Schweitzer Fachinformationen
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Was fehlt dir, Leena? Dein Stolz, den Tibo mit Füßen getreten hat? Schau der Wahrheit ins Gesicht! Danitza erwartet sein Kind!
Das Rauschen des Wassers bekam einen anderen Klang. Nicht länger verführerisch und einladend, sondern wütend und aufbrausend. Leena straffte die Schultern. Wie lange hockte sie schon hier am Ufer des Doubs, bis zum Scheitel in Selbstmitleid versunken? Was suchte sie hier? Einen Ausweg? Im Wasser? Weil ein Lügner, Schurke und Heuchler sie hintergangen hatte?
Oh, nein! Sie wollte ihm und der Sippe die Stirn bieten. Rache war das Gebot der Stunde, nicht Verzicht.
Leena erhob sich steif, taumelte, bis sie am Stamm einer verkrüppelten Weide Halt fand. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass es Nacht geworden war. Fröstelnd versuchte sie sich zu orientieren. Ihr Gewand, fadenscheinig und mit Flitter besetzt, bot kaum Schutz vor dem Eishauch des Flusses. Das Schmelzwasser aus den Bergen des Jura nährte seine Fluten. Völlig durchgefroren schlang sie auf der Suche nach etwas Wärme die Arme um den Oberkörper. Der Frühling in Burgund hatte den Winter noch längst nicht besiegt.
Schwarz gegen das Dunkel der Nacht erhob sich rechter Hand der Steinbogen jener Brücke, die als einzige weit und breit den Doubs überspannte. Bis zum heutigen Tag bezeugte sie die Meisterschaft römischer Baumeister, die sich weder von steilen Ufern noch von tief eingegrabenen Flussläufen hatten beeindrucken lassen.
Eine Bewegung auf der Brücke erregte ihr Misstrauen. Die Augen eng zusammengekniffen, versuchte sie Einzelheiten zu entdecken, während sie hastig die Böschung emporkletterte.
Am Scheitelpunkt der Wölbung des Bauwerks, genau zwischen Nachthimmel und Fluss, beugte sich eine Gestalt, gleich einem Schattenriss, gefährlich weit über die Brüstung. Herzbewegendes Säuglingsgeschrei übertönte das Wasserrauschen.
Noch eine Unglückliche, die ihrem Leben ein Ende setzen wollte? Leenas Gespür, das sie sogar befähigte, im Linienverlauf einer Handfläche Schicksal und Zukunft der Menschen zu erkennen, warnte eindringlich davor zu säumen.
Sie flog geradezu den Hang zur Straße hinauf. Kaum spürte sie unter ihren bloßen Sohlen den Übergang von Gras zu Stein. Keuchend rannte sie auf die Brücke, die Hände nach der Unbekannten ausgestreckt.
»Tu es nicht!«
Gemeinsam stürzten sie auf die Pflastersteine, so heftig war der Ruck, mit dem sie Mutter und Kind vom Abgrund zurückriss. Das Kleine verstummte jäh. Ob vor Schreck oder weil es zu Schaden gekommen war, konnte Leena nicht sagen. Sie rappelte sich hoch, wollte der Frau ebenfalls beim Aufstehen helfen und erntete nur Undank.
»Bist du von Sinnen? Was willst du? Fass mich nicht an!«
Der bestimmte Ton verriet die Person von Stand, auch wenn die Worte geschluchzt wurden.
Leena gab die Gewandfalten frei, die sie immer noch umklammert hielt. Stattdessen berührte sie angstvoll das stille Bündel, ohne dass ihr die Geste zu Bewusstsein kam. Nicht nur Tibo sehnte sich schmerzlich nach Kindern. Hatte er sich deswegen einer anderen zugewandt?
»Was tust du?«, fragte sie vorwurfsvoll, sobald sie eine Regung von Leben unter dem Tuch erspürte und leises Wimmern vernahm. »Der Tod löst keine Probleme. Ich weiß, wovon ich spreche.«
»Nichts weißt du. Du hast keine Ahnung, was mir das Schicksal angetan hat.«
»Kein Leid rechtfertigt es, sein Leben wegzuwerfen. Schon gar nicht das eines unschuldigen Kindes«, widersprach Leena heftig. »Kinder sind das kostbarste Geschenk des Himmels.«
»Dieses nicht. Es hätte nie zur Welt kommen dürfen.«
Ein Windstoß zerriss das Wolkenband vor dem Mond, so dass ein Lichtstrahl auf die Verzweifelte fiel. Sie war selbst noch ein Kind, kaum älter als fünfzehn Jahre, aber sichtlich von den Strapazen der Geburt gezeichnet. Feucht klebte ihr das Haar an den Schläfen. Das Kleid, obwohl aus Wolle und bestickt, war voller Schmutzflecken. Entweder hatte sie ihr Kind auf der Straße geboren, oder man hatte sie kurz nach der Geburt auf die Gasse gejagt. Woher sie die Kraft nahm, sich aufrecht zu halten, war Leena ein Rätsel.
»Du brauchst Hilfe«, stellte sie fest. »Wärme und Nahrung. Auch dein Kind hat Hunger. Hat dir niemand gezeigt, wie du es anlegen musst? Wann hast du es geboren?«
»Heute.«
»Und in aller Heimlichkeit, nehme ich an.«
»Ich hatte keine Wahl. Es ist ein Teufelsbalg, die Strafe für meine Sünden. Sieh her, es trägt ein Blutmal. Es ist verflucht. Ein solches Mal bringt Tod und Verderben für alle, die mit dem Kind in Berührung kommen.«
Sie riss die Tücher auseinander, und das Wimmern wurde prompt zum Kreischen. Mit Händen und Füßen wild fuchtelnd, schrie das Neugeborene aus voller Brust.
