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1918
Lilian fiel dem fremden Mann um den Hals und küsste ihn auf die Wangen. Zunächst sah er sie entgeistert an, doch er erwiderte ihr breites Lächeln, als sie rief: »Ist es nicht herrlich?«
»Ja«, entgegnete er, »heute ist in der Tat ein Freudentag.«
Lilian nickte strahlend, löste sich von ihm und ging weiter - oder vielmehr versuchte sie es: Genau betrachtet war an ein rasches Fortkommen nicht zu denken. Obwohl es November und das Wetter regnerisch war, begann sie, inmitten der vielen Menschen auf Londons Straßen und Plätzen zu schwitzen.
Seit Stunden war sie auf den Beinen. Eigentlich hatte sie mit dem Bus hierherfahren wollen, doch der war bis zum letzten Platz besetzt gewesen. Männer und junge Burschen hatten sich an Türen und Fenster geklammert, um mitzufahren. Schließlich hatte sie sich zu Fuß bis zum Trafalgar Square durchgekämpft und überlegte nun, ob sie Richtung St. James's Park gehen oder lieber den Buckingham Palace ansteuern sollte. Natürlich könnte sie über die Whitehall auch bis zur Downing Street gelangen, wo der Menschenauflauf kaum geringer war: Schließlich wollte jeder einen Blick auf David Lloyd George, den Premierminister, erhaschen.
Ehe sie sich entschieden hatte, wurden die Jubelschreie, die nun schon seit Stunden nicht abrissen, plötzlich lauter: Berittene Polizisten folgten einem offenen Pferdewagen, in dem König George V. und seine Gattin Mary Platz genommen hatten.
»Was für eine würdige Erscheinung!«, sagte eine Frau dicht neben ihr.
Im Grunde bekam Lilian nichts von der königlichen Kutsche zu sehen, war ihr die Sicht doch nicht nur von Köpfen, sondern obendrein von Regenschirmen verstellt, aber sie nickte dennoch eifrig.
»Wir können wirklich stolz auf unseren König sein.«
Die Frau tätschelte ihren Arm, und Lilian lächelte strahlend. Insgeheim musste sie jedoch daran denken, wie verhasst der König seinem Volk lange Zeit gewesen war - und nicht nur diesem. Als der britische Premierminister einmal zu ihm bestellt wurde, hatte er zuvor abfällig erklärt: »Ich möchte wissen, was mir mein kleiner deutscher Freund zu sagen hat.«
Doch man mochte dem König viel nachsagen, an Gerissenheit, so war Lilian überzeugt, fehlte es ihm nicht: Erst im letzten Jahr hatte er für sich und alle seine Nachkommen auf seine deutschen Namen und Titel verzichtet, um künftig den Namen Windsor tragen zu können, und ob die Menschen nun schlichtweg dumm, vergesslich oder gutmütig waren: Kaum einer dachte mehr an seine wahre Herkunft, schon gar nicht an einem Tag wie heute.
Lilian fiel auch der fremden Frau um den Hals: »Ich bin so froh, dass der Krieg endlich vorbei ist!«, rief sie.
Die Frau erwiderte ihre Umarmung, und als Lilian sich von ihr löste, war ihr Lächeln noch breiter. Sie drängte sich weiter durch die Menge und kam an einer Gruppe junger Männer vorbei, die schon ziemlich betrunken waren. Sie schwenkten den Union Jack, aber auch das amerikanische Sternenbanner und sangen ebenso laut wie falsch.
Lilian legte ihren Kopf schief: »Darf ich mit euch tanzen?«
»Wer könnte zu einer so hübschen Frau nein sagen?«
Lilians Lächeln war nicht länger strahlend, sondern kokett. Sie wusste, dass sie keine klassische Schönheit war: Ihre Haut war nicht vornehm blass, sondern mit Sommersprossen übersät, das Haar fiel nicht in goldenen Locken über ihre Schultern, sondern in Form ungebärdiger, brauner Krausen, aber ihre dunklen Augen waren groß und glänzten, die Grübchen auf den Wangen wirkten neckisch, und sie konnte sich ebenso leichtfüßig wie wendig bewegen.
Eine Weile tanzte sie mit den jungen Männern, ehe sie sie stehen ließ und Richtung Green Park aufbrach. Immer wieder fiel sie weiteren fremden Menschen um den Hals und beteuerte, wie glücklich sie sich alle schätzen konnten.
»Welche Erleichterung, dass der Krieg vorbei ist.«
»Unsere Jungs haben so tapfer gekämpft.«
»Den Hunnen haben wir es aber gezeigt.«
Schließlich entfernte sie sich aus dem dichten Gedränge und zog sich in eine stille Ecke zurück. Sie lehnte sich an die Wand eines Tabakwarenladens und genoss es, das Gewicht in ihrer Tasche zu spüren. Noch war nicht der rechte Zeitpunkt, das Diebesgut, das sie den Menschen unbemerkt abgenommen hatte, eingehend zu betrachten und seinen Wert zu bestimmen. Doch sie war sicher, dass sie seit langem nicht mehr mit solch einer üppigen Ausbeute nach Hause gekommen war. Sie lächelte in sich hinein.
