten seiner Wangen und kräuselten sich bis unter das Kinn hin. Er ging wie im Straßenverkehr auf der rechten Seite des Stegs an den Ketten entlang, und als er an einem der Pfeiler vorbeikam, schlug er verspielt mit der flachen Hand darauf. Griff nach der Kette und hob sie im Laufen etwas an, sodass die Schlösser metallisch aneinander klirrten.
Johanna musste auf der Seite an ihm vorbeigehen, auf der es keine Poller und Ketten gab. Wegen der verspiegelten Sonnenbrille hatte sie kurz ein etwas ungutes Gefühl. Aber was sollte hier schon passieren? Auf dem Steg stand man wie auf einem Präsentierteller. Alle Leute, die hier unterwegs waren, konnten einen sehen. Und hören, wenn man schrie. Sie fühlte sich sicher, ging an dem Mann vorbei, der an ihr vorbeiging. Die klimpernde Kette losließ. Plötzlich beide Hände vorschießen ließ und sein ganzes Körpergewicht in den Stoß legte. "Blöde Kuh! Weg da!", knurrte er und schubste sie vom Steg hinunter in das Wasser.
Johanna blieb nur Zeit, einen kurzen Schrei auszustoßen. Ein überraschtes, gequältes "Ahhh!", bevor sie platschend in das kalte Wasser eintauchte. Es war nicht besonders tief. Ihre Hände prallten auf den schlammigen Seeboden. Schmerz durchzuckte ihre rechte Handfläche. Sie versuchte sich abzustützen, aber der Arm knickte ein. Ihr Kopf, ihr Gesicht war sekundenlang unter Wasser, bevor sie sich wieder orientieren konnte. Bevor sie den Schmerz ignorieren und sich durch die Wasseroberfläche zurück ins Licht kämpfte. Bevor sie wieder Luft einatmen konnte, mit einem dunklen krächzenden Röcheln* ...
(*weitere Informationen zu den realen Fällen im Nachwort)
2
Denise warf sich hin und her. Ihre Todespanik wuchs. Luft! Sie brauchte LUFT! Mit letzter Kraft drückte sie die Hände und Füße in den weichen Schlamm des Flusses. In den Schlick, den erdigen Modder. Fand aber keinen Halt. Rutschte weg. Der Druck auf ihren Hinterkopf wurde stärker. Unter Wasser wand sie sich hin und her, zappelte herum. Fuchtelte immer schwächer mit den Armen, während die Finsternis sich in ihrem Bewusstsein ausbreitete. Bis nur noch ein schwaches Leuchten übrig war. Das schließlich auch erlöschen würde. Erstickt im eiskalten Wasser der Oker, das die letzte Wärme aus ihrem Herzen stahl. Sah plötzlich Robin durch das trübe Wasser auf sich zuschweben. Sein Haar wedelte im Strom wie eine zarte Algenart. Er schüttelte den Kopf und streckte ihr eine Handfläche entgegen, die im dunklen Wasser hell schimmerte. Wies mit dem Finger nach oben. Es war noch nicht zu Ende. Und dann konnte sie sich wieder bewegen. Strampelte sich frei ... aus dem Schlamm ... aus der Decke ... erwachte ... im gleißenden Sonnenlicht des Nachmittags ... kein Schlamm ... kein Wasser ... atmete stoßartig ... fast wäre sie ertränkt worden. Damals.
Paul-Robin stand vor ihr und tätschelte ihre Hand. Knapp einen Meter groß, die gleichen Augen, die gleichen Gesichtszüge, sein Haar. "Mama. Bist du wach?", fragte er mit hoher Stimme.
Denise richtete sich seufzend auf. "Ja, mein Schatz, ich bin wach." Sie strich ihrem Sohn über den Kopf. "Da habe ich wieder schlecht geträumt, was? Ich sollte mich nachmittags nicht hinlegen", sagte sie und schob die Decke zur Seite. So intensiv hatte sie schon lange nicht mehr von ihrer brutalen Nahtoderfahrung geträumt. Von dem Mann, der sie unter das Wasser gedrückt hatte und sie ermorden wollte.
Über dreieinhalb Jahre war es her, dass der Serienmörder Constantin Fischer, der von den Medien Der Flussmann genannt worden war, erst ihren Ehemann ermordet und dann auch versucht hatte, sie zu töten. Mit einem Elektroschocker hatte er seine vielen Opfer bewegungsunfähig gemacht und sie dann in Flüssen ertränkt. Ihr Ehemann Robin war das letzte dieser Opfer gewesen, denn jetzt saß der Psychopath im Gefängnis und verbüßte eine siebzehnjährige Haftstrafe mit anschließender lebenslanger Sicherungsverwahrung. Wenn er nicht irgendwann, irgendwie würde entkommen können.
Denise lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter, wenn sie an den Mann dachte. Wie kaltschnäuzig und arrogant lächelnd er im Gerichtssaal gesessen hatte. Ohne ein Fünkchen Reue. Ohne ein Körnchen Empathie. Und dieser Mensch hatte als Heil- und Erziehungspfleger gearbeitet, es war kaum zu glauben.
Sie blickte auf ihren Sohn, Paul-Robin, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war ... wenn sie ihn nicht hätte, dann ... Denise erhob sich von der Couch, knüllte die Decke zusammen und schob sie auf die Seite. "Wer möchte denn einen schönen kalten Kakao?", fragte sie und schaute sich im Zimmer um.
"Ich! Ich! Ich!", rief Paul und hopste ihr voraus in die Küche.
Der Junge war ziemlich aufgedreht, denn heute, am 21. Juni, war sein 3. Geburtstag. Sommersonnenwende. Im Schrebergarten von Tobi und Anika würden sie das...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.