Die Heuraffler
Eine Jagderzählung
»Heuraffel .« Wenn ich mir dieses Wort vorsage, dann taucht die Gestalt eines breitspurig dasitzenden Riesen vor mir auf. Eine unförmige Felsspitze ragt in den herbstlich lichtblauen Himmel, auf der einen Seite schroff und felsig abstürzend, auf der anderen bis zum Scheitel hinauf von Lahnern und Laublatschen überzogen. Das ist der Kopf des Riesen, »Heuraffelkopf« nennt ihn der Volksmund. Zu seiner Rechten fällt die Linie der Schulter und des Armes bis zum Knie in einem zerklüfteten Felsgrat ab, den alte Rauhfichten krönen. Das Bein verschwindet in vielen herbstbunt leuchtenden Buchenkronen. Sein linker Arm verliert sich auf der Schneid zwischen der Grubalm in seinem Rücken und der ihm zu Füßen liegenden Elandalm, während sein linkes Knie sich in einem breiten Streifen Fichtenwaldes darstellt und den südlichen Rand der eben genannten Elandalm bildet. Zwischen diesen beiden Heuraffel-Knien, die in kraftvollem Behagen weit auseinanderstehen, fällt, wie der Lederschurz eines ausruhenden Schmiedes, eine steile, ziemlich breite Mulde zur Elandalm ab.
Jedem erfahrenen Bergjäger schlägt beim Anblick des Heuraffel das Herz höher, denn gerade in dieser Mulde, die von der undurchdringlichsten Buchenjugend bestockt und von unzähligen Rillen und Rinnen, Wänden, Felsköpfen und Geröllfeldern durchzogen ist, hat alles Wild, Gams, Reh und insbesondere das Rotwild, einen kaum je gestörten, einen ganz sicheren Einstand. Zu sicher nur! Die Hirsche im Heuraffel sterben steinalt den Schneetod, ohne daß je ein menschliches Auge ihren Hauptschmuck geschaut hat.
Kein Steig quert die Mulde oder dringt auch nur ein Stück weit in die Buchendickung ein zu irgendeiner der kleinen Blößen oder einem der Ausblick gewährenden Felsköpfe. Es widerstrebt dem Waidmann, durch seine stillsten, heimlichsten Revierteile noch so versteckte Menschenpfade und damit Unruhe und Unbehagen zu leiten. Irgendwo auf dieser, Gott sei's geklagt, so bevölkerten Erde muß doch ein bißchen Wildnis, ein bißchen unentweihtes Gebiet erhalten werden! Ob außerdem so ein Steig drei Jahre, nachdem er angelegt wurde, noch gangbar wäre, ist sehr zweifelhaft, denn in dem unerforschten Buchenhang steinelt es in einem fort, bald leise rieselnd und klappernd, bald mit lautem Knall und schwerem Krachen, wenn ein Felsbrocken von den Wänden niederstürzt, eine steinerne Träne aus dem Antlitz des Heuraffel-Riesen, geweint über aller Dinge, auch des härtesten Felsens Vergänglichkeit.
Die Elandalm ist wohl der beste Brunftplatz des Reviers. Rings Dickungen und Hochwälder. Das Rotwild zieht am Abend von allen Seiten in den langgestreckten, ernst anmutenden Almkessel herunter, nach allen Richtungen am Morgen in die umliegenden Wälder hinauf. Weither kommen alljährlich im Oktober die Hirsche, um auf Eland Brautschau zu halten. Da wird es nachts lebendig in dem sonst so stillen Kessel, überall tönt sehnsüchtig, verliebt oder zornig der Hirschschrei. Geröll rieselt, Steine poltern, harte Fluchten trommeln über den Almgrund hin, bis es gegen Morgen stiller wird, der Harem verteilt ist und auf getrennten Wechseln kleine Rudel mit ihren Gebietern ins Waldesdunkel einziehen. Fünf, sechs, sogar sieben Hälse habe ich in manchen Nächten schon unterschieden auf der Alm, die kaum hundert Tagwerk Fläche hat.
Der Heuraffel bietet wenig Äsung in seinem felsigen Teil, nur Lahnergras, das im Herbst schon dürr ist und modrig riecht, »stinkt«, wie der Bergler sagt. So muß im Oktober das Heuraffel-Wild auf die Alm herunter, und wo das Wildbret hinzieht, dahin zieht in der Brunft auch der Hirsch. Aber so oft es auch gelingen mag, an einem der vielen anderen Aus- und Einwechsel den verfrühten oder verspäteten Hirsch zu erwarten oder abzufangen, an den zahlreichen Wechseln des Heuraffels gelingt dies fast nie. Weshalb, darüber hat sich schon mancher hirschgerechte Waidmann in langen Hüttennächten den Kopf zerbrochen, darüber ward mancher Kriegsrat am verglimmenden Herdfeuer gehalten, herausgebracht haben wir's nie. Teilweise läßt sich's ja erklären: Der Almboden reicht weit hinein unter den Gürtel alter Fichten, der als breiter, dunkelbrandender Wipfelwall die Buchenjugend umgürtet, weshalb das Wild, obwohl schon eingezogen, noch lange ruhig sich fortäsen kann. Auch ist die Alm am Rand der Heuraffel-Dickung besonders schmal, so daß ein Rudel, wenn es in der Mitte des Kessels steht, bei Anbruch der Dämmerung kaum einen Büchsenschuß weit bis zum schützenden Wald zu ziehen hat. Aber es ist dies an den übrigen Seiten nicht viel anders, und das Wild zieht auch nicht nur der Äsung halber auf die Alm, sondern weil es einmal am Tag eine freie Fläche betreten will. Jedes Schalenwild sucht des Nachts freie Flächen auf, wohl des weiteren Ausblicks und der größeren Sicherheit wegen, vielleicht auch, weil ein natürlicher Drang es veranlaßt, die Beengung des geschlossenen Waldes zu verlassen. Und wie gern erwartet es so im Freien die ersten Sonnenstrahlen!