Ja, heute war ein guter Tag.
Als Lilian in die ärmliche Mietwohnung im Eastend zurückkehrte, war sie völlig vom Regen durchnässt. Sie pustete in ihre eiskalten Hände, spürte aber dennoch fast nichts. Ihre Finger waren zu steif, um das Diebesgut Stück für Stück aus der Tasche zu ziehen, weswegen sie es einfach auf dem Boden ausleerte.
»Suzie, schau! Die Taschenuhr ist von einem jungen Mann. Als ich ihn umarmte, wurde er ganz steif, und hinterher war er so wild darauf, den Staub von der Jacke zu wischen, dass dieser Dummkopf gar nicht bemerkt hat, was ich habe mitgehen lassen. Die Brosche ist von einem alten Weib. Die hatte so viel Schmuck, da fällt ein fehlendes Stück nicht weiter auf. Und außerdem machen sie all die Juwelen auch nicht schöner, im Grunde kann sie mir dankbar sein. Die Münzen stammen von ein paar jungen Männern. Auch die sind besser dran, weil ich das Geld habe - sie würden es ja doch nur für Schnaps ausgeben, und besoffen waren sie schon genug.«
»Wenn man dir zuhört, könnte man denken, du tust den Menschen einen Gefallen, wenn du sie bestiehlst!«
Suzie runzelte skeptisch die Stirn. Obwohl sie zu Hause geblieben war, fröstelte auch sie - kein Wunder, da sie bislang keine Kohlen hatten kaufen können.
»Nun können wir endlich einheizen!«, schwärmte Lilian. »Und uns einmal richtig satt essen. Wir werden feiern!«
»Was denn?«, fragte Suzie skeptisch. »Weil der Krieg vorbei ist oder weil du so viel erbeutet hast?«
»Weder noch! Vielmehr, dass wir jung sind und ein Dach über dem Kopf haben. Die Zukunft gehört uns!«
Lilian eilte auf sie zu, zog sie an sich und drehte sich ein paarmal mit ihr im Kreis.
»Hör auf!«, wehrte sich Suzie. »Mir wird ganz schwindlig! Und was das Dach über dem Kopf anbelangt - Mrs Merrywether war vorhin gerade hier und wollte ihre Miete haben.«
Lilian unterdrückte ein Seufzen. Mrs Merrywether zeigte gegenüber den zwei jungen, unverheirateten Dingern, wie sie sie nannte, großes Misstrauen. Immer wieder fragte sie neugierig, was sie den ganzen Tag so trieben. Dass Suzie als Näherin fleißig zu Hause arbeitete, hatte sie irgendwann zufriedengestellt, doch dass Lilian den ganzen Tag über fort war und nie sagte, welcher Arbeit sie nachging, nahm sie ihr sichtlich übel.
»Sie kann froh sein, dass wir für dieses Loch überhaupt etwas bezahlen.«
Dieses Loch war ein winziger Raum mit einem Herd, einem wackeligen Tisch, zwei noch wackeligeren Stühlen und zwei durchgelegenen Matratzen anstelle von Betten. Im Winter war es so kalt, dass sie zusammengekuschelt auf einer lagen - so wie einst schon im Waisenhaus, wo sie sich nicht nur gegenseitig gewärmt, sondern sich die Läuse geteilt hatten, den Hunger und die Sehnsucht nach den Eltern, die sie beide in früher Kindheit verloren hatten. Mittlerweile hatten sie die Eltern vergessen, waren einander wie Schwestern und kämmten sich die Läuse gegenseitig aus dem Haar - was bei Lilians kräftigen Krausen eindeutig schmerzhafter war als bei Suzies rötlichen, glatten Strähnen. Was wiederum den Hunger anbelangte, hatte Lilian diesen im Waisenhaus stoisch ertragen, doch als sie alt genug waren, um von dort zu fliehen, hatte sie geschworen, dass sie von nun an gut und reichlich essen würde, koste es, was es wolle. Auch wenn sie irgendwann in die Hölle kommen sollte - lieber wollte sie mit vollem Bauch sündigen, als darbend, fahl und schwach vor Gott auf den Knien zu rutschen.
Satt zu sein, war etwas, was auch Suzie genoss - nur bei der Wahl der Mittel, den Magen zu füllen, war sie etwas zimperlicher.
Sie machte sich von Lilian los: »Eigentlich ist es gemein, die Freude der Menschen über das Ende des Krieges so schamlos auszunutzen.«
»Wir haben endlich Frieden, und dafür mussten die meisten größere Opfer bringen als eine Brosche oder eine Taschenuhr. Ich werde zusehen, dass ich sie in den nächsten Tagen zu Geld mache. Nimm einstweilen die Münzen und geh einkaufen.«
»Und was machst du?«, fragte Suzie entgeistert.
»So leicht und viel wie heute habe ich es noch nie gehabt - das muss ich ausnutzen. Die Menschenmenge hat sich langsam zerstreut, aber die, die noch auf den Straßen rumlungern, sind so betrunken, dass sie leichte Beute sind.«
Suzie schüttelte mahnend den Kopf. »Kannst du denn gar nicht genug bekommen?«
»Genug? Was soll das sein? Vom Geld...