Leena konnte kein Mal entdecken, das den Kindskörper entstellte. Im Gegenteil: Die Haut des Kindes schimmerte wie die Blüte einer Christrose. Den Kopf bedeckte silbriger Flaum, die Augen blickten klar. Es war ein Mädchen, zart, aber hungrig und mit kräftiger Stimme.
»Ich sehe kein Mal. Was ich sehe, ist lediglich, dass deine Tochter friert und vor Durst weint«, antwortete sie ruhig. »Halte sie warm und gib ihr zu trinken. Ich versichere dir, danach wird es auch dir bessergehen. Ihr müsst jetzt füreinander da sein.«
»Und was ist das?«
Die Mutter ergriff ihr Kind um die Körpermitte und zog die Decke von seinem bloßen Rücken. Haltlos sank das Köpfchen gegen ihre Schulter. Im Nacken, am Ende der zerbrechlichen Wirbelsäule, wies die Haut eine deutlich sichtbare Verfärbung auf.
Leena trat neugierig näher. Der Mond enthüllte die fremdartigen Zeichen auf ihren Wangenknochen. Erschrocken wich die junge Mutter zurück.
»Du gehörst zu den Ägyptern, die vor dem Stadttor lagern. Zu den Zauberern«, stammelte sie. »Du willst mein Kind. Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand von euren heidnischen Ritualen und Opfern.«
Ausgerechnet einer Selbstmörderin, die ihr Kind mit in den Tod nehmen wollte, den Aberglauben ausreden zu wollen war fast zu viel für Leena.
»Ich will dir nur helfen. Es ist Unsinn, was sie über uns erzählen. Wir sind weder Ägypter noch Zauberer. Unsere Sippe gehört zum Volk der Tamara, und wir tun keinem Menschen etwas zuleide. Schon gar nicht unschuldigen Kindern. Im Gegenteil, unsere Heilerin kann .«
»Lass mich! Ich glaube dir kein Wort.«
Obwohl sie die ablehnende Reaktion nicht überraschte, hätte Leena die Verzweifelte am liebsten geschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen. Welches Argument konnte sie nur überzeugen?
»Denk an deine Mutter. Hat sie dich nicht mit Liebe umsorgt und dich vor Bösem bewahrt? Nimm dir ein Beispiel an ihr.«
»Und wie schlecht habe ich meiner Mutter diese Liebe gedankt!«
Leena hatte ins Schwarze getroffen. An der Brückenmauer brach die Verzweifelte in Ströme von Tränen aus. »Ich habe meine Familie entehrt und meiner Mutter das Herz gebrochen. Onkel Eléazar hat mir die Tür gewiesen. Er sagt, er duldet keine Hure unter seinem Dach.«
»Erzähl mir davon«, ging Leena auf die Fremde ein. »Auch die ärgste Last wird leichter, wenn man sie teilt.«
»Das wirst du nicht mehr sagen, wenn du die Wahrheit kennst .«
Nicht alles, was das Mädchen überstürzt und unzusammenhängend hervorsprudelte, verstand Leena. Teils, weil sie die Sprache der Gegend nicht gut genug beherrschte, teils, weil ihr Schluchzen manche Sätze verstümmelte. Dennoch konnte sie sich die Tragödie schnell zusammenreimen. Adeliza war die Tochter eines angesehenen Magistrats in Besançon. Sie hatte den Liebesschwüren eines jungen Ritters vertraut, der sie umworben und danach verlassen hatte. Entehrt und schwanger war sie zurückgeblieben, der Schande und der allgemeinen Verachtung preisgegeben. Weder die kranke Mutter noch der strenge Onkel, der die Vaterstelle an ihr vertrat, fanden sich bereit, die Sünde zu verzeihen. In ihrer Bedrängnis sah sie nur einen Ausweg. Den Fluss.
»Sie allein ist an allem schuld!« Adeliza streckte das winzige Kind mit solchem Abscheu von sich, dass Leena fürchtete, sie würde es fallen lassen. »Der Teufel hat die Saat in meinen Schoß gepflanzt, um mich für meine Sündhaftigkeit zu bestrafen. Das Mal im Nacken beweist es. Ihr Blut ist verflucht!«
»Wer hat dir so etwas eingeredet? Viele Kinder kommen mit einem solchen Mal zur Welt. Es hat nichts zu besagen, es verblasst im Laufe der ersten Lebensjahre.«
»Du lügst.« Adelizas Stimme überschlug sich in Hysterie. »Wir sind verflucht, mein Kind und ich. Die Hölle wartet auf uns.«
Alles geschah zur selben Zeit.
Leena erfasste sofort, was Adeliza im Sinn hatte. Tollkühn warf sie sich halb über die Mauer, um zu verhindern, dass das Kind mit der Mutter in die Tiefe stürzte. Im letzten Moment erhaschte sie ein Füßchen, aber sie verlor das Tuch dabei, das das Neugeborene notdürftig vor der Nachtkälte geschützt hatte. Fahl segelte der Stoff in die Tiefe. Auf keinen Fall durfte sie dieses erbärmlich dünne Bein loslassen, es hätte den sicheren Tod des Kindes bedeutet. Rote Kreise tanzten ihr vor Augen, ihr Herz raste vor Angst. Tief unten toste der Fluss.
Die Mauerkante presste sich ihr hart in den Magen, ihre bloßen Sohlen rutschten auf den Steinen. Das Entsetzen raubte ihr den Atem, und erst nach und nach gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Erleichterung. Adeliza mochte das eigene Leben geringgeschätzt haben, aber sie hatte ihre Tochter vor ihrem Sturz im letzten Augenblick freigegeben. Das Mädchen zappelte erbärmlich, und Leena beugte sich noch tiefer, um es sicher zu halten.
Nach einer...
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