Schweitzer Fachinformationen
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Jeden Morgen, pünktlich um 10 Uhr, tritt Professor Liliencron vor sein Haus, und dann geschieht immer dasselbe: Er schöpft tief Luft, so als würde er in den Alpen auf einem Berggipfel stehen und das gesunde Klima einsaugen. Auch seine Kleidung sieht nach Wanderlust aus. Schiebermütze, Lodenjacke, Kniebundhose. Neben ihm wartet schon sein Foxterrier. Er wedelt erwartungsfroh mit dem Schwanz und denkt sich »Jetzt geht's los!«.
Dann trotten die beiden die Klamtstraße hinunter, eine kleine Seitenstraße des Kurfürstendamms. Am ersten Baum machen sie halt. Der Hund schnuppert. Herr Liliencron holt ein Buch aus der Manteltasche und liest. Nichts bringt sie aus der Ruhe. Nachbarn grüßen. Herr Liliencron nickt freundlich zurück und vertieft sich wieder in sein Buch. Der Hund umkreist derweil den Baum, so schnell es nur geht, die Schnauze immer dicht am Stamm, wo ein paar Grashalme wachsen. Manchmal bellt er den Baum an, knurrt auffordernd, so als wolle er mit ihm spielen. Dann hebt er das Bein.
Das kann eine gute halbe Stunde so weitergehen. Irgendwann klappt Herr Liliencron sein Buch zu, steckt es in die Manteltasche und schickt sich an, den Heimweg anzutreten. Der Hund denkt nicht daran. Er möchte noch länger, noch viel länger, mit dem Baum spielen. Herr Liliencron ruft ihn dann leise, aber streng bei seinem Namen: »Levi!«
Levi weiß, dass er gemeint ist. Folglich versucht er jedes Mal aufs Neue ein Gesicht aufzusetzen, das - seiner Einschätzung nach - eine gewisse herzzerreißende Wirkung nicht verfehlen dürfte. Dazu jault er erbärmlich, zieht den Schwanz ein und schmiegt sich an den Baum, als Zeichen tief empfundener Unzertrennlichkeit.
Herr Liliencron geht schon mal vor. Er packt, scheinbar beiläufig, ein Stück Schokolade aus. Das Knistern des Papiers macht Levi wankelmütig. Den Baum gibt es auch morgen noch, denkt er sich. Wir werden uns immer wiedersehen. Alles, was vergänglich ist, sollte Vorrang genießen.
Der Herr Professor und sein Hund. Immer zur selben Stunde, immer am selben Baum. Mitten in Berlin.
Familie Liliencron bewohnt ein Stadtpalais, das die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ihrem Ehrenmitglied zur Verfügung stellt.
Professor Carl Liliencron hat die Ehre, seit ihm die Cothenius-Medaille in Gold verliehen wurde. Kurz darauf ist er mit seiner Frau Rahel und den beiden Kindern, Georg und Else, in das prächtige Haus gezogen.
»In dieses Haus gehört ein Hund«, sprach er feierlich. So kam Levi in ihr Leben.
Jetzt ist Frühling. Im Jahr 1938.
Liliencron ist in der langen Geschichte der Leopoldina der jüngste Würdenträger. 42 Jahre jung. Trotzdem hat er bereits weiße Haare, die sich seitwärts des kahlen Schädels wild aufbäumen, wie sich das für den Träger der Cothenius-Medaille in Gold gehört. Manchmal weiß die Natur des Menschen schon im Voraus, was die Kultur noch mit ihm vorhat.
Liliencrons Thema ist die Mikroskopie. An seinem Institut erforscht er die Beziehungen zwischen arktischem und antarktischem Plankton.
»Alles, was größer ist als vier Tausendstel Millimeter, interessiert mich nicht«, sagt er gern.
So begründet er auch sein Desinteresse an Adolf Hitler. Oder an Politik. Oder an der Zukunft. »Alles zu groß«, ist seine Meinung dazu.
Ausgerechnet dieser Mann, der alles für unwichtig erklärt, was mit bloßem Auge sichtbar ist, hat eine Frau, deren Schönheit auf den ersten Blick ins Auge sticht. Ist das nicht merkwürdig?
Rahels Schönheit war schon immer Gesprächsstoff in Berlin. Sie hatte berühmte Verehrer, Wilhelm Furtwängler zum Beispiel oder Peter Lorre. Aber dann wählte sie den Mann mit dem Mikroskop. »Er sieht das Unsichtbare, das ist doch lustig, oder?«
Rahel Liliencron nimmt das Leben von der heiteren Seite. Schon morgens, wenn sie sich ankleidet und frisiert, klingt fröhliche Musik aus dem Grammophon. Die Schallplatten, zu denen in Berlin gerade getanzt wird.
»Komm, Carl«, fordert sie ihren Mann auf, »tanz mit mir!« Er schüttelt den Kopf. Zu jung für die Cothenius-Medaille, zu alt für die Gegenwart, denkt er sich. Seltsam.
Manchmal tanzt er dennoch mit.
Rahel liebt modische Kleidung. Ihre Schwester, die in Paris lebt, schickt jeweils die aktuellen Illustrierten. Rahel lässt dann nachschneidern. Schnell! Sie will die Erste in Berlin sein, die mit den neusten Modellen der Saison Aufsehen erregt.
Bis heute weiß Rahel nicht, was genau Plankton ist. »Hauptsache, du weißt es«, sagt sie zu Carl.
