Schweitzer Fachinformationen
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Denk nicht an so etwas wie Liebe, ein Zuhause, an den Körper einer Frau, und sei nicht so blöd, auf Gerechtigkeit zu hoffen . Nichts davon wird dir hier etwas nützen. Du musst etwas finden, das du hassen kannst.«
Dem alten Häftling, der Revol Rossel am ersten Tag in Igarka diesen weisen Rat gegeben hatte, war schon vor längerer Zeit die Kehle aufgeschlitzt worden.
Der blöde Kerl hat sich nicht mal an seinen eigenen Rat gehalten .
Rossel schon. Buchstabengetreu.
Etwas, das du hassen kannst.
Jetzt gerade, verdammte Scheiße, war es dieser Kieselstein, der sich vorne in seinem linken Stiefel irgendwie festgesetzt hatte.
Der frühere Leutnant der Volksmiliz und fünf andere Männer in Ketten mühten sich wie Arbeitspferde, eine riesige Trommel voller Schutt und Geröll durch den Schnee Sibiriens zu zerren, jeder Schritt eine Qual. Drei Gefangene vor der Trommel, die wie eine gigantische Garnspule aussah, zogen, während die drei dahinter schoben. Ihre Augen schmerzten, die gefrorenen Härchen in der Nase stachen sie wie Miniatureiszapfen, der Atem zersplitterte in eine Million Kristalle, sobald sie Luft ausstießen. Bei jedem Arbeitsgang mit dieser primitiven Dampfwalze ebneten sie, Meter für Meter, den Boden für die Schwellen und Gleise, die für die Bahnstrecke von Igarka nach Salechard verlegt wurden.
Die kompletten eintausenddreihundert Kilometer.
Das Leben in einem Arbeitslager unter der Zuständigkeit des GULag, der Hauptverwaltung Lager, legte die Schichten der menschlichen Existenz bloß. Ließ dich mit fast nichts zurück. Als würde ein böswilliger slawischer Gott mit Schmirgelpapier immer die gleiche winzige Stelle auf deinem Schädel bearbeiten, um herauszufinden, was dort zum Vorschein kam. Normalerweise war es der Hunger. Weil der Hunger allmählich alles verkörperte, was dich ausmachte.
»Lasst uns ein Gebet zusammen sprechen«, schlug Babajan vor, der vollbärtige Priester mit den messianischen, hellblauen Augen, der rechts neben Rossel an der Walze zog.
»Nicht schon wieder ein Gebet! Mach endlich mal Pause damit, du alter armenischer Schwachkopf«, schrie jemand.
Links neben ihm mühte sich - spindeldürr und bleich wie der Permafrost - Alexander Wustin. Ein Sänger, ein Bariton aus der Stalingrader Oper, ein durchaus angesehener, frühreifer Komponist, den man, wie so viele andere »Politische« in den Lagern, zum Volksfeind erklärt hatte.
Zehn lange Monate war Rossel nun schon im Lagersystem des Gulag verschwunden. Zwei Monate davon unterwegs in den hohen Norden, mit dem Zug, auf der Straße und per Schiff. Acht Monate in der Strafkolonie, die so neu war und so weit entfernt von allem lag, dass sie einfach nur Kilometer 105 hieß. So weit war es bis nach Igarka. In dieser Zeit hatte er mit Wustin mehr Gespräche über Musik geführt als je zuvor in seinem Leben mit irgendjemand anderem. Was die Russen anging, so sei Schostakowitsch zwar gut, Prokofjew aber viel besser, hatte Wustin verkündet. Rachmaninow sei manchmal kitschig, manchmal großartig, meistens gefällig. Strawinsky sei das wahre Genie, während Chatschaturjan ihn und auch alle anderen mal am Arsch lecken könne. Rossel war geneigt, ihm zuzustimmen.
»Bis Prokofjew die Nerven verlor und sich Sorgen darüber machte, was die Partei wohl von seiner Musik hielt«, hatte Wustin gesagt und dabei so gezittert, dass er seine selbst gedrehte Zigarette kaum an die Lippen führen konnte. »Danach war er Dermo, kompletter Mist, genau wie diese Dummköpfe, die den Russischen Verband der proletarischen Musiker gegründet hatten. Lauter schwülstige Kantaten für die Massen, Bombast, der nichts zu bedeuten hatte .«
Ihre Gespräche hatten Rossel geholfen, zurechnungsfähig zu bleiben. Wustin selbst hatte nicht so viel Glück gehabt. Als Junge hatte Wustin erleben müssen, wie seine Eltern beim Beschuss Stalingrads durch die Nazis bei lebendigem Leib verbrannten. Jetzt, je nachdem, wohin seine Stimmung gerade ausschlug, schweifte der Blick seiner mürben Augen überall umher und versuchte, anderen auszuweichen. Jedes laute Geräusch erschreckte Wustin. Er presste dann die Hände an die Ohren und begann, irgendwelche Opernarien zu singen, meistens Italiener, Verdi oder Puccini, um die Situation auf poetische Weise bewältigen zu können. Nur Rossels Stimme konnte ihn beruhigen, ihn dazu bringen, zuzuhören, die Welt wieder wahrzunehmen. Rossel konnte Wustin durch das Reden über Musik und ihre gemeinsamen musikalischen Träumereien vor dem Absturz in den Wahnsinn bewahren.
