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Ungefähr drei Stunden vorher
Ich hätte nicht gedacht, dass es nach all dieser Zeit so schwer sein würde, an der Gedenkstätte zu stehen. Dass meine Emotionen so heftig ausfallen würden. Zwanzig Jahre ist es nun her, seit das Flugzeug ins Meer gestürzt ist, und seitdem ist so viel passiert. Ich war vierzehn, als es geschehen ist, nun bin ich vierunddreißig - aber als ich jetzt, im Regen, auf die Gedenktafeln aus grauem Stein starre, fühle ich mich wieder wie der Teenager von damals: verzweifelt und unfassbar traurig.
Der kühle Wind zerrt heftig an meinem Haar, lässt die offenen Strähnen durcheinanderwirbeln - nichts erinnert heute daran, dass wir eigentlich Hochsommerwetter haben müssten. Die dramatischen Wolkenberge am Himmel passen zu meiner Stimmung. Ich blinzele ein paar Tränen fort, während ich auf die eingravierten Worte starre:
In memory of the 229 men, women and children
Aboard Swissair Flight 111
Who perished off these shores
September 2, 1998
They have been joined to the Sea and the Sky
May they rest in peace
Dann gleitet mein Blick über die Reihen aus eingravierten Namen. Meine Finger krampfen sich um das helle Leder meiner Handtasche, während ich atemlos nach ihrem Namen suche.
Als ich ihn finde, beiße ich mir so heftig auf meine Unterlippe, dass ich Blut schmecke.
Lydia Stern.
Das war sie. Meine Mama. Sie war einer der 229 Menschen an Bord von Swissair-Flug 111. Ein heiseres Schluchzen ringt sich aus meiner Kehle, und ich wische mir mit dem Handrücken unter meinen Augen entlang. Rasch sehe ich mich um, weil mir plötzlich die Frau einfällt, die mich vorhin, in Peggy's Cove, beobachtet hat. Dort, an der zweiten Gedenkstätte für den Flugzeugabsturz, war ich heute zuerst. Und ich war nicht ganz allein dort, denn plötzlich ist diese andere Deutsche neben mir aufgetaucht. Ich kann gar nicht sagen, woher ich gewusst habe, dass sie aus Deutschland kam - es war wohl ein Bauchgefühl.
Und ich hatte recht, denn sie sprach auf Deutsch mit mir. Ich dachte erst, sie hätte ebenfalls jemanden beim Flugzeugabsturz verloren, hoffte schon auf jemanden, der verstand, was ich fühlte, auf eine Art Verbündete.
Nein, wie sich herausstellte, hatte die Fremde keine Angehörigen an Bord gehabt, und trotzdem war sie in gewisser Weise mit dem Unglück verbunden: Sie war damals hier gewesen, vor Ort, als die Swissair-Maschine in jener Septembernacht vor zwanzig Jahren zwischen den Orten Peggy's Cove und Wildberry Bay ins Meer gestürzt war, und diese Tatsache hat mich regelrecht überwältigt. Sie war hier gewesen, als meine Mutter, gemeinsam mit den anderen Menschen an Bord, über Wildberry Bay hinweggeflogen war und ihre letzte Ruhestätte im dunklen Atlantik gefunden hatte.
Ich war nicht hier gewesen. Ich hatte in meinem gemütlichen Bett zu Hause in Zürich so tief und fest geschlafen, wie ich in den kommenden Wochen nicht mehr schlafen würde. In jener Nacht konnte ich noch nicht ahnen, dass an der Ostküste Kanadas meine Mutter ums Leben gekommen war.
Aber diese fremde Deutsche, die sich als Florentine vorgestellt hat, sie war hier gewesen. Sie hatte den Absturz mitbekommen.
Diese Vorstellung beschäftigt mich noch immer, als ich meine Fingerkuppen sacht über den eingravierten Namen meiner Mutter gleiten lasse, an dieser menschenleeren und recht abgelegenen Gedenkstätte, wo ich nur das Wispern des Windes in den Baumwipfeln über mir und das entfernte Rauschen der Brandung höre. Diese Gedenkstätte ist mir so viel lieber als die andere, in der Nähe des berühmten Leuchtturms von Peggy's Cove, denn dort waren heute für meinen Geschmack viel zu viele Touristen unterwegs. Die Begegnung mit dieser Florentine fand ich zwar sehr nett, weil sie mir auf Anhieb sympathisch war, aber all die anderen neugierigen Blicke der Urlauber, die Fotos des Denkmals machten, als wäre es nur eine weitere Touristenattraktion, haben mich gestört. Hier ist alles intimer und ruhiger, und ich wünsche mir, das Wetter ließe es zu, mich auf den Rasen, an den Rand des durch Pfosten und Ketten rund abgegrenzten Areals zu setzen, wo unter den sattgrünen Grashalmen sterbliche Überreste der Flugzeuginsassen beerdigt sind. Vielleicht auch Mamas.
Ich habe das als Teenager nicht wirklich verstanden - nicht verstehen wollen. Warum dieses Massengrab? Warum konnten wir meine Mutter nicht in Zürich beerdigen?
