Schweitzer Fachinformationen
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Wien 1907
»Verdammt, kannst du nicht aufpassen, du Trampel?«
Veruschka heulte auf, ergriff eine der spitzen Nadeln und stach in Mariettas Richtung. Diese wich in letzter Sekunde aus und musste sich auf die Zunge beißen, um sich eine wütende Entgegnung zu verkneifen. Nicht sie war achtlos gewesen, sondern Veruschka selbst. Anstatt bei der Kleiderprobe ruhig zu halten, tänzelte sie ständig herum, als wollte sie aller Welt beweisen, wie unzumutbar es für eine ehrgeizige Ballerina war, auch nur für wenige Minuten stillzustehen.
»Nun mach schon! Wie lange soll ich denn noch warten?«
Vorsichtig näherte sich Marietta wieder der russischen Tänzerin. Anstatt sie wütend anzufunkeln, wie es ihre erste Regung war, hielt sie ihre Augen gesenkt und konzentrierte sich auf den Saum des kurzen Kleides.
»Gott, ich verstehe nicht, wie man solche wie dich hier Kostüme nähen lässt.«
Veruschka sprach wie immer mit starkem Akzent und rollendem »R«. Wenn man sie nur hörte und nicht sah, hätte man sie für die behäbige Wirtin einer zweitklassigen Spelunke am Prater halten können. Ihre Stimme stellte einen nahezu schmerzhaften Kontrast zu ihrem filigranen Körper dar. Wobei dieser Körper in den letzten Wochen nicht mehr ganz so filigran wirkte. Marietta war nicht entgangen, dass die Tänzerin um die Hüften etwas zugelegt hatte - vielleicht war das der Grund für ihre schlechte Laune.
Flink und geschickt wie immer steckte Marietta den Saum ab. Veruschka nahm keine Rücksicht darauf, sondern tänzelte weiter, sodass Marietta ihr auf Knien hinterherrutschen musste. Trotzdem gelang es ihr in Windeseile, das Kleid zu kürzen, ohne dass der Saum schief geriet.
»Ich bin fertig«, erklärte sie stolz.
»Na endlich!«, stöhnte Veruschka.
Sie reckte das Kinn und rauschte grußlos davon.
Marietta erhob sich und streckte mit einem Stöhnen den Rücken durch. Ihre Knie fühlten sich taub an. Seit dem frühen Morgen schuftete sie in der stickigen Garderobe des kaiserlich-königlichen Hoftheaters, deren Enge ihr ebenso zusetzte wie das schlechte Licht. Ununterbrochen hatte sie an neuen Kostümen genäht, an Seidenhandschuhen und an Augenmasken, hatte alte ausgebessert, Federn und Perlen an Kopfschmuck angebracht und Seidenbänder an Schuhen. Jetzt war sie zum ersten Mal alleine mit Lene - eine Schneiderin wie sie, jedoch viel älter und ungleich mehr von Rückenschmerzen geplagt. Zumindest behauptete sie das, während Marietta sie insgeheim verdächtigte, dass es nur ein Vorwand war, um nicht auf Knien herumzurutschen und Säume abzustecken. Solche undankbaren Aufgaben überließ sie lieber ihr.
Immerhin ließ sich mit Lene wunderbar über die Tänzerinnen lästern.
»Ihre Zeit ist vorbei«, sagte Lene mitleidslos. »Vielleicht schafft sie es noch diese und die nächste Saison, aber dann wird sie wohl nach Russland zurückkehren, um dort kleine Elevinnen zu drangsalieren.«
»Vielleicht bleibt sie auch hier in Wien und gibt in der hiesigen Ballettschule Unterricht«, meinte Marietta. »Die künftigen Schülerinnen tun mir jetzt schon leid.«
»Wenigstens müssen wir dann nicht mehr für sie nähen.« Lene seufzte. »Ach mein Gott, wie mir die Augen wehtun!«
Ausnahmsweise war es heute also nicht der Rücken, der sie plagte.
Lene lächelte Marietta schüchtern an, und die ahnte sofort, was drohte.
»Hier«, sagte Lene prompt mit klagendem Unterton. »Kannst du das für mich fertig machen?«
Marietta unterdrückte ein Seufzen. Während sie Veruschkas Kleid angepasst hatte, hatte Lene seit den Morgenstunden am Kostüm für den »arabischen Tanz« gearbeitet - und war immer noch nicht fertig.
»Ach bitte!«, drängte sie. »Ich bin schrecklich müde!«
Das war Marietta auch, aber anders als Lene unterdrückte sie ihr Gähnen.
»Diese grauen Herbsttage«, klagte Lene, »machen das Leben unerträglich.«
Als ob sie nicht an jeder Jahreszeit gelitten hätte - im Winter setzte ihr die Kälte zu, im Sommer die Hitze, und im Frühling bedauerte sie es stets, dass sie hier drinnen festsaßen, anstatt im Prater an den duftenden Fliederbüschen zu riechen.
