Tibor Rode
Der Wald
Wer Böses sät, wird Unheil ernten Weltweit sorgen anonym verschickte Postsendungen für Aufruhr: Tausende Menschen erhalten scheinbar harmlose Päckchen mit Saatgut. Zwar warnen die Behörden davor, die Samen einzupflanzen, doch da ist es schon zu spät. Eine bislang unbekannte, invasive Pflanze breitet sich in rasantem Tempo aus - und bringt auf der ganzen Welt Krankheit und Tod. Denn sie selbst und ihre Pollen sind hochgradig gefährlich.
Der Botaniker Marcus Holland, der auf dem Gebiet der Pflanzenneurobiologie forscht, ist überzeugt, dass wir die pflanzliche Intelligenz bislang unterschätzen. Umso mehr fasziniert ihn der Eindringling und jagt ihm gleichzeitig Angst ein. Seine Suche nach dem Ursprung der Päckchen mit den angsteinflößenden Samen führen ihn und die Archäobiologin Waverly Park von Kanada über China zurück nach Deutschland, wo sie eine schier unglaubliche Entdeckung machen .
Das Päckchen kam mit der Post. Kaum größer als ein Briefumschlag und so leicht, als sei es leer. Es enthielt kein Anschreiben, keinen Absender, nur zwei durchsichtige Tütchen mit etwas, das Anette Walters, deren Name als Empfänger auf dem Paket stand, als Pflanzensamen identifizierte. Anette Walters besaß eine mittelgroße Farm in Cottonwood, Minnesota, inmitten des »Grain Belts«, der sogenannten Kornkammer der Vereinigten Staaten, und war mit der wundersamen Kraft des Pflanzenwachstums vertraut. Neben dem kommerziellen Anbau von Weizen, Hafer, Soja und Mais auf ihren saftigen Ackerflächen, die bis hinab zum Cottonwood Lake reichten, bewirtschaftete sie auch ein Gemüsebeet hinter der Scheune für den Eigenbedarf. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie Post von den großen Agrarunternehmen erhielt, oder auch von den Riesengemüse-Shows aus dem Matanuska-Susitna Valley, die ihre neuesten Rekordzüchtungen anpriesen. Und so machte sie sich wenig Gedanken darüber, dass jemand offenbar vergessen hatte, dem Päckchen das obligatorische Werbeschreiben beizulegen. Vielmehr war sie neugierig, was aus den Samen wuchs, denn sie hatte in ihrem Leben eine Menge Saatkörner gesehen, aber niemals zuvor welche wie diese. Farbe und Größe erinnerten an eine Kidneybohne, doch die Oberfläche war merkwürdig geschuppt wie bei einem kleinen Käfer und das Rot der Samen so leuchtend, dass sie in einem Reflex aus Urzeiten kurz zögerte, sie anzufassen. Sie pflanzte die Samen an einem sonnigen Samstagabend in ihrem Gemüsebeet in bester Lyon-County-Erde und vergaß nicht, etwas vom besonders stickstoffreichen Fledermausguano aus Ägypten dazuzutun. An den folgenden Tagen brauten sich am Horizont für die Jahreszeit untypisch graue Regenwolken zusammen und sorgten für ein schwülwarmes Klima, das jede Arbeit auf der Farm zur Qual machte. Und weil sich mit dem Wetterumschwung Anette Walters' Asthma zurückmeldete, nutzte sie die kurze Pause vom Sommer, um im 14,5 Meilen entfernten Marshall den Arzt aufzusuchen und einige Besorgungen zu erledigen. Das etwas mildere Klima in der Stadt und die kurze Auszeit von der harten Feldarbeit taten Lunge und Rücken gut. Da ihr Bruder und dessen Frau in Marshall ein großes Haus besaßen und sie ihre drei Nichten ohnehin zu selten sah, blieb sie über das Wochenende dort.
Wenige Tage sind im Leben einer Pflanze normalerweise nur ein Augenzwinkern, doch als Anette Walters gegen Abend zu ihrer Farm zurückkehrte, schienen in dem Beet hinter der Scheune Wochen vergangen. Aus den unbekannten Samen waren innerhalb einer guten Woche Pflanzen gewachsen, die ihr bereits bis zur Hüfte reichten: feste Stängel von der Stärke eines Kinderarms und große, ausladende Blätter, die von der Form an einen Baseballhandschuh erinnerten. Die Gärtnerin in ihr plädierte dafür, die Pflanzen herauszureißen, denn sie wusste, dass in der Natur alles Eilige meist Gefahr bedeutete. Doch dann fiel ihr Blick auf die ersten, prallen Knospen, die sich zwischen den Blättern bildeten und mit ihren feinen Härchen an kleine Seeigel erinnerten, und es siegte in ihr die Neugierde darüber, welche Blütenpracht zum Vorschein kommen würde. Diesen Entschluss musste sie irgendwann revidiert haben, viel später, als die Pflanzen lange blühten.
Ihr Bruder fand Anette Walters' Leiche an genau dieser Stelle im Garten, nachdem er sie tagelang nicht hatte erreichen können. Neben ihr lag eine Motorsäge. Sie hatte Verbrennungen an den Händen und starrte mit leeren Augen in den blauen Himmel. Der Arzt konnte die Brandblasen nicht erklären, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Pflanzen erste Wurzeln im Leichnam geschlagen hatten, und diagnostizierte einen Asthmaanfall als Todesursache. Die Tote wurde nach Marshall gebracht und dort auf Geheiß des Bruders bald eingeäschert. Die Farm blieb verlassen zurück, da der Bruder weder Zeit noch Kraft fand, sich alsbald um den Verkauf zu kümmern. Dabei hätte sich jeder Kaufinteressent, der die lange Zufahrt zur Farm hinaufgefahren wäre, schon von Weitem gewundert, was für eine Pflanze das war, die einen großen Teil der Fläche hinter der Scheune überwucherte und deren Blüten auch aus der Ferne weiß in der Sonne Minnesotas glänzten.