Heute weiß ich, wie es ist, wenn ein Passagierflugzeug ungebremst auf einer Wasseroberfläche aufschlägt. Ich habe inzwischen begriffen, was das mit den Körpern der Menschen an Bord gemacht hat. Und dass es nicht immer möglich war, die aus dem Salzwasser geborgenen Überreste einem Fluggast von der Passagierliste zuzuordnen. Doch obwohl ich heute zum ersten Mal an dieser Gedenkstätte bin, zum ersten Mal den Ort sehe, wo meine Mutter möglicherweise beerdigt wurde, kann ich nicht länger bleiben. Das Wetter wird immer schlimmer statt besser, und ich muss zurück zu meinem Schiff. Schweren Herzens lege ich den Strauß leuchtend gelber Sonnenblumen - Mamas Lieblingsblumen - an den Rand der Rasenfläche und wende mich schließlich ab, um über den Fußweg zu meinem Mietwagen zurückzukehren. Als ich immer wieder über Wurzeln und glitschige Steine stolpere, verfluche ich mein heutiges Outfit, das überhaupt nicht an die raue kanadische Atlantikküste passt. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, diese Pumps anzuziehen? Und meine teure Designerhandtasche mitzunehmen, obwohl Regen angekündigt war? Außerdem wäre der Anorak mit Kapuze, den ich mir extra für meine Reise gekauft habe, sehr viel praktischer gewesen als dieser knallrote Trenchcoat von Burberry. Wen interessieren hier schon irgendwelche Marken?
Das Donnern der Brandung wird über den Wind zu mir getragen, während ich auf dem kleinen Parkplatz der Gedenkstätte in meinen Mietwagen steige und durch die Regenschlieren auf der Windschutzscheibe in die Richtung starre, wo sich der Atlantik schemenhaft zwischen den Bäumen abzeichnet. Dann fasse ich einen Entschluss.
Ich lenke den Wagen nicht sofort zurück Richtung Highway, der mich nach Halifax und auf mein Schiff bringen würde, sondern mache noch einen Abstecher zu dem Strand, der sich ganz in der Nähe der Gedenkstätte erstreckt. Selbst an einem grauen Tag wie diesem hat der Pine Tree Beach seinen Reiz, denke ich, als ich auf dem Seitenstreifen der Küstenstraße halte und über das wogende Dünengras hinweg auf den Sand und das tosende Meer dahinter starre. Wie schön es hier wohl an einem sonnigen Tag ist? Ganz kurz erlaube ich mir die Vorstellung, wie es wäre, in so einem kleinen Ort am Meer zu leben. Womöglich sogar fußläufig zum Strand, sodass man morgens vor der Arbeit dort joggen gehen könnte. Mit einem Hund. Ja, ein Hund würde gut zu so einem Leben passen.
Doch ich lebe nicht am Meer. Nein, mein Leben spielt sich völlig ohne Hund und Strand in Frankfurt am Main ab und ganz sicher nicht in diesem Ort am Atlantik, wo meine Mutter ihre letzte Ruhestätte gefunden hat. Am Main kann man auch gut joggen gehen.
Und dennoch zieht mich dieser Strand fast magisch an. Der Regen peitscht mir ins Gesicht, während ich aus dem Auto steige und die wütenden Wellen beobachte, die gischtgekrönt an die Küste rollen. Ich will nur kurz hinaus zu den Felsen gehen, die sich rechts von mir, wo der Sandstreifen immer schmaler wird, wie ein Gürtel weiter an der Küste entlangziehen. Ja, ich werde auf diese Felsen steigen und dem Atlantik ein paar kostbare Minuten lang ganz nah sein.
Mama ganz nah sein.
Aus purer Gewohnheit schließe ich den Wagen mit der Fernbedienung am Schlüsselbund ab - wer sollte hier, an diesem menschenleeren Strand, mein Auto stehlen? -, während ich schon den Trampelpfad einschlage, der mich am Rande des Strandes entlangführt. Mit den Absätzen meiner Pumps bleibe ich immer wieder im nassen Dünengras hängen, bis es mir reicht und ich die Schuhe einfach ausziehe. Nass sind meine dünnen Seidenstrümpfe sowieso schon, also kann ich auch so weiterlaufen, über den matschigen Untergrund, bis ich die Felsen erreiche. Ich lasse die Schuhe zu Boden fallen und steige auf den ersten Stein. Er ist glitschig vom Regen, und ich rudere leicht mit den Armen, um bloß nicht den Halt zu verlieren.
Plötzlich muss ich an die Bitte dieser Florentine denken, vorhin, in Peggy's Cove: Dass ich keinen Blödsinn machen soll. Sie hat erwähnt, dass die Angehörigen der Opfer direkt nach dem Absturz ihren Liebsten ganz nah sein wollten.
Ich habe sofort verstanden, was sie gemeint hat. Natürlich habe auch ich in den letzten zwei Jahrzehnten viel über die Tage und Wochen nach diesem Unglück gelesen, als Polizisten in Peggy's Cove aufpassen mussten, dass sich niemand von den berühmten Felsen ins Meer stürzte.
Nein, so etwas werde ich nicht tun. Immerhin sind zwanzig Jahre vergangen, seit meine Mutter hier ums Leben gekommen ist. Und selbst wenn ich mich in den letzten Monaten, seit Papas Tod, so einsam gefühlt habe wie noch nie zuvor, bin ich doch . zufrieden mit meinem Leben. Ich habe meine Karriere als Juristin, die mich voll und ganz ausfüllt. Diese Arbeit passt so gut zu mir, denn ich bin seit meiner Kindheit mit ihr vertraut. Mein Vater war Jurist, ein besonders guter. Es war ein Selbstläufer, dass ich in seine Fußstapfen getreten bin.
Wie immer verbiete ich mir den Gedanken, dass ich mich beruflich sehr wahrscheinlich in eine andere Richtung entwickelt hätte, wenn meine Mutter noch bei uns gewesen wäre, als ich mein Abitur gemacht habe. Es bringt nichts, darüber nachzudenken, was hätte sein können. Ich bin eine hervorragende...
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