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Kapitel 2
MAROKKO
Doro war es, als sei ihr dieses Flirren aus Licht, Wärme und Farben, aus fremden Gestalten und Gerüchen bereits seit Langem vertraut. Nie hatte sie Ähnliches gesehen, und doch schien sie es zu kennen. Absurd, dachte sie, Einbildung. Sie hob ihr Gesicht der Sonne entgegen und ließ sich vom Strom der Urlauber aus dem Flugzeug über das hitzeflirrende Vorfeld in den Schatten der Ankunftshalle treiben.
Jenseits der Absperrung wartete Ingrid mit ausgebreiteten Armen. Sie wehrte heranstürmende Träger und Taxifahrer ab und lotste Doro zu ihrem kleinen japanischen Geländewagen. »Du siehst blass aus, meine Liebe, aber das gibt sich, sobald dich die Sonne küsst. Schön, dass du da bist!« Ihre Freude war echt.
»Hier geht's ja drunter und drüber!« Doro deutete auf die Straße.
Taxis mit qualmenden Auspuffen hupten sich den Weg frei, Fahrer gestikulierten aus offenen Autofenstern, Männer in langen Kapuzengewändern und verhüllte Frauen überquerten die Straße, dazu Palmen im Wind, Staub, von der Sonne vergoldet, und Reiter auf bunt gezäumten Pferden. Eine Betonbrücke spannte sich über einen Fluss ohne Wasser, im Sand neben der Schnellstraße hüteten Kinder Ziegen, und Uniformierte bewachten ein Anwesen, über dessen Mauern sich Kaskaden von Bougainvillea und Jasmin ergossen. Auf der Straße Eselskarren, turmhoch beladene japanische Pick-ups, Mopedfahrer und rostfleckige Taxis, die jede Ampel ignorierten. Und bei all dem Trubel schienen alle guter Dinge zu sein. Was für ein Kontrast zu Deutschland!
Ingrid lachte und redete und erklärte. Die Reiter seien unterwegs zu einem Auftritt vor Touristen, Agadirs Taxifahrer wahre Virtuosen im Straßenverkehr und jeder achte auf jeden. Ihre Erklärungen glitten an Doro vorbei.
»Wie kommst du bloß damit zurecht?«
»Es ist, wie es ist.« Typisch Ingrid.
Zur Linken blitzte das Meer zwischen Hotelklötzen, entlang der Straße blühten Hibiskus und Oleander, und irgendwie schien hier alles aus dem Inneren heraus zu leuchten.
»Ich muss für ein, zwei Stündchen ins Büro, danach bring ich dich nach Hause, und wir richten uns gemütlich miteinander ein«, sagte Ingrid. Sie erläuterte ihre Arbeit, aber Doro hörte nicht wirklich hin.
Dieses merkwürdig vertraute Gefühl des ersten Augenblicks hielt an. Das konnte nur an Ingrid liegen. Von Anfang an hatte sie sie als Vorbild empfunden. Sie war einfühlsam, aber bestimmt, und stets objektiv, was ihr den Respekt von Schülern einbrachte. Wenn ihre Studenten fragten, wie sie das mache, antwortete sie: »Es gibt keinen Trick. Man muss auf sich selbst vertrauen. Das ist alles: Sich an den eigenen Rat halten.« Ingrids Maxime.
Sich an den eigenen Rat halten - wenn das so einfach wäre! Doro beobachtete Ingrid. Obwohl sie sich über ein Jahr nicht gesehen hatten, war es, als hätten sie sich erst gestern getrennt. Ungeachtet ihres Alters war Ingrid wahrscheinlich der lebendigste Mensch, den sie kannte.
»Schicke Frisur.« Doro deutete auf Ingrids kurze graue Haare.
Ingrid lachte. Sie erzählte von Mohammed, ihrem Friseur, den sie immer dann aufsuchte, wenn ihr nach Klatsch und Tratsch bei einem starken Mokka zumute war. Er kannte jedes Mitglied der kleinen deutschen Gemeinde in Agadir. Sie bestand aus Managern und Kaufleuten mit ihren Familien, aus deutsch-marokkanischen Paaren, Rentnern und Künstlern, und wenn möglich, hielt sich Ingrid von ihren Clubabenden und Partys fern. »Oktoberfest in Marokko? Darauf kann ich gut verzichten.« Dennoch hielt sie zumindest losen Kontakt, und sei es über ihren Friseur.
Furchtlos kurvte sie durch den Verkehr, hupte und gestikulierte wie die anderen Autofahrer und erzählte dabei vom Ringen mit der Zollbehörde und von ihrem Hilfsprojekt. In Doros Wahrnehmung vermengten sich ihre Worte mit den Straßenszenen, mit dem Licht und den Gerüchen zu einem aufregenden Kaleidoskop. Sie war heilfroh, hergekommen zu sein.
Aus einem ummauerten Gebäudekomplex, über dem die marokkanische Flagge wehte, fluteten Scharen von Kindern mit Schultaschen. Andere Kinder trieben ihnen entgegen.
»Schichtunterricht.« Ingrid deutete auf die Ströme. »Sonst kriegen sie nicht alle Kinder unter. Auf dem Land sieht es anders aus, dort werden die Mädchen als Arbeitskräfte gebraucht. Jungen sind selten besser dran, doch wenn es sich eine Familie irgend leisten kann, ermöglicht man ihnen wenigstens für ein paar Jahre regelmäßigen Schulbesuch. Bei Mädchen hingegen empfindet man Schule als Verschwendung, schließlich heiraten sie ja irgendwann.« Ingrid schnaubte.
Das alte Reizthema. Schon immer hatte sich Ingrid für die Förderung von Frauen, ihre Karriere und eine gleiche Bezahlung starkgemacht. Ihre Studentinnen konnten die Parolen rauf- und runterbeten. Doro schmunzelte.
