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Venedig, 12. Oktober 1527
Simona hasste die Nacht. Jede Nacht. Sie starrte in die Dunkelheit und wartete. Obwohl müde und zutiefst erschöpft, fand sie keinen Schlaf. Die Angst hielt sie wach. Würde Zanino heute Nacht wieder betrunken über sie herfallen?
Der Palazzo Bragadin lag in tiefer Stille. Auf dem Canale Orseolo, an dessen Ufer er lag, war Ruhe eingekehrt. Venedig schlief dem Sonnenaufgang entgegen.
Da - ein Geräusch. Atmen. Jemand stand an ihrem Bett. Zanino. Er stank nach Wein, Garküche und Hurenparfüm.
Sie zwang sich, ruhig zu liegen. Manchmal ließ er dann ab von ihr. Wenn er jedoch ihre Angst spürte, würde er bleiben. Es gefiel ihm, sie in Angst und Schrecken zu versetzen.
Was hatte er vor? Nach welcher neuen Teufelei stand ihm der Sinn? Sie wusste nicht genau, was es war, aber irgendetwas versetzte sie in Panik.
Mit einem Aufschrei warf sie sich zur Seite. Scharfer Schmerz zuckte wie ein Peitschenhieb über ihre Schulter. Ein Messer? Wollte er sie umbringen? Ihm war alles zuzutrauen.
Blind tastete sie nach dem Kerzenleuchter auf dem Ablagebrett neben sich. Die Todesangst verlieh ihr Kraft. Mit beiden Händen griff sie nach dem Leuchter und schleuderte ihn mit voller Wucht in Zaninos Richtung. Sein Aufbrüllen verriet, dass sie ihn getroffen hatte.
»Verfluchtes Frauenzimmer!«
Zaninos Hände legten sich um ihren Hals und drückten erbarmungslos zu. Rote Blitze zuckten hinter ihren Lidern. Das Rauschen ihres Blutes übertönte alle weiteren Beschimpfungen.
Ein rüder Stoß riss Simona wieder aus der Benommenheit. Sie prallte gegen die geschnitzten Ranken des Kopfendes.
»Hexe! Was ist in dich gefahren?«
»Du bringst mich um. Willst du das?«
Sein Lachen gellte ihr in den Ohren. Simona fasste sich an die Schulter. Sie blutete. Furcht, Schmerz und Hass drehten ihr den Magen um. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sie sich erbrach.
»Hast wohl den Kopf verloren vor Angst. Eines sage ich dir«, er packte sie am Hemd, zog sie grob hoch, und zerriss es dabei. Halbnackt war sie seiner Gewalt ausgeliefert. »Wenn du nicht tust, was ich sage, werde ich mit dem Dolch nachhelfen.«
Keiner in Venedig ahnte, was Zanino Bragadin für ein Scheusal war. Er war ein Heuchler, ein Wolf im Schafspelz.
Seit fünf Jahren war sie ihm ausgeliefert. Musste machtlos erdulden, dass er ihre Mitgift verschleuderte und ihre Selbstachtung mit Füßen trat. Allen anderen spielte er meisterhaft den liebenden Gemahl der unfruchtbaren Contarini-Tochter vor. Musste man ihn nicht bewundern, für so viel selbstlose Nachsicht. Was zählte da sein fehlender Geschäftssinn, sein Hang zu falschen Freunden, zum Aufschneiden und zum Glücksspiel. Kein Mann war vollkommen.
»Hör mir zu«, drang seine Stimme kalt an ihr Ohr. »Du wirst nach der Morgenmesse zum alten Paolo in die Casa Contarini gehen. Er muss mir helfen. Ich bin schließlich ein Familienmitglied der Contarini. Er hat Einfluss auf die Richter. Er kann die Anzeige niederschlagen lassen. Kapiert?«
Er hatte inzwischen die Kerzen im Kandelaber neben der Tür entzündet. In ihrem Schein entdeckte Simona hektische rote Flecken auf seinen Wangen. Sein Wams starrte vor Schmutz, auf seiner Stirn prangte eine blutende Schramme. Er sah aus, als habe er sich geprügelt. Vielleicht, weil er einmal mehr beim Glücksspiel verloren hatte oder weil seine Mitspieler die bleigefüllten Würfel entdeckt hatten, mit denen er so gerne betrog?
