Schweitzer Fachinformationen
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Auf diesen Brief hatte Fee fast zwei Wochen gewartet und am Ende kaum noch mit ihm gerechnet, doch nun war er da, ein hellblauer Umschlag aus rauem Papier, die Adresse mit der Maschine geschrieben. Man konnte sie kaum lesen, so blass war das Farbband: »Frl. Felicitas v. Reznicek, Wilmersdorfer Straße 94, Berlin-Charlottenburg«. Absender war die Entnazifizierungskommission für Kunstschaffende, ebenfalls in Charlottenburg, Schlüterstraße 45. Eine der Typen, das L, war am Hebel verrutscht, sodass der Buchstabe höher anschlug als die anderen, was den Eindruck des Selbstgestrickten im Schriftbild verstärkte. Vor fünf Jahren, mitten im Krieg, hätten Beamte einer deutschen Behörde schnurstracks den Mechaniker kommen lassen, damit er den kleinen Fehler behebe. Aber es war nichts mehr wie vor fünf Jahren.
Mit dem Brief in der Hand stellte sie sich an ihr Wohnzimmerfenster, drehte den Messinggriff in die Waagerechte und zog es auf. Die Sonne schien herein, es war leidlich warm, ein paar Wolken wanderten gemächlich über den Himmel. Auf beiden Seiten des Hofes gab es keine Häuser mehr, kaum noch Mauern, links war überhaupt nichts stehengeblieben, rechts ein Steinskelett mit einem Berg aus Schutt zu seinen Füßen, auf dem drei Jungen in kurzen Hosen herumkletterten und dabei Staub aufwirbelten. Es hieß, die Eigentümer wollten ihr Haus neu aufbauen, wenn es wieder Banken und Kredite gab und man Handwerker fand. Kein Mensch wusste, wann das sein würde.
Der Rest der Nachbarschaft bis hinunter zum Kurfürstendamm war kahl, eine Wüstenlandschaft, die Steine waren abtransportiert, den Platz auf den Grundstücken hatten sich Löwenzahn und Brennnesseln erobert. Ihr Haus war als einziges stehengeblieben. Wie durch ein Wunder, pflegten die Leute zu sagen, aber das stimmte natürlich nicht, es war kein Wunder gewesen, sondern ein guter Einfall und dessen beharrliche Umsetzung. Fees Einfall. Auch ihre Sturheit. Gegen den Willen der Nachbarn, die ihr einen Vogel gezeigt hatten, hatte sie in der Zeit der Fliegerangriffe Holzfässer aufs Dach schleppen lassen und dafür gesorgt, dass sie stets voll waren. Als die Bomben dann einschlugen und es brannte, waren sie die Einzigen gewesen, die löschen konnten, wenn auch nur mit einem langen Gartenschlauch. Fee hatte damals erkannt, dass das größte Problem bei Treffern der Wassermangel war. Die Feuerwehr vermochte nichts auszurichten, weil alles Wasser schnell verbraucht war, und die Bewohner standen wie erstarrt vor ihren Häusern und mussten zusehen, wie sie niederbrannten. Also hatte sie vorgesorgt. Zum Dank hatte eine Nachbarin sie später bei den Russen angeschwärzt. Sie sei mit verschiedenen Parteigrößen wie etwa dem SS-Gruppenführer Artur Nebe gut bekannt gewesen. Eine Nazifreundin.
Sie legte den Umschlag auf das Tischchen am Eingang, wo ihr Telefon stand, und setzte Teewasser auf. Tee war eine Kostbarkeit in diesen Tagen, nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen, deshalb geizte sie mit den Blättern, die sie ins Sieb füllte. Lieber ließ sie ihn etwas länger ziehen, damit er nicht nur wie dunkles Wasser aussah. Zucker gab es nicht dazu, Milch auch nicht.
Vor einigen Monaten hatte sie, wenn auch mit Widerwillen, den amerikanischen Fragebogen ausgefüllt, hatte alle 131 Fragen mit einiger Sorgfalt beantwortet. Ihre Parteimitgliedschaft - Frage 40. In der folgenden Liste ist anzuführen, ob Sie Mitglied einer der angeführten Organisationen waren und welche Ämter Sie dabei bekleideten - hatte sie angegeben, denn sie war davon ausgegangen, dass die entsprechenden Karteikarten in irgendwelche Keller oder Höhlen ausgelagert worden waren und die Bombenangriffe überstanden hatten. Inzwischen hatte sie gehört, dass mancher Kollege nicht so ehrlich gewesen war, seine Zugehörigkeit zu Partei und Organisationen verschwiegen hatte und inzwischen wieder arbeitete. Möglicherweise war sie zu naiv gewesen. Wie sollten die alliierten Beamten Millionen von Fragebögen überprüfen, bei denen jede einzelne Antwort mit deutschen Akten abgeglichen werden musste? Dafür hätte man ein ganzes Heer von Mitarbeitern gebraucht, und die Engländer zumindest, die inzwischen gemeinsam mit den Amerikanern die Bizone verwalteten, hatten andere Sorgen, zu Hause und in ihrem Empire.
Im Fragenbogen war kein Platz gewesen, um auf die speziellen Umstände ihrer Mitgliedschaft einzugehen. Wegen ihrer Auslandsreisen - Frage 125. Zählen Sie alle Reisen oder Wohnsitze außerhalb Deutschlands auf (Feldzüge inbegriffen). Frage 126. Haben Sie die Reisen auf eigene Kosten unternommen? Frage 127. Falls nein, auf wessen Kosten? - hatte sie bereits mehrere Extraseiten beigelegt, das war ihr wichtig gewesen, denn wer während des Krieges hatte reisen dürfen, der war verdächtig. Kein alliierter Beamter, hatte sie unterstellt, würde lesen wollen, auf welch seltsame Weise sie Parteigenossin geworden war. Außerdem hätte die Erklärung wie eine billige Entschuldigung geklungen. Und natürlich war sie Mitglied der Reichsschrifttumskammer gewesen. Jeder, der veröffentlichte, war das. Man konnte nur hoffen, dass die Alliierten das wussten.