»Lach nicht! Natürlich ist meine Arbeit nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein, aber solche Verhältnisse akzeptieren? Ganz gewiss nicht.«
»Ich weiß gar nicht, worüber ich lache, jedenfalls nicht über dich. Das alles hier ist so chaotisch, so widersprüchlich, und dabei wunderbar.«
Ingrid bog auf einen Platz ein, dessen Boden von abgefallenen blauen Blüten bedeckt war, während sich im Blätterdach darüber gleichzeitig unzählige frische Blüten öffneten. Eine blaue Wolke, unter der Autos parkten.
»Wer Chaos und Widersprüche mag, ist in Marokko goldrichtig. Nimm zum Beispiel diese Jacarandabäume. Sie sind Schattenspender, schon klar, aber sind sie nicht zugleich eine Augenweide? Sicher hat man sie auch deswegen angepflanzt. Die Blüten halten nicht lange, verdrecken die Autos, faulen irgendwann . Ja und? Hauptsache, sie erfreuen Auge und Herz. Voilà, mein Hauptquartier: Büro, Lager und überhaupt Lebensmittelpunkt.« Sie deutete auf die schmalen Läden, die den Platz umrahmten. Über einer der Türen prangte der Name »Alphabétisation des Femmes«.
»Etwas theatralisch, dieser Name, nicht wahr? Aber für meine Spenderfirmen genau richtig. Und ein paar Straßen weiter liegt mein Appartement. Nur eine kleine Wohnung, doch ich hoffe, es wird dir bei mir gefallen.«
Doro kletterte aus dem Wagen. Rundum Asphalt, Beton und Autoblech, dazwischen Bäume und dunkelrote Erde, bedeckt von welkender Blütenpracht. Es stank aus den Gullys, und doch lagen zugleich die Frische des nahen Meeres und süßer Blumenduft in der Luft.
Neben Ingrids Büro saßen Händler zwischen Taschen und Wasserpfeifen vor ihren überquellenden Geschäften. Sie schlürften Tee aus kleinen Gläsern, warfen Ingrid Scherzworte zu und winkten freundlich. »Das sind meine Nachbarn Salamah, Abdu und Omar. Du wirst sie noch kennenlernen.«
Gegenüber schöpfte ein Junge mit beiden Händen Wasser aus einem Eimer und spritzte es über das Pflaster. Die Wassertropfen glitzerten in der Sonne wie flüssiges Silber. Doro hatte den Eindruck, einer archaischen Kulthandlung beizuwohnen. Ingrid war ihrem Blick gefolgt. »Gegen den Staub. Außerdem kühlt es die Luft.« Wie prosaisch.
Quietschend ruckten die Rollläden an Tür und Schaufenster von Ingrids Büro nach oben. Ingrid lachte. »Ibrahim! Woher weiß er, dass wir gerade angekommen sind? Er muss den sechsten Sinn haben.«
Groß und dünn, gekleidet in ein knöchellanges Hemdgewand, stand ein älterer, dunkelhäutiger Mann zum Empfang bereit.
»Ich bin Ibrahim, Lâlla1 Ingrids Helfer«, strahlte er und bot Doro auf einem Tablett Datteln und Milch an. »Willkommen in Marokko, bienvenue, Mademoiselle Dorothea. Le bäs, wie geht es dir? Tritt ein und bringe baraka ins Haus.« Er sprach eine wilde Mischung aus Französisch und etwas, das in Doros Ohren arabisch klang.
»Vielen Dank, ich bin aber keine Mademoiselle, ich bin einfach Dorothea«, sagte sie, »oder Doro, das ist noch besser.«
»Doro, wie Gold? Swuina, ein schöner Name. Er passt zu deinem Haar.«
»Wer zum ersten Mal ein masirisches Haus betritt, wird traditionell mit Orangenmilch und Datteln begrüßt«, erklärte Ingrid, »und mit dem Spruch >Mein Haus ist dein Haus<. So gehört es sich. Marokkaner sind nicht nur freundlich und hilfsbereit, sie legen auch Wert auf würdiges Verhalten.«
Doro trank von der Milch und aß eine Dattel, erst dann gab Ibrahim die Schwelle frei.
Im Inneren roch es nach Staub. Der Schreibtisch mit Telefon, Ordnern und Ablagen dicht an der Schaufensterscheibe bildete das Zentrum, im hinteren Bereich gab es einen Abstelltisch mit Kochplatte, Tellern und Gläsern, und an der Wand hingen Plakate und ein Porträt des marokkanischen Königs. Ingrids Reich.
»Nicht besonders komfortabel.« Ingrid öffnete die Tür zu einem fensterlosen Nebenraum. Im Licht der nackten Glühbirne erkannte Doro raumhohe Regale, darauf Kisten und Kartons, und in der Ecke ein Waschbecken und eine Matratze am Boden. »Wie gesagt, nichts Tolles, doch für meine Zwecke ausreichend. Und jetzt die entscheidende Frage: Hast du etwas mitgebracht?«
Doro deutete auf ihre prall gefüllte Reisetasche.
»Gutes Kind! Wir können jeden Kuli gebrauchen.«
Im Handumdrehen leerte sich die Tasche. Tuschkästen, Kugelschreiber und Blöcke wurden in Listen eingetragen, Hefte und Stifte sortiert. Ein Stück nach dem anderen wanderte ins Regal, während Ibrahim mit Wasserkocher und Teekanne hantierte und zugleich Doro unauffällig musterte.
Ingrid erzählte von ihren Fahrten über Land, von der Mühsal, behördliche Genehmigungen zu erhalten, von der...
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