Unter ihren Füßen lag eine Schicht Sand über einer Schicht Schotter, darunter wieder Sand, der auf eine Schicht aus Holzstämmen und Reisig aufgetragen war. Und irgendwo in dieser Mischung waren auch Knochen untergemengt, manchmal sogar zwei Schichten. Entweder verlegtest du weiter Schienen, oder du wurdest Teil dieser Mischung. Wenn der Sommer kam, versank das Ganze mit einiger Gewissheit im zähen, alles verschlingenden Schlamm von Turuchansk.
Bei den Männern an den Zugseilen war es am schlimmsten. Aber auch bei den Männern, die die Walze schieben mussten, war es kaum besser. Sie war mit fast zwei Metern Durchmesser so riesig, dass die beiden Gruppen einander nicht sahen. Lediglich im Elend waren sie vereint, jeden Tag aufs Neue Brüder in blanker Verzweiflung. Nicht weit entfernt mühte sich eine weitere Gruppe mit dem Zerkleinern von Baumstämmen und dem Transport der stählernen Schienen. Dahinter eine weitere Gruppe. Und wieder eine.
Rossels Gruppe geriet ins Taumeln, als die Trommel auf dem eisenharten Boden wegrutschte und sie nach links zerrte. Seine Knie gaben nach. Mit dem linken großen Zeh stieß er sich an einem kleinen Stein.
Verdammter Mist .
»Zurück!«
Ein Wachsoldat, etwa fünfzig Meter entfernt, ein Bein abgestützt auf einem Baumstumpf, schrie sie an und wedelte mit dem Arm. »Da hin, ihr Bastarde! Folgt gefälligst der Trasse, verdammte Scheiße!«
Die Männer ächzten und bissen die Zähne zusammen, während sie die Trommel wieder auf Kurs brachten.
Doch nichts konnte Babajan vom Beten abhalten.
»Gospodi, Iisus Christos, syn Boschi, pomilui menja greschnogo . Jesus Christus, o Herr, Sohn Gottes, erbarme dich deines armen Sünders .«
»Dein Gott sollte diese Scheiße hier am besten sehr bald wiedergutmachen«, murrte ein Mann an der anderen Seite der Trommel. »Und solange mir ein Platz an seinem Lagerfeuer sicher ist, werde ich sündigen, was das Zeug hält.«
Babajan spuckte auf den Boden, wo der bräunliche Schaum gefror.
»Der Herr belohnt uns schon jetzt«, erwiderte der Armenier. »Erst gestern, als ich auf den Gleisen zurücklief, ist mir die Gottesmutter von Kasan erschienen. Die Heilige Jungfrau und zwei weitere. Schatten im Schnee, wie meine Mutter sie einmal an den Hängen des Ararat gesehen hat, der Ruhestätte der Arche Noah.«
Babajans Atem rasselte. Ein paar Schritte lang verstummte der alte Priester.
»Kleine Mädchen, kleine Jungen«, sagte der missmutige Häftling. »Babuschki, djeduschki, Kühe, Schweine, Hühner - macht alles keinen Unterschied. Ich stecke meinen Schwanz überall rein. Ich tue alles für einen Platz an diesem Feuer.«
Hoch im Norden, weit jenseits des Polarkreises, boten sich viele Möglichkeiten, Menschen zu brechen. Eine war die erste Begegnung mit wirklicher Kälte. Nicht nur wenn Schnee fiel und Frost herrschte, sondern gleich am ersten Tag, an dem es minus fünfundzwanzig oder sogar dreißig Grad kalt wurde. Es brachte den Häftlingen die Erkenntnis, dass es von nun an nur noch kälter und dunkler werden würde. Es traf sie alle gleichermaßen hart: die »Politischen«, verurteilt nach Artikel 58; die Wori, die Diebe, und ihre Erzrivalen, die Suki oder Schlampen; Hitlers verwaiste Kämpfer, die Schar deutscher Kriegsgefangener, die man nie nach Hause geschickt hatte.
Alle.
Fraß sich der Frost erst einmal in deine Knochen, gab es keine Hoffnung auf milderes Wetter mehr.
Der Zeitpunkt war in diesem Jahr bereits verstrichen. Schon in der ersten Novemberwoche hatte sich jeder im Lager etwas eingefangen. Die Knochen taten weh, der Atem pfiff, die Zähne klapperten und die Finger verrotteten.
Dann, irgendwann im Februar, machte sich die unerschütterliche Überzeugung breit, dass der Winter niemals enden würde. Unweigerlich kam der Tag, an dem jemand die Absperrung mit Stacheldraht durchbrach und die verbotene Zone betrat, was ihn zur Zielscheibe für die Wachen machte. Jenseits deines letzten Atemzugs, redeten sich manche Häftlinge ein, würde es einen wärmeren Ort geben.
»Zwei Gestalten folgten also der Heiligen Jungfrau«, erklärte Babajan. »Sie war so deutlich zu erkennen wie du oder ich, die anderen hingegen waren nur Schemen. Trotzdem habe ich sie erkannt. Es waren der letzte Zar persönlich, Nikolaus, und sein armes Kind, Zarewitsch Alexei. Gott hat diese beiden Märtyrer heim zu sich in sein Reich geholt. Seine Barmherzigkeit kennt keine Grenzen.«
Als der Wind den Schnee verwirbelte, war alles ein einziges Weiß. Rossel hielt den Blick nach vorne gerichtet auf den dreckigen Pfad, der sich durch die Taiga schlängelte. Hier herrschte das Nichts. Und sie befanden sich in seinem Zentrum.
In einem anderen, weit zurückliegenden Leben hatte er Violine am Leningrader Konservatorium studiert. Obwohl er...
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