Schweitzer Fachinformationen
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Samstag, 11. Oktober, gegen halb neun
»Voilà!« Rapp stand vor dem Küchenschrank, den Blick gesenkt, und fühlte sich bestätigt. »Siehst du, Balzac, der Käse ist perdu. Die Maus hat ihn sich geholt.«
Balzac senkte ebenfalls den Blick, schnüffelte mit der spitzen Schnauze an der Stelle vor dem Spalt, wo das Käsestückchen gelegen hatte - perdu, wie sein Chef schon gesagt hatte. Es schien den Hund nicht allzu sehr aufzuregen. Wenn man seinem Schwanzwedeln Glauben schenkte, interessierte ihn viel mehr ihr allmorgendliches Ritual, das unweigerlich folgen musste:
Rapp ging in den Flur, nahm die Leine von Balzacs Garderobenhaken, der in Hüfthöhe angebracht war, und warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sein welliges, dunkles, immer noch volles, nur an den Schläfen leicht ergrautes Haar musste bald mal wieder geschnitten werden, aber nicht heute. Seine braunen Augen blickten klar und scharf wie immer, keine Spur von Pinot gris mehr darin.
»Siehst du, Balzac?«
Balzac wedelte mit dem Schwanz, hatte aber nur Augen für die Leine in Rapps linker Hand.
Mit der rechten streifte Rapp sich sein dunkles Jackett über und gab insgesamt eine für seine einundsechzig Jahre immer noch ansehnliche, hohe und schlanke Gestalt ab. Fand er selbst. Und fanden anscheinend auch nicht wenige Frauen in seinem Alter, denen er begegnete; jedenfalls meinte er das an ihren aufblitzenden Augen, sich rötenden Wangen und ihrem nervösen Lächeln ablesen zu dürfen. Dabei war er kein Schürzenjäger, sondern nur ein ganz klein wenig eitler, als er sich eingestehen wollte.
»Na komm, Balzac, allez!« Er wandte sich um, eine Hand schon auf der Türklinke.
Der Hund tappte über die hellbraunen Terrakottafliesen voran zur Wohnungstür. Rapp verschloss die Wohnung, griff sich Balzac und klemmte ihn unter den rechten Arm, um mit der linken Hand das dicke geflochtene Seil zu fassen, das sich als Geländer die Treppe aus rotem Sandstein hinunterwand.
Vor der Haustür im Parterre, wo sich verschiedene Nutzräume des »Maison Michelberger« befanden, setzte er Balzac ab und spazierte mit ihm über die klobigen Pflastersteine des Hofs zur Straße. An der Hausecke, unter der hoch hängenden Laterne an der Hauswand, hob Balzac das Bein und markierte ausgiebig sein Revier.
Rapp blickte in den Himmel, er war blassblau heute Morgen, ein paar unbedeutende Schleierwolken schwammen darin, es würde ein schöner Tag werden.
Ein Traktor mit Anhänger kam um die Ecke der Rue Grand Cru und dröhnte an ihm vorbei, der junge Michel Courent auf dem Fahrersitz hielt den Kopf stur geradeaus, ohne auch nur den Ansatz zu machen, ihn zu grüßen.
Rapp seufzte. Er hatte Michel schon als kleinen Jungen gekannt. Damals waren der kleine Courent und Edgar, Rapps Sohn, noch Schulkameraden gewesen, hatten dieselbe Klasse besucht und auch in der Freizeit oft zusammen gespielt. Heute lebte Edgar als Koch in Paris, seine Mutter Isabelle und Rapp waren seit zwei Jahrzehnten geschieden - und der Ex-Spielkamerad Michel Courent, Anfang dreißig wie Edgar, litt augenscheinlich bereits an Alzheimer: erkannte nicht mal mehr Jean Paul Rapp, den Vater von Edgar. Damals immerhin Leiter der Kriminalpolizei des Teildistrikts Colmar-Rouffach. Seit einem Jahr pensioniert. Leider.
Rapp entfuhr erneut ein Seufzer. Er sah auf seinen Hund hinunter. Der das als Aufforderung zu verstehen schien, es mit dem Markieren gut sein zu lassen und sich auf den Weg zu machen, um oben am Weinberg den zweiten Teil des Geschäfts zu verrichten.
Sie spazierten auf dem schmalen Trottoir die gewundene Rue Grand Cru entlang, während weitere Trecker und Erntefahrzeuge an ihnen vorbeidonnerten, und erreichten die halbrunde Place de la Mairie vor dem Bürgermeisteramt. Dort nahmen sie wie üblich die Rue de Vincent, die steil zwischen den Wohnhäusern zum Weinberg hinaufführte.
An der Weggabelung, von wo sich verschiedene Pfade die Weinberge, den Hohenwald oder zur Klosterruine hinaufschlängelten, hatten sie ihr Ziel erreicht. Rapp nahm dem Hund die Leine ab, und Balzac trabte gemächlich hinter das steinerne Denkmal des heiligen Vincent, um irgendwo im Gebüsch sein Geschäft zu machen.
Rapp wandte sich um, als hätte er mit keinem Hund der Welt auch nur das Geringste zu tun. Er ließ den Blick über die Weinberge wandern. Hoch und noch immer sattgrün standen die Rebstöcke in ihrem Herbst, die Trauben hingen wie schwere Kuheuter daran und schienen danach zu lechzen, endlich abgeerntet zu werden. Überall sah Rapp die Weinbauern mit ihren Fahrzeugen, auf denen die Erntehelfer saßen, zu ihren Wingerten fahren.
