Schweitzer Fachinformationen
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Der Traum war immer der gleiche.
Ich schwimme im Meer. Unter Wasser, mit angehaltenem Atem, schiebe ich mich vorwärts durch eine flüssige, blau-grüne Welt. Meine Glieder sind sauber und stark, meine Schwimmzüge mühelos kraftvoll, Sonnenlicht schimmert auf der Oberfläche hoch über mir.
Ausgeatmete Blasen bilden einen Pfad, auf dem ich aufsteige. Die untergehende Sonne malt farbige Bänder in die purpurne Himmelskuppel. Von etwas Unbekanntem angezogen - meine Handlungen sind weder freiwillig noch unfreiwillig, sie sind einfach -, schwimme ich weg vom Ufer. Die Nacht sinkt langsam und dann plötzlich herab, und daraufhin habe ich das schreckliche Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Das alles ist ein großer Irrtum. Ich wende mich zurück zum Ufer und sehe nirgendwo Lichter. Das Land ist verschwunden. In meiner Panik drehe ich mich im Wasser hin und her, und jeder Orientierungssinn ist verschwunden. Ich bin allein im endlosen Meer.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Proctor.«
Eine Frau schwimmt neben mir in geschmeidigem Bruststil. Sie hält den Kopf aufrecht über Wasser wie ein Seehund. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, und ihre Stimme kenne ich nicht. Aber etwas an ihrer Anwesenheit erfüllt mich mit großer Ruhe. Es ist, als hätte ich auf sie gewartet, und jetzt ist sie hier.
»Es dauert nicht mehr lange«, sagt sie sanft. »Ich zeige dir den Weg.«
»Wo wollen wir hin?«
Aber sie antwortet nicht. Sie gleitet davon, und ich folge ihr. Ich spüre keinen Wind, keine Strömung. Der Meeresspiegel ist bewegungslos wie Stein, und das einzige Geräusch ist das sanfte Zischeln des Wassers, das durch unsere gewölbten Hände strömt.
Sie deutet zum Himmel. »Kannst du ihn sehen?«
Ein einzelner, strahlender Stern ist erschienen. Er ist anders als die anderen - heller, klarer, mit einem bläulichen Schimmer.
»Erinnerst du dich an den Stern, Proctor?«
Sollte ich? Meine Gedanken sind diffus und treiben dahin wie Strohhalme in der Strömung. Sie hüpfen von einem Punkt zum anderen. Das Meer, seine unpersönliche, tintenschwarze Weite. Der Stern, der den Himmel durchbohrt wie ein Leuchtfeuer. Alles ist bekannt und unbekannt, alles vertraut und fremd.
»Du frierst«, sagt sie.
Das stimmt. Meine Glieder zittern, meine Zähne klappern. Sie kommt an meine Seite.
»Nimm meine Hand.«
Das habe ich anscheinend schon getan. Ihre Haut ist warm und scheint vor lauter Leben zu pulsieren. Es ist ein starkes Gefühl, machtvoll wie eine Flutwelle. Es fließt durch meinen Körper wie eine weiche Welle. Wie das Gefühl, heimzukehren. Zu Hause zu sein.
»Bist du bereit?«
Sie dreht sich zu mir um. Für einen Augenblick ist ihr Gesicht zu sehen, aber das Bild verschwindet zu schnell wieder und lässt sich nicht bewahren, und dann drückt sie ihren Mund auf meinen und küsst mich. Ein Strom von Gefühlen durchrauscht mich. Es ist, als wären mein Geist und mein Körper plötzlich mit grenzenlosen Kräften verbunden. Ich denke: So fühlt es sich an zu lieben. Wie haben wir nur vergessen, wie man liebt? Die Arme der Frau haben sich um mich geschlungen und drücken meine Hände an meine Brust. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass das Wasser seinen Charakter verändert. Es wird weniger dicht.
»Zeit aufzuwachen, Proctor.«
Ich strample wie wild, um mich an der Oberfläche zu halten. Aber es nützt nichts. Es ist, als strampelte ich in der Luft. Ich hänge fest und kann mich kaum bewegen. Das Meer löst sich auf und klafft wie ein weit geöffneter Schlund. Die Angst schnürt mir die Kehle zu, ich kann nicht schreien .
Ihre Stimme ist ein Flüstern dicht an meinem Ohr: »Schau nach unten.«
Ich tue es, und damit stürze ich ab. Wir stürzen, in einen endlos schwarzen Abgrund, und das Letzte, was ich denken kann, ist dies:
Das Meer ist voller Sterne.
Mein Name ist Proctor Bennett. Dies ist, was ich mein Leben genannt habe.
Ich bin ein Bürger eines Inselstaats namens Prospera. Weit entfernt von jeder Landmasse, existiert Prospera in wunderbarer Isolation, verborgen vor der Welt. Sein Klima ist wie alles andere absolut wohltuend: warmer Sonnenschein, kühlende Meeresbrise und häufige, sanfte Regenfälle. Insel eins, bekannt als das eigentliche Prospera, ist fast kreisrund und erstreckt sich über 482 Quadratmeilen. Hier leben alle Prosperaner. Mit seinen von kristallinem weißem Sand bedeckten Stränden, den von zahllosen Wildtieren bevölkerten Wäldern und den Tälern mit äußerst fruchtbarem Boden im Inland könnte man es irrtümlich für ein mythologisches Paradies halten. Insel zwei, bekannt als Annex, ist der Wohnsitz des Hilfspersonals - das sind Männer und Frauen von geringerer biologischer und sozialer Ausstattung, deren Gesellschaft nach meiner Erfahrung gleichwohl durchaus angenehm sein kann. Mit einem Viertel der Größe Prosperas ist sie mit der Hauptinsel durch eine Pontonbrücke verbunden, auf der ihre hilfreichen Bürger täglich herüberkommen, um ihren diversen Aufgaben nachzugehen.