»Welche Anzeige?«
»Das tut nichts zur Sache. Der alte Fuchs wird es bereits wissen. Er weiß alles, was in dieser Stadt geschieht«, beschied er sie brüsk. »Jammer ihm was vor, das kannst du doch so gut. Sag, du seist überzeugt davon, dass dein lieber Mann böswillig verleumdet wird, dass er niemals vom rechten Weg abweichen würde. Er wird dich anhören. Die Familienbande halten, sie überziehen Venedig wie ein Spinnennetz - achtundzwanzig Einzelsippen!«
Seine Notlage musste größer denn je sein, wenn er nicht mehr bei ihrem Vater, sondern bei Onkel Paolo Hilfe suchte. Simona wusste, dass er das Familienoberhaupt der Contarini im Grunde seines Herzens fürchtete. Manchmal fragte sie sich, ob der alte Mann hinter die Fassade blickte, die Zanino Venedig präsentierte. Wenn ja, warum half er ihr nicht?
Weil du keine Rolle spielst, Simona. Für niemanden.
Ihre Schwestern hatten in bedeutende Familien eingeheiratet, ihren Ehemännern inzwischen mindestens ein Kind geschenkt, und bedauerten bei jedem Treffen wortreich, wie leid es ihnen tat, dass das Schicksal Simona um dieses Glück betrog. Und Simonas Stolz ließ es nicht zu, zu offenbaren, was sich hinter der Tür ihrer Schlafkammer abspielte und welchen Demütigungen sie täglich ausgesetzt war. Dass sie in all den Jahren kein Kind empfangen hatte, gab Zanino in seinen eigenen Augen das Recht, sie zu bestrafen.
Wenn sie sich jetzt weigerte, die Casa Contarini als Bittstellerin aufzusuchen, würde er sie so lange quälen, bis sie es gerne tat. Schon die Finanzierung des Stoffhandels, den Zanino in seiner Unfähigkeit ruiniert hatte, ehe er richtig in Schwung kam, hatte sie bei ihrem Vater vermitteln müssen.
Besaß sie genügend Kraft, seinen Grausamkeiten dieses Mal zu trotzen? Ihre Schulter brannte wie Feuer. Ein Rest von Selbstachtung riet ihr trotzdem nachdrücklich, den Bittgang zu verweigern.
Dabei liebte sie das Stammhaus der Contarini und sehnte sich danach, es wieder einmal zu betreten. Schon wegen der Gemälde ihres Urgroßvaters, Lucas Contarini, die überall hingen. In der Kapelle befand sich Simonas Lieblingsbild. Die büßende Maria Magdalena. Monna Hannah, ihre Urgroßmutter, hatte dafür Modell gestanden. Auch ihr Vater liebte dieses Bild besonders.
»Du siehst ihr ähnlich. Du hast ihre Augen, ihr dunkles Haar und ihr sanftes Wesen«, hatte er ihr einmal gesagt, als sie es gemeinsam betrachteten.
Simona konnte keine Ähnlichkeit entdecken, aber das seelenvolle Lächeln ihrer Urgroßmutter hatte ihr schon als Kind Trost geschenkt, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte.
Fröstelnd zog sie ihr zerrissenes Hemd enger um den Körper. Der Stoff, nass und steif vom geronnenen Blut, klebte auf der Haut. Sie war Zaninos Gefangene. Gefangene in einer Ehe, in einem Haus, das sie bis ans Ende ihrer Tage von ganzem Herzen hassen würde.