Bei ihr hatte die Behörde von Anfang an stur nach den Regeln entschieden: Parteizugehörigkeit gleich Veröffentlichungsverbot. Trotzdem hatte sie eine Arbeit, sie schrieb für die Agentur Reuters, was sie einem alten Bekannten aus San Francisco zu verdanken hatte, Webster K. Nolan. Er habe viele Freunde und werde sehen, was er für sie tun könne, hatte er ihr geschrieben, als sie ihn vor etwa einem Jahr um Hilfe gebeten hatte; Informationen aus Berlin seien doch begehrt. Ein paar Tage später hatte sich Reuters telefonisch gemeldet, die im amerikanischen Sektor ein Büro betrieben. Voller Hoffnung war Fee dorthin gefahren. Inzwischen war sie ernüchtert. Sie hatte festgestellt, dass die amerikanischen Reporter den größten Teil der Arbeit selbst erledigten. Für sie, die deutsche Kollegin, fielen nur ein paar Krümel ab, bedeutungslose Termine, Randnotizen, für die sich die Amis zu fein waren. Das Honorar reichte hinten und vorne nicht. Obwohl sie kaum etwas ausgab, war das Geld immerzu knapp, deshalb musste sie endlich wieder Regelmäßigkeit in ihre Tätigkeit bringen, und das ging nur, wenn sie für deutsche Zeitungen schrieb. Zudem hatte sie ein Großprojekt im Kopf, eine mehrteilige Reportage über den Widerstand, die vielleicht dazu beitragen konnte, dass das allgemeine Bild von Deutschland ein wenig zurechtgerückt würde. Sie war erst Anfang 40. Kein Alter, um aufzugeben.
Im Gerichtsverfahren würde sie deutschen Bürgern Rechenschaft über ihr Leben in diesen zwölf Jahren ablegen müssen. Die Richter waren anerkannte Opfer des Faschismus, entweder ehemalige Inhaftierte oder Emigranten. Sie hatte Respekt vor ihrem Schicksal, aber die Frage war, was diese Leute von den Zugeständnissen wussten, die man für ein Überleben diesseits von Flucht oder Gefangenschaft hatte machen müssen. Kannten sie das Gefühl, das sich einstellte, wenn man immer weitermachte, während andere abgeholt wurden und man wusste, dass sie nie wiederkommen würden?
Der Tee zog noch, sie deckte eine Tasse mit der Untertasse ab. Ihr Porzellan hatte seltsamerweise alle Fliegerangriffe überstanden. Die Wohnungstür war eines Nachts durch den Druck einer Bombenexplosion herausgeflogen, die Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen, aber das Porzellan im Schrank hatte nur ein wenig gewackelt. Sie begriff nicht, wie das möglich war. Hätte es gerne verstanden.
Die Vorstellung belastete sie, dass sie sich ein zweites Mal vor fremden Leuten für ihr Leben rechtfertigen sollte. Als sie über dem amerikanischen Fragenbogen gesessen hatte, war ihr der Gedanke im Kopf umhergegangen, dass auch die Sieger die eine oder andere Frage beantworten müssten. Sie hätte einige davon gerne dazugeschrieben, zum Beispiel: »Haben Sie je verfolgten Juden die Aufnahme in Ihr Land verweigert?« Oder: »Haben Sie oder Sportler Ihres Landes bei den Spielen 1936 den rechten Arm zum Hitlergruß gegen die Haupttribüne gereckt?« Oder als drittes: »Was hat Ihre Regierung unternommen, als Hitler im gleichen Jahr, 1936, Truppen der Wehrmacht widerrechtlich ins Rheinland marschieren ließ und Sie von deutschen Spionen wussten, dass er sich bei der geringsten militärischen Gegenwehr sofort zurückgezogen hätte? (Übrigens haben wir unser Leben riskiert, um Sie mit dieser Information zu versorgen.) Hätten Sie nicht den Anfängen wehren müssen, als wir es nicht mehr konnten?«
Sie hatte diese Fragen nicht gestellt und würde sie nie stellen. Die Stimmung war eine andere, wer auch nur einen Teil der Verantwortung anderswo suchte, galt als uneinsichtig, als ewiger Nazi. In diese Nähe wollte sie nicht gerückt werden. Also würde sie darüber Rechenschaft ablegen, ob sie als Autorin zu viele Zugeständnisse gemacht hatte. Das war das, was anstand. Ein Anflug von Bitterkeit stieg in ihr auf. Sie kämpfte das Gefühl nieder. Es sollte nicht ihr Leben bestimmen.
Der Brief auf dem Flurtischchen hatte lange genug gewartet. Sie holte ihn in die Küche und schenkte sich Tee ein. Er enthielt die Aufforderung, 1.206 Reichsmark an Gebühr zu entrichten. Wenn sie gezahlt hatte, hieß es in dem Schreiben, würde die Verhandlung vor der Schwurkammer am 28. Mai 1947 stattfinden. Sie hatte dieses Geld nicht. Natürlich konnte sie versuchen, sich welches zu leihen, und stellte sich vor, einen Bekannten um Hilfe zu fragen. Spielte es noch eine Rolle, so oft, wie man sich schon gedemütigt hatte für ein Stückchen Butter oder eine Scheibe Schinken, weil man nicht schon wieder Steckrüben ohne jedes Fett essen wollte? Doch, es spielte eine...
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