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Temišvar war, zu meiner Zeit (1896-1912), eine prächtige Stadt, modern, mit breiten Avenuen, großen Parks, Ruderclubs, aber auch Industrievorstädten. Es hatte riesige Exerzierplätze, und Friedhöfe. Es hatte den Beinamen »Klein Wien«.
Im Herzen der Stadt war das barocke Zentrum, mit einer großen katholischen Kathedrale, berühmt für ihre Bach-Konzerte, mit Klöstern der katholischen fratres, von denen eines, das der Piaristen, meine Schule war.
Gegenüber der katholischen Kathedrale lagen die serbische Domkirche mit dem Hof des Bischofs, aus Marmor, und die kleine Schule meines serbischen Lehrers Beri?, bei dem ich die vier Grundschuljahre absolvierte. Unsere Kirche war berühmt durch den Ikonostas von Danil.
Der Kirchhof war ein Garten, mit einem Gußregen von Jasmin, und Linden.
Mitten in Temišvar, jeden Sonntag, bei schönem Wetter, spielte die Militärkapelle auf dem Marktplatz, umgeben von den Terrassen der Restaurants und Eiscafés. Hier gingen die Leute spazieren, so wie man in Italien spazierengeht.
Vor einem Eiscafé stand hier gewöhnlich eine Gruppe von Salonlöwen und Offizieren, dann und wann auch eine Gruppe orthodoxer Mönche, die Kamilavka auf dem Kopf.
Neben dem Syncellus Zupkovi?, dem späteren Bischof in Buda, einem sehr schönen Mann, und dem Archimandriten Došen mit der lauten Stimme fiel unter ihnen besonders Bischof Lukijan Bogdanovi? ins Auge, später Patriarch, eine romantische Schönheit, ein großer Verführer der Frauen, der später Selbstmord beging, in Gastein, wegen der Syphilis.
Auf diesem Platz fuhr das schönste Viergespann die Frau von Baron Raja?i?, der später, während des Krieges, so unwahrscheinlich es auch klingt, im ungarischen Parlament die Oktoberrevolution begrüßte. Seine Frau lenkte das Viergespann, als wäre es ein Fächer.
Das Konzert begann gewöhnlich mit der Ouvertüre: Norma.
Zu Anfang besuchte ich die Grundschule von Beri?, der uns unterwies in unseren Privilegien und Statuten. Als ich bei ihm wohnte, versammelte er immer seine Kinder um sich, jeden Abend, um uns zu erzählen. Um uns vorzuspielen. Er war ein großer Kenner mondäner Liebesaffären, und von großem schauspielerischen Talent. Für mich ist er, in meinem Gedächtnis, die Verkörperung des Jean Valjean.
Er war Oppositionschef in der Kirchengemeinde und Experte für unsere nationalen und kirchlichen Rechte. Als bei der österreichischen Artillerie, vor Verdun, seinem Sohn ein Arm amputiert werden mußte, und als, zur gleichen Zeit, Serbien unterging, stürzte sich Beri? aus großer Höhe, aus dem dritten Stock, kopfüber in den steinernen Hof.
Unter meinen Bekannten war er der beste Kenner der Literaturen.
Das Gymnasium besuchte ich bei den katholischen fratres, den Piaristen, aber das war kein Orden von Obskuranten, sondern von Freimaurern. Bei ihnen begann der ungarische Volksfeiertag (die Iden des März) mit dem Chor. Der Chor sang die Marseillaise.
Die Piaristen gaben zwei literarische Zeitschriften heraus.
Eine, auf Ungarisch, die sich Unsere Fahne (Zászlonk) nannte, und eine auf Lateinisch, die Omladina (Juventus). Erstere hatte katholische Tendenzen und disputierte über die serbische Verfassung und die Krönung Petars I. und brachte auch eine Karikatur des Prinzen Djordje, wie er abdiziert. Wie die Japaner im Krieg an verwundete Russen Zigaretten verteilen. Und wie wir Serben, wegen falscher Privilegien, gegen Rákóczi kämpfen.
Ich hatte über unsere Privilegien viele Diskussionen mit meinen Lehrern.
Der erwähnten Zeitschrift, der lateinischen, schickte ich ein Stück Prosa über die Ermordung Julius Caesars und einige Gedichte in alkäischen Strophen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, veröffentlichte ich in dem Kinderblatt Golub (Die Taube), das in Szombor erschien, ein Gedicht mit dem Titel »Das Schicksal«. In diesem Gedicht, in der ersten Strophe, sticht ein Schiff in See. In der zweiten Strophe erhebt sich ein Sturm. In der dritten schwimmen auf dem Wasser nur noch die Trümmer des Schiffes.
Heute scheint mir, das sei genug an literarischer Arbeit gewesen.
Bis zum Tod meines Vaters, bis zur fünften Klasse des Gymnasiums, war ich ein mittelmäßiger Schüler. Danach beschloß ich, einer der Besten zu werden. Ich wurde einer der Besten.
Temišvar wuchs damals rasch, und die Karossen dort fuhren auf Gummirädern, und es gab auch schon die ersten Autos. Die Frauen in dieser Stadt kleideten sich nach der letzten Mode aus Paris, eingeführt über Wien, und hoch über den breiten Damenhüten sahen wir zum ersten Mal auch den Überflug eines Aeroplans. Das Theater, das ungarische, stand im Zeichen Henry Bernsteins, das serbische im Zeichen der Balkankönigin von Nikola I. dem Langweiler. Wir hatten auch einen Besuch des amerikanischen Zirkus Barnum.