Es wurden gewiß ab und zu Hirsche an jenen Wechseln geschossen, doch - man wird mich auslachen - es waren dies keine echten »Heuraffler«, wie sie, lange bevor ich den ersten Schuß getan, schon mein Großvater taufte. Das waren andere Hirsche von irgendwoher, vom Weißenberg, von den Zeller Wänden, vom Schoßbachgraben, die, einer Laune ihres Kahlwildes folgend, gerade einmal eine kurze Gastrolle im Heuraffel gaben oder durch seine weiten Buchenjugenden hindurchzogen, fernen Brunftplänen zu oder von solchen her. Auch das waren gute Hirsche, andere schoß man nicht, mit oft sehr ansehnlichem Hauptschmuck. Aber »Heuraffler« waren es nicht, Söhne des steinernen Riesen mit gewaltigen, knorrigen Geweihen, so wie der Großvater eines in seinem Zimmer hängen hatte von einem Zwölfer, stark zurückgesetzt, doch astig und schwarz bis in die Spitzen der knuffigen Enden.
Von den meisten Hirschen, die in seinen Zimmern hingen, hatte mir der Großvater die Geschichte erzählt. Von dem Vierzehnender in der Schreck, den er bei Schnee und Mondschein aus dem Hüttenfenster geschossen, von dem alten Sechser und dem Zwölfer, die in der Grub miteinander gekämpft hatten, von dem kapitalen Kronenzehner am Hochboden, der plötzlich auf dem Steig vor ihm stand und mit den rauhen Stangen zornig in einen Ameisenhaufen schlug. So hatte jedes Geweih seine mehr oder minder eigenartige Legende, die ich mit eiserner Beharrlichkeit dem Großvater abrang, und deren Erzählung ich dann mit angehaltenem Atem lauschte. Die Geschichte jenes Heuraffel-Zwölfers aber habe ich nie aus ihm herausgebracht, obwohl er einer seiner allerbesten Hirsche war. Stets, wenn ich ihn danach fragte, ging er darüber hinweg - »ein andermal«, und nur einmal hat er ein wenig mehr darüber angedeutet.
Das erste Revier, in dem ich auf den Brunfthirsch waidwerken durfte, lag weitab vom Heuraffel und der Elandalm. An diesen Hauptplätzen jagten zu der Zeit nur würdige alte Waidgenossen des Großvaters oder er selbst. Es war auch gut so, denn wo der Tisch nicht so reich gedeckt, da ist die Birscharbeit härter, und dabei lernt ein junger Jäger mehr. Erst als die Zahl guter Geweihe die Wände meiner kleinen Turmzimmer beinahe schon ausfüllte, durfte ich den Großvater zum erstenmal auf die Elandhütte begleiten. Zwei seiner alten Freunde waren gestorben, den dritten hielt die Gicht auf dem Krankenlager. Ein sonniger Michaelitag stand über der dunstigen Berglandschaft. Auf die Flanken der Buchenhänge hatte der Herbst das erste gilbende Rot gehaucht, da und dort flammte schon in eitlem Gold ein Ahorn. Am Morgen war das Vieh von den Almen heruntergekommen. Wirr durcheinander klangen die vielen Glocken und die Rufe der Knechte und Sennerinnen das Tal entlang. Die Laute drangen durch die kleinen Fenster in meine Turmstube, in der ich gerade zusammenpackte für den Aufstieg in mein gewohntes Revier. Da ließ der Großvater mich rufen. Als wäre es gestern gewesen, seh' ich ihn noch vor mir inmitten seines langgestreckten Arbeitszimmers, ein Telegramm in Händen: »Clemens hat abgesagt, wenn du willst, kannst du auf Eland mitkommen.«
Besonders still und nachdenklich stieg der hochgewachsene, sehnige Mann, dem man nicht ansah, daß er über Siebzig war, an dem Tag vor mir her, den steinigen Viehweg erst steil hinauf und dann, links abbiegend, fast eben zur Alm hinüber. Schon lugte unter rauhzottigen Fichtenarmen der Giebel der Jagdhütte hervor, in der uns Balthasar, der Förster, der wohl schon zur fünfundzwanzigsten Hirschbrunft hier heraufgestiegen war, erwartete. Da blieben wir beide stehen und horchten auf. Der erste Brunftschrei! Tief, ernst, beinah traurig kam das kurze Knören aus dem Heuraffel-Dickicht. Der Großvater nickte hinauf, als habe ihn ein alter Freund begrüßt: »Er ist wieder da heuer.«
Es folgten glückliche Tage. Ich schoß bald einen guten Hirsch, kurz darauf der Großvater einen noch besseren, dann wanderte auf Eland ein alter Sechser zu, ein Raufbold, wie er in den Wäldern zwar selten vorkommt, dafür aber in den meisten Jagdromanen beschrieben wird. Dem opferte von da ab der Großvater seine Birschen, während ich mit dem wackeren Balthasar entferntere Plätze aufsuchte. Hirsche gab's zu jener Zeit noch überall.
Des Heurafflers ward selten Erwähnung getan. Hie und da, wenn wir uns vor der Hütte sonnten und ein kurzer Brummer aus dem lohenden Buchendickicht ertönte, sahen der Großvater und der Balthasar sich wie in bedeutungsvollem Einverständnis an, und ich wagte längere Zeit nicht zu fragen. Wenn sie aber beide vormittags schliefen, saß ich hinter der Hütte, brachte das Glas nicht mehr von den Augen und suchte jede winzige Lücke,...