Zanino ließ sie nicht aus den Augen. Er belauerte jede ihrer Bewegungen. Er kannte sie zu gut.
»Ich sehe, du verstehst«, sagte er gönnerhaft und lächelte tückisch. »Mach dich gleich nach der Prim auf den Weg. Wenn ich aufstehe, möchte ich hören, dass du Erfolg gehabt hast.«
Er schlenderte aus der Kammer und warf die Tür hinter sich zu. Der Knall ließ Simona zusammenzucken. Sie sank auf das Bett zurück und schloss die Augen. Das kurze Aufflackern von Lebensenergie, das sie zur Gegenwehr getrieben hatte, war längst erloschen. Was war so schlimm am Tod? Er würde ihr endlich Ruhe und Vergessen schenken.
Ihre Familie würde sie beweinen, aber am Ende doch zum Alltag zurückkehren. Ihre Nachreden konnte sie sich unschwer vorstellen.
Sie war nie wie die anderen. Immer ein wenig seltsam.
Simona stützte sich auf den unverletzten Arm. Suchend glitten ihre Blicke über das Bett. Unter zerwühlten Laken versteckt, entdeckte sie das Gesuchte. Zaninos Dolch.
Auf der zweischneidigen, spitz zulaufenden Klinge befand sich getrocknetes Blut. Ihr Blut. Hatte sie damit ein Anrecht auf die Waffe erworben? Der Silbergriff, in dessen Heft drei polierte Achate eingelassen waren, schimmerte matt. Achate schützten vor Giften und machten ihren Besitzer unbesiegbar. Wie gerne wäre sie unbesiegbar gewesen!
Sie schloss die Finger um den Dolch. Er war nicht so schwer, wie sie erwartet hatte, aber er verlieh ihr ein trügerisches Gefühl von Macht.
Als sie das piano nobile mit dem großen Saal betrat, fiel die Morgendämmerung durch das Maßwerk der Frontfenster. Aus diesem Stockwerk führte die rückwärtige Treppe in den Hof, zum Brunnen und zur Küche. Dort würde sie die Mägde finden, die die Schlafkammer säubern und frisches Leinen aufziehen sollten. Sie waren es nicht gewohnt, die Herrin des Hauses zu so früher Stunde zu sehen. Ob sie den Grund für ihre Schlaflosigkeit und das blutige Nachtgewand ahnten? Sie wollte es nicht wissen.
Der Sonnenaufgang lockte sie an die Bogenfenster. Sie liebte den Blick über die Lagune um diese Tageszeit. Wenn sich das Grau mit Rosentönen mischte, die Sonne die Nebelschwaden auf dem Wasser vertrieb und die ersten Fischerboote ausliefen, lag der Tag unschuldig und hoffnungsvoll vor ihr. Zumindest hatte er das in ihrem Elternhaus getan.
Die Casa Bragadin lag an einem Seitenkanal und erlaubte nur die Aussicht auf das gegenüberliegende Haus. Ein schmaler Streifen Himmel zwischen den Dächern verriet, dass der Tag so heiß wie der gestrige werden würde. Mit einem unterdrückten Laut hob Simona den Dolch, den ihre Rechte bislang zwischen den Rockfalten verborgen hatte. Gedankenverloren starrte sie die Klinge an.
Es war eine Todsünde, das eigene Leben zu beenden. Dennoch wurde die Versuchung stärker, je länger sie darüber nachdachte.
Mach ein Ende, Simona!
Die Dolchspitze gleißte im ersten Sonnenstrahl, als sie die andere Hand auf die Stelle legte, wo ihr Herz schlug. Sie musste nur zustechen. Ein wenig fester, ein wenig tiefer.
»Madonna, was habt Ihr getan?«
Erschrocken ließ Simona den Dolch sinken und starrte Zaninos Leibdiener an. Sein kreideweißes Gesicht, seine ausgestreckte Hand. Er deutete auf ihren Dolch, auf dem die...
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