Die letzte der drei Inseln unterscheidet sich insofern von den anderen, als wir kaum wissen, was dort vor sich geht, nur dass dort etwas ist. Man nennt sie die Nursery. Geschützt durch gefährliche Untiefen und turmhohe Klippen, könnte man sie mit einer schwimmenden Festung vergleichen. Es gibt nur eine Möglichkeit, dort zu landen, eine Öffnung an der Ostflanke der Insel, wo die Fähre hindurchfährt - eine Reise, die jeder Prosperaner zweimal pro Iteration unternimmt, einmal am Anfang, einmal am Ende. Ich kann nicht sagen, wer auf der Nursery lebt, aber zweifellos muss jemand dort sein. Manche sagen, dass der Designer selbst dort residiert und den regenerativen Prozess beaufsichtigt, der als Fundament unserer außergewöhnlichen Lebensweise dient.
In diesem opulenten Land, frei von Not und Ablenkung, widmen sich die Prosperaner den höchsten Zielen. Kreativer Ausdruck und das Streben nach persönlicher Höchstleistung - das sind die Eckpfeiler unserer Zivilisation. Wir sind eine Gesellschaft von Musikern und Malern, von Dichtern und Gelehrten, von Handwerkern jeder Art. Die Kleider, die wir tragen, die Speisen, die wir essen, die gesellschaftlichen Versammlungen, an denen wir teilnehmen, die Räume, in denen wir arbeiten und ruhen und uns erholen - jede Facette des Alltags unterliegt einem kuratorischen Blick von höchster Gewissenhaftigkeit. Man könnte sagen, Prospera selbst ist ein Kunstwerk, eine Leinwand, auf der jeder unserer Bürger einen auf das Kunstfertigste ausgeführten Pinselstrich zur Geltung bringt.
Was ist unsere Geschichte? Wie sind wir entstanden? Auf diese Fragen habe ich kaum eine Antwort; selbst das Jahr ist mittlerweile schwer zu bestimmen. Und was wir über den derzeitigen Zustand der restlichen Welt wissen, ist in einem Wort: nichts. Geschützt durch den Schleier - eine elektromagnetische Barriere, die uns vor der Welt verbirgt und die Welt vor uns -, bleiben wir von dieser trübseligen Geschichte verschont. Aber man kann es sich leicht vorstellen. Kriege, Seuchen, Hungersnöte, der Zusammenbruch der Umwelt, gewaltige Migrationsbewegungen und Fanatismen jeglicher Couleur, eine Welt, so dezivilisiert wie die Völker der Erde, die sich konkurrierenden Göttern verschrieben haben und sich gegeneinander wenden - das waren die Schrecknisse, die den Designer in vergangenen Zeiten dazu inspirierten, unsere verborgene Zuflucht zu errichten. Selten, wenn überhaupt, sprechen wir von diesen Dingen, allgemein als »Die Schrecknisse« bekannt, denn das bringt keinen Gewinn. Das ist, könnte man sagen, das Herz des designerischen Genies und auch Prosperas ganzer Sinn: das Beste der Menschheit vor dem Schlimmsten zu beschützen.
Prospera zu verlassen ist natürlich verboten. Wenn sich unsere Existenz herumspräche, würde alles in Gefahr geraten. Aber wer könnte schon den Wunsch hegen, einen solchen Ort zu verlassen? Von Zeit zu Zeit hört man von jemandem - ausnahmslos Angehörige des Hilfspersonals -, der törichterweise versucht hat, auf die andere Seite des Schleiers zu reisen. Aber da niemand von denen je zurückgekehrt ist und da unsere Existenz ein Geheimnis geblieben ist, kann man mit Sicherheit annehmen, dass diese Unruhestifter gescheitert sind. Vielleicht hat das Meer sie verschlungen. Vielleicht haben sie keine Welt gefunden, die sie aufnehmen wollte, weil jegliche Zivilisation sich am Ende restlos selbst verzehrt hat. Vielleicht, so behauptet eine allerorten erzählte Sage, sind sie auch einfach über den Rand der Welt ins Nichts gesegelt.
Was mich selbst betrifft: In meiner derzeitigen Iteration bin ich zweiundvierzig Jahre alt. (Prosperaner starten die Uhr mit sechzehn, etwa dem biologischen Alter neuer Iteranten, frisch von der Fähre.) Mein aktuelles soziales Arrangement, mein erstes, ist ein Vertrag über fünfzehn Jahre einer heterosexuellen Ehe. Verlängerbar. Nach acht gemeinsamen Jahren würde ich sagen, dass Elise und ich im Allgemeinen glücklich sind. Wir sind nicht mehr das glühende Liebespaar, das wir waren, als wir die Hände praktisch nicht voneinander lassen konnten. Aber diese Dinge nehmen im Laufe der Zeit ab und münden im besten Fall in einer entspannteren, behaglicheren Partnerschaft, in der auch wir uns jetzt befinden. Unser Haus, das Elise' Vormünder bezahlt haben - angesichts meines relativ bescheidenen Gehalts im Staatsdienst könnte ich mir so etwas niemals selbst leisten -, steht auf einer felsigen Halbinsel an der Südküste Prosperas. Nie habe ich Elise so selig und in ihrem Element gesehen wie...
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