Er verstand nicht viel vom Weinbau - und vielleicht noch nicht einmal etwas vom Weintrinken -, aber dass die zunehmend heißeren Sommer zum Problem wurden, wusste auch er. Einige Winzer dachten bereits daran, den Hohenwald weiter abzuholzen und den Weinanbau in größere Höhen zu verlagern - oder neue Rebsorten zu pflanzen, die den hohen Temperaturen besser standhielten.
Im Gebüsch raschelte es, Balzac kam hechelnd mit zufriedenem Gesichtsausdruck heraus, und sie machten sich auf den Rückweg.
Schräg gegenüber der Mairie lag Jeannettes Boulangerie. Rapp befestigte Balzacs Leine an dem eisernen Ring neben der Eingangstür der Bäckerei und betrat den Laden. Ein junges deutsches Paar mit einem kleinen Mädchen an der Hand der Mutter bestellte soeben. Jeannette, die Rapp mit einem kurzen Blick und einem kleinen Lächeln begrüßt hatte, hörte angestrengt zu.
Der junge Vater mühte sich redlich, Jeannette per Schulfranzösisch seine speziellen Wünsche zu erklären. Bis es ihr zu bunt wurde. Auf Deutsch, mit ihrem besonderen elsässisch-alemannischen Zungenschlag, wiederholte sie, was sie verstanden hatte: »Alors, Sie wünschen zwei Baguettes, zwei pains au chocolat, also Schokobrötchen, ein Glas Himbeermarmelade und einen Liter H-Milch, nicht wahr?«
»Ähm .« Der junge Vater sah sie irritiert und erkennbar enttäuscht an. »Ja. Korrekt.«
»Bon. Gutt.« Jeannette brauchte nicht lange, um dem Paar seine Wünsche zu erfüllen und es freundlich mit seinem Kind zu verabschieden. »Salut, auf Widderrsen, messieurs-dames!«
Dann wandte sie sich Rapp zu. »Salut, Jean Paul. Wie geht's?« In Windeseile hatte sie ihm das übliche flûte, eine Baguettestange, und seine Samstags-Brioche in eine Papiertüte geschoben und auf die Glastheke gelegt.
Rapp zog seine Börse aus der Hosentasche, zählte das Geld ab und reichte es Jeannette.
Ihre graublauen Augen blitzten kurz auf, ihre Wangen färbten sich rosa, und ihr Busen begann sich aufgeregt zu heben und zu senken. Sie hielt sogar seine Hand fest.
Rapp sah sie verlegen an.
»Hast du's schon gehört, Jean Paul?«
»Was denn?«
»Oder gelesen? Es steht ja schon in der Zeitung!«
»Jeannette. Wovon redest du?«
»Na, von Pierre Leroux natürlich.«
»Leroux aus Winzenheim?« Pierre Leroux war dort Bürgermeister.
»Aber ja. Er ist tot.«
»Was?«
Jeannettes Augen blitzten wieder auf. »Er wurde ermordet.«
Rapp starrte sie an. Hatte Jeannette den Verstand verloren?
»Du glaubst mir nicht, was?« Sie sah ihn herausfordernd an. »Aber es stimmt. Es waren Einbrecher. Leroux war zufällig zu Hause in seinem Büro. Dort haben sie ihn . erschlagen.«
»Erschlagen? Wieso sollten sie?« Wenn sie doch Einbrecher und keine Mörder gewesen waren.
»Aah, lies doch selbst, Jean Paul. Steht alles im >Alsacien<.« Sie machte rasch ein paar Schritte zum Zeitungsregal neben der Eingangstür, kam mit einem Exemplar der Tageszeitung aus ihrer Region zurück und legte es auf die Theke neben die Brötchen. »Eins zwanzig noch, mein Lieber.«
Rapp öffnete erneut sein Portemonnaie und zählte ergeben das Geld ab.
Während er frühstückte - Rapp trank den café noir ohne Zucker, bestrich dafür die Brioche dick mit Butter und einem Klecks Honig -, las er den »Courant Alsacien«. Das heißt, an diesem Morgen interessierte ihn eigentlich nur der Artikel über den Tod des Bürgermeisters von Winzenheim.
Rapp kannte Pierre Leroux nicht persönlich, aber natürlich dem Namen nach. Leroux, so viel wusste er über ihn, war in seinem Brotberuf als Winzer einer der größten Weinbauern im ganzen Elsass gewesen, der schon seit Jahren als konservativer, ziemlich rigider, aber in der Sache unnachgiebiger und parteipolitisch unabhängiger Kandidat angetreten war - und jedes Mal gewonnen hatte.
Ein Reporter des »Alsacien«, nein, eine Reporterin namens Aimée Polignac, wusste zu berichten, dass »der im Ort äußerst angesehene und beliebte Leroux« gestern Nachmittag, am Freitag also, im privaten Büro seines Wohnhauses in der Rue de Schauenburg überfallen und brutal erschlagen worden war.
»Seine Frau, die sich unterdessen in einem Pflegeheim befunden hatte, um wie jeden Tag ihre neunzigjährige Mutter zu besuchen, fand ihren Mann nach ihrer Heimkehr am frühen Abend rücklings auf dem Boden liegend, mit einer klaffenden Wunde an der Schläfe. Sämtliche Schränke und Schubladen des Büros, in dem Leroux ausschließlich Unterlagen seines eigenen Winzerbetriebs verwaltete, waren durchwühlt. François Rimbout, seit einem Jahr Leiter des Kriminaldistrikts Colmar-Rouffach, geht davon aus, dass die Täter nicht mit der Anwesenheit ihres Opfers gerechnet hatten. Es sei schließlich bekannt, dass der Bürgermeister in der Regel am Freitagnachmittag Trauungen in der Mairie vornahm, doch an diesem...
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