Sie zeigt ihm das rosa Kostüm, das die Schneiderin gerade fertiggestellt hat. Ein Entwurf von Coco Chanel. »Das kann dein Plankton nicht.«
»Da irrst du dich, meine Liebe«, antwortet Carl. »Die Grünalgen verändern ihr Farbenkleid jede Saison. Je nachdem, welches Licht welcher Wellenlänge ihre Membrane absorbieren.« Er lächelt liebevoll. »Ich verweise auf mein Standardwerk Phytoplankton und Photosynthese. Da kannst du das nachlesen.«
Rahel kennt das Buch. Es ist einer der dicken Wälzer, die sie aus der Bibliothek holt, wenn Carl tagsüber im Institut ist. Sie stapelt die Bücher dann am Boden aufeinander. »Levi!«, ruft sie. »Mach hopsasa!«
Levi ist ein kluger Hund. Schon nach drei oder vier Anläufen weiß er, was gefragt ist. Mal springt er über das Hindernis, mal thront er obenauf und macht Männchen.
Oder, aufs Kommando »Levi, lies!«, tut er so, als würde er mit den Pfoten in dem Buch blättern. Dann sackt er plötzlich theatralisch zusammen, schließt die Augen und schnarcht.
Er liebt diese kleinen Kunststücke.
Am späten Nachmittag kommt Carl meist mit ein paar Kollegen aus der Akademie nach Hause, dann ziehen sie sich in die Bibliothek zurück, trinken Cognac und fachsimpeln. Professor Hertz ist dabei, der Nobelpreisträger für Physik, und Rafael Honigstein, der berühmte Paläontologe. Die Gespräche verlassen in letzter Zeit immer häufiger die Naturwissenschaften und landen bei der Politik. Bei den Rassegesetzen. Bei der Bücherverbrennung. Bei den Schikanen gegen jüdische Gelehrte und Studenten. Düstere Zeiten. Was tun?
Levi hört aufmerksam zu.
Gleich kommt wieder der Moment, in dem Liliencron zum Regal schreitet und mit furioser Geste das Buch Mein Kampf in die Luft hält.
Levi richtet sich auf, bellt mehrmals lauthals und reißt dann die rechte Pfote hoch zum Hitlergruß. Auch ein Kunststück, das ihm Rahel beigebracht hat.
Die akademische Runde applaudiert. Man weiß auch: Das ist das Zeichen zum Aufbruch.
»Du musst ihm noch beibringen, auf dem Buch sein Geschäft zu erledigen«, sagt Carl zu seiner Frau, die die Gäste zur Tür begleitet.
Die Abende im Haus Liliencron sind dem Familienleben gewidmet. Putti, das Schweizer Dienstmädchen, serviert das Essen im Gartenzimmer. Später gibt Else ein kleines Konzert am Klavier.
»Sie hat Talent«, hatte der Dirigent Fritz Mahler gesagt, auch ein Freund des Hauses, der mit Else gelegentlich vierhändig spielte. »Ich habe allerdings große Zweifel, ob unser Führer dafür ein Ohr hat.«
Vor zwei Jahren ist Mahler emigriert, er wollte Else nach New York mitnehmen. Aber ihre Eltern fanden, sie sei zu jung dafür. Sie war damals dreizehn.
Der schwarze Bechstein-Flügel steht im Salon. Else spielt den zweiten Satz von Schuberts Sonate in B-Dur. Ein wehmütiges Andante, das immer zarter, immer leiser wird, bis nur noch der Hauch einer Berührung auf den Tasten liegt. Der gewaltige Flügel flüstert auf einmal Töne, die nahezu nicht mehr hörbar sind.
Else scheint in der Musik zu ertrinken. Ihre roten Haare fallen wie Wellen auf die Tasten, ihre blasse Haut spiegelt sich in dem Flügel, als wäre er ein dunkler, tiefer See. Die letzten Akkorde: Der Tod und das Mädchen.
Else spürt in diesem Augenblick die Ungeduld ihres Herzens. Die Sehnsucht nach der ersten großen Liebe. Wann ist es endlich so weit?
Georg ist ihr älterer Bruder. Er steht kurz vor dem Abitur am Fichte-Gymnasium. In der Abschlussklasse ist er der letzte »nicht arische« Schüler. Er will Arzt werden. Aber jüdischen Studenten ist die Universität verwehrt.
Vater Liliencron bleibt unerschütterlich: »Du weißt doch, Sauerbruch hat versprochen, ein gutes Wort für dich einzulegen.«
Georg hat bereits im Alter von sechs Jahren Katzen seziert, und die Schädel der kleinen Tiere stehen, präpariert in Formalin, bis heute auf seinem Schreibtisch.
Zur Schule geht er stets in Anzug und Krawatte. Wenn er heimkommt, ist seine Kleidung oft ramponiert. »Notwehr«, lautet sein Kommentar, achselzuckend. Er lächelt maliziös bei dem Gedanken an die Blessuren, die seine Angreifer einstecken mussten.
Georg ist Mitglied in der Sportvereinigung Ostberlin. Sein Trainer ist Werner Seelenbinder, der deutsche Meister im Ringen des Halbschwergewichts, der bei den Olympischen Spielen 1936 auf dem Siegerpodest den Hitlergruß verweigerte.
Verweigerung? Widerstand? Resignation? Flucht?
Georgs Gedanken bewegen sich im Kreis, aber die Kreise werden immer kleiner, und er weiß: Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Zukunft, dieses unberechenbare Ungeheuer, marschiert mit hocherhobener Fahne auf die Liliencrons zu - und was dann?
»Schaut mal, dieser Himmel!«,...
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