»Also, du tust mir doch diesen Gefallen?« Sie reichte Marietta das Kostüm. »Bis morgen muss es unbedingt fertig sein - am Abend ist die Generalprobe. Und in drei Tagen dann die Premiere.«
»Und heute?«, fragte Marietta. »Findet keine Aufführung statt?«
»Gottlob nicht.«
Während der Aufführungen musste stets eine von ihnen anwesend sein, um im Fall des Falles Knöpfe wieder anzunähen und aufgerissene Nähte zu flicken. Marietta zeigte ihre Freude ebenso wenig wie ihren Überdruss, der sie beim Anblick des halb fertigen Kostüms befiel. Oft lag es ihr auf der Zunge, Lene für ihre Faulheit zurechtzuweisen, aber stets rief sie sich beizeiten ins Gedächtnis, dass sie ihr die Arbeit hier zu verdanken hatte.
Lene war eine gute Freundin ihres Vaters gewesen. Über lange Jahre hatte sie seine Kostüme genäht - wohl mit mehr Fleiß und Erfindungsreichtum, als sie jetzt aufbrachte. In gewisser Weise konnte Marietta das sogar verstehen, war es doch sicher leichter, bei dem stets freundlichen, gutmütigen Leopold Krüger Maß zu nehmen als bei den launenhaften Tänzerinnen.
Nachdem Lene sie alleine gelassen hatte, machte sich Marietta an die Arbeit. Vor zwei Jahren hatte sie weder sonderliche Geschicklichkeit noch Geschwindigkeit bewiesen. Sie hatte viele Nähte auftrennen müssen, weil sie zu ungleichmäßig geraten waren, und hatte sich mehr als einmal am Tag die Finger blutig gestochen. Doch mittlerweile verstand sie ihr Handwerk. Kaum eine Stunde später betrachtete sie prüfend das fertige Kleid und war mit dem Ergebnis zufrieden. Sie verließ die winzige Garderobe und brachte es in den Raum, wo die Requisiten und Kostüme aufbewahrt wurden. Als sie mit ihrer Hand über die anderen Kleidungsstücke strich, die für die Aufführung der Nussknackersuite angefertigt worden waren - das von Klärchen, die kunstvollen Uniformen des Spielsoldatenheers oder der Mantel des Mäusekönigs -, begann sie unwillkürlich, die Melodie vom Tanz der Zuckerfee zu summen.
Im Takt der Klänge verließ sie den Raum, durchschritt die mittlerweile leeren Gänge, die ihr einst wie ein Labyrinth erschienen waren, und erreichte den großen Ballettsaal. Eine Weile blieb sie ehrfürchtig im Türrahmen stehen, ehe sie eintrat, das Licht anmachte und an die vielen Stunden dachte, die sie hier als Kind verbracht hatte. Nach dem Tod ihres Vaters hatte es sich verboten angefühlt, hierherzukommen, aber die Sehnsucht hatte die Skrupel besiegt.
Sie legte ihre Kleidung bis auf ein dünnes Unterhemd ab, drehte ihr Haar zu einem Knoten, den sie mit ein paar Nadeln feststeckte, und trat zur Stange. Weiter summend begann sie, ihren noch steifen Körper aufzuwärmen. Nachdem sie sämtliche Muskeln gedehnt und gestreckt hatte, führte sie präzise Bewegung um Bewegung von Armen, Beinen und Kopf aus. Dann trat sie in die Mitte des Saales, nahm erst die Figur der Arabesque ein und begann schließlich zu tanzen: Auf einige Fouettés en tournant und Piqués folgten ein paar Pirouetten, erst kleinere, dann größere, die schließlich in Kapriolen übergingen. Obwohl keine kunstvolle Choreografie ihre Elemente verband, hörte sie nicht auf, den Tanz der Zuckerfee zu summen - bis plötzlich ein Misston diese Melodie störte.
Marietta erstarrte, fuhr herum und sah einen Mann an der Stange stehen, der sich nunmehr schon zum zweiten Mal räusperte.
Er kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, wann und wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Das rötlich-braune Haar war licht und schien förmlich an seinem Kopf zu kleben; der Backenbart war ebenfalls dünn, aber dennoch rechts und links sorgfältig mit Pomade zu Spitzen gedreht worden. Die Haut war so fahl, als wäre er seit Ewigkeiten nicht mehr in die Sonne getreten.
Marietta senkte schuldbewusst ihren Blick und erwartete eine Standpauke, weil sie den Ballettsaal unerlaubt betreten hatte. Doch der Mann sagte nichts, sodass sie schließlich verlegen zu ihrem langen Kleid griff und es hastig überzog. Als sie fertig war, stand er immer noch regungslos da und musterte sie eindringlich.
Sie überlegte, ob sie einfach an ihm vorbei zur Tür laufen sollte, aber in diesem Moment ergriff er das Wort: »Wie alt bist du?«, wollte er wissen.
Sie hatte viele Fragen erwartet - wie sie es nur wagen konnte, diesen Raum zu betreten, wie sie überhaupt ins Theater gelangt war und warum sie den Tanz der Zuckerfee beherrschte -, aber nicht diese.
»Bald sechzehn«, erwiderte sie leise.
Er nickte nachdenklich. Langsam trat er auf sie zu, blieb jedoch sofort stehen, als sie zurückwich.
»Als ich dich das letzte Mal tanzen gesehen habe, warst du knapp...
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