Mein Vater war damals, ein Jahr zuvor, aufs Dorf gegangen, nach Ilan?a. Bis dahin hatte er mich immer abgeholt, vom Theater, auch bei Schnee.
Die Melone auf dem Kopf, den Gehstock aus Kirschholz in der Hand, brachte er mich in der Winternacht nach Hause und fragte mich nach den Dramen aus. Er schätzte meine literarischen Neigungen. Als man ihn zum Vorstand der Kirchengemeinde gewählt hatte, zeigte er mir seine Rede und fragte mich, ob sie mir gefiele. Ich überarbeitete die ganze Rede, und er trug sie auf der Festsitzung vor. Zu meiner Mutter sagte er: »Mi? a schreibt besser als ich!«
Als ich an Scharlach erkrankt war, brachte er mir die serbische Übersetzung von Krieg und Frieden (oder die ungarische Übersetzung), und ich las diesen Roman bei Tag und bei Nacht, obwohl meine Mutter behauptete, davon könne man erblinden.
Als mein Vater 1908 vom Dorf kam, um sich in Temišvar operieren zu lassen, und als er dann davon Abstand nahm, sagte er zu mir, er wisse, daß er sterben würde, ich solle das aber vor meiner Mutter verbergen. Sie dürfe es nicht erfahren. Er sagte, er wolle sie nicht beunruhigen. Man müsse zu sterben wissen. Er entschuldigte sich, daß er mir Sorgen mache, jetzt, wo ich angefangen hätte, Griechisch zu lernen. Er sagte, das sei schwer, er wisse es.
Er riet mir, gut zu lernen und mich Mutter gegenüber schön zu benehmen. Er ging aus Temišvar weg, ruhig, und ich habe ihn nie wiedergesehen. Er kehrte nach Ilan?a zurück und war noch auf der Hochzeit, bei Dane Crnjanski, in Itebej, wo er tanzte und über das Feuer sprang, mit den Jungen und Mädchen.
In Ilan?a besuchte er darauf einen Imker, der auch das Handwerk des Schmieds und des Sargmachers versah. Mein Vater wählte sich einen Sarg, beklopfte ihn, mit dem Spazierstock aus Kirschholz.
Er bestellte für meine Mutter Honig.
Und starb am darauffolgenden Tag.
Er hatte nicht erlaubt, mich aus Temišvar zu holen, aus der Schule.
Meine Mutter kehrte später als Witwe wieder nach Temišvar zurück und wohnte im Gemeindehaus. Die Fenster unserer Wohnung schauten auf den Hof. Ich lebte damals, bis zur sogenannten Reifeprüfung, mit der Mutter zusammen, in Temišvar, so, wie zu jener Zeit die Stadtkinder lebten. Mein Bekanntenkreis war der Kreis meiner katholischen Freunde, Adelige und deren parfümierte Schwestern, mit denen ich Französischstunden nahm. Das war kein Snobismus. Das war zu jener Zeit das übliche, Stunden zu nehmen, nachmittags.
Ich nahm auch Englischstunden, bei einem Lehrer, dem der Zug beide Beine abgeschnitten hatte und der sich aufs Stundengeben verlegt hatte. So war auch sein Englisch. (Aber es stimmte nicht, was man erzählte, als ich, 1929, Shakespeares Sonette übersetzte, nämlich, ich könne überhaupt kein Englisch.)
Ich hatte auch Malunterricht, privat, bei einem Lehrer.
Mein Ölbild, nach der Natur, Ein Totenschädel, war auf der Ausstellung der Schulen.
Von meinen Freunden sind mir nur die Namen geblieben. Kanifalvi Jurka Djula, Kapdebo Elemer, Djika. Wo sie sind, und ob sie noch leben, weiß ich nicht.
Ersterer hat mir zum letzten Mal vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben, von der Export-Akademie in Köln, und ich hörte, er sei nach dem Krieg irgendwo in Indonesien gewesen, als Pferdetrainer. Sein Vater besaß eine komplette ungarische und englische Shakespeare-Ausgabe.
Es stimmt indessen nicht, dass ich die Erinnerungen eines Snobs hüte. Ich habe damals, in Temišvar, auch unter den damaligen Proletariern gelebt. Zuerst habe ich in der Schulauswahl gespielt, dann im Gymnastik-Klub von Temišvar (TTK) und schließlich, von der siebenten Klasse an, im Klub der Eisenbahner und Metallarbeiter (»Kinizsi«).
Das war ein professioneller Fußball-Klub, und mein bester Freund dort war der Metallarbeiter Sidon. In seiner Gesellschaft habe ich die Sprache, das Zuhause und das Familienleben des Arbeiters kennengelernt. Wenn wir zu einem Spiel fuhren, legte mich Sidon immer ins Gepäcknetz über den Sitzen. Einmal weckte er mich um Mitternacht, um mir die Zeitung vorzulesen vom Untergang des Schiffes »Titanic«. Zu jener Zeit hielt man das für eine phantastische Katastrophe. Noch überraschender ist, daß ich damals nicht nur unter Proletariern und Metallarbeitern gelebt, sondern durch Sidon auch die Literatur des Sozialismus kennengelernt habe. Und nicht nur das, sondern ich habe auch an einer Demonstration der Sozialisten im Theater teilgenommen (bei einer Vorstellung des Bernsteinschen Diebes). Die Polizei hat uns danach verhört.
Aber neben diesem...
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