* Zur gleichen Zeit wurde 7600 Kilometer entfernt, im österreichischen Bezirk Pinzgau in der Gemeinde Maria Alm im schönen Ortsteil Hintermoos, der Briefkasten des Holzhauses der Familie Enzinger geöffnet. Wie jeden Tag in den großen Sommerferien durfte die kleine Sophie die Post hereinholen. Auf dem Weg in die Küche, in der sich die Mutter anlässlich des Geburtstages von Sophies großer Schwester an Salzburger Nockerln und anderen Köstlichkeiten versuchte, erregte zwischen den langweiligen Briefen ein schmales Päckchen aus grauer Plastikfolie Sophies Aufmerksamkeit. Obwohl sie gerade erst sechs Jahre alt geworden war, konnte sie bereits lesen, und in den Ferien hatte sie gelernt, auf Briefen nach dem Absender zu suchen. Doch auf diesem Packerl fand sie keinen. Zurück in der Küche nahm sie das Kuchlmesser, das die Mutter gerade benutzt hatte, und schnitt das Päckchen auf, schön vorsichtig, weg vom Körper, wie die große Schwester es ihr gezeigt hatte. Zum Vorschein kamen zwei durchsichtige Tütchen. Sie hielt sie gegen die Sonne, die vom nahen Hochkönigmassiv herab durch das Fenster schien. Das Sonnenlicht verstärkte das feurige Rot der Steinchen in der Tüte. »Das sind keine Steinchen«, sagte die Mutter, als sie Sophie die Tüte aus der Hand nahm und sie vor ihrem Gesicht hin und her drehte, »das sind Houbulln!«
»Houbulln?«, fragte Sophie, die die Burgenländer Mundart ihrer Mutter oft nicht verstand.
»Samenkapseln, zum Einpflanzen«, erklärte sie und deutete auf das Päckchen. »Ist denn da kein Schreiben bei gewesen?« Sophie reichte ihr das aufgerissene Päckchen. Kein Anschreiben, kein Absender. Die Mutter zuckte mit den Achseln, als es hinter ihr anfing laut zu zischen und sie sich fluchend der angebrannten Butter zuwandte. Sophie rutschte derweil mit dem Tütchen in der Hand vom Stuhl und verschwand unbeachtet durch die Hintertür in den kleinen Kräutergarten hinter der Küche, in dem sie vor nicht allzu langer Zeit mit der Mutter und der Schwester Bärlauch, Minze und Lavendel gepflanzt hatte. Sie strich mit der Hand über den Lavendel und roch an ihren Fingern. Dann nahm sie das kleine Schäufelchen aus der alten Obstkiste, die mittlerweile zur Aufbewahrung von Gartengeräten diente, und grub neben dem Bärlauch ein kleines Loch in die Erde, in das sie die roten Samen hineinfallen ließ, um hinterher alles wieder glatt zu streichen. Wie von der Mutter gelernt, nahm sie die eiserne Gießkanne und besprengte die Stelle mit Wasser. Das Plastik entsorgte sie vorschriftsmäßig in der gelben Mülltonne neben der Küchentür. Im nächsten Moment weckte die Katze des Nachbarn ihre Aufmerksamkeit und sie lief ihr nach, um sie endlich zu streicheln.
In den folgenden Tagen legte der Sommer im Pinzgau noch einmal an Kraft zu und zwang die Bewohner in die Häuser oder die Berge. Die Familie Enzinger zog es in eine Hütte kurz vor der Mittelstation am Arlberg, die von der Großmutter geerbt und Gott sei Dank behalten worden war.
So bemerkte niemand, wie im Garten der Familie Enzinger zunächst der Bärlauch starb und nach ihm der Lavendel und auch die Minze.
* »Der Baum wünscht Ruhe, aber der Wind hört nicht auf«, stöhnte Huang Shihao. Er hievte die grüne Kiste vom Tresen und trug sie zu den anderen im Lager, auf denen das Logo der China Post ?? ?? prangte.
»Du mit deinen Sprichwörtern«, entgegnete seine Kollegin Li. »War er schon wieder da?«
Huang kam aus dem Lager und schaute zur Tür des kleinen Postamts, welches in einer Straße etwas außerhalb von Hangzhou in der Provinz Zhejiang gelegen war. Als er sicher war, dass sie allein waren, hob er verschwörerisch die Augenbrauen. »Unheimlich ist, was in den Päckchen drin ist.«
Li riss die Augen auf. »Du hast doch nicht .«
Huang zuckte mit den Schultern. »Ganz vorsichtig. Und hinterher habe ich es fein säuberlich verschlossen. Niemand wird es bemerken.«
Seine Kollegin bemühte sich, einen tadelnden Blick aufsetzen. »Wenn die das in der Zentrale mitbekommen, werden sie dich feuern und der Polizei melden!«
»Unsinn!«, entgegnete Huang beinahe ärgerlich. »Wenn jemand so viele Päckchen ins Ausland versendet, ist es meine Pflicht als Leiter dieses Postamts, hineinzuschauen. Die Zentrale hat uns angewiesen, die...