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Beira, 6. März 2019
Mein ganzes Leben war eine Vorübung auf das, was niemals eingetroffen ist.
Adriano Santiago
Wir alle haben zwei Schatten. Nur einer ist sichtbar. Aber es gibt Leute, die sprechen mit ihrem zweiten Schatten. Das sind die Dichter. Sie sind so einer, der mit seinem Schatten spricht.«
Das sagt zu mir der Portier am Eingang zum Festsaal. Er wedelt mit einem Gedichtband und bittet mich um eine Widmung. Ich hebe höflich abwehrend die Hände: »Das kann ich nicht, das Buch hat mein Vater geschrieben.«
Der Mann zuckt die Achseln, lächelt und sagt: »Dann sind Sie der Autor.«
Ich schreibe die Widmung, mache mich zu einer Art posthumem Autor. Es sind meine Hände, aber die Schrift ist die meines verstorbenen Vaters. Am liebsten würde ich den Portier umarmen, beherrsche mich aber und gehe zwischen den geschmückten Tischen in den Saal hinein. Einige Leute stehen auf, um mich zu begrüßen. An der Wand hinten im Raum ein Plakat, darauf in riesigen Lettern: Willkommen in Ihrer Stadt, Dichter Diogo Santiago!
Ich denke an die Worte meines Vaters. Ehrungen in kleinen Orten sind wie Ringe an Fingern armer Leute: Der Glanz schürt tödlichen Neid.
Eine schöne Frau kommt auf mich zu.
»Ich heiße Liana Campos, ich moderiere den heutigen Abend.« In ihrer Stimme klingt zaghafte Furcht mit, als machte sie die Nennung ihres Namens wehrlos.
Ich bin in Beira, meiner Geburtsstadt, zu Besuch; auf Einladung einer Universität. Seit meiner Ankunft besuche ich Schulen, treffe mich mit Lehrern und Schülern und spreche mit ihnen über das, was mich am meisten interessiert: Poesie. Ich bin Literaturprofessor, mein Universum ist klein und doch grenzenlos. Poesie ist keine literarische Gattung, sondern etwas Vorsprachliches. Das sage ich in jeder Diskussionsrunde.
In diesen Tagen bewege ich mich in den Orten meiner Kindheit wie durch einen Sumpf - äußerst behutsam. Ein falscher Schritt, und ich riskiere, in dunklen Abgründen zu versinken. Das ist meine Krankheit: Mir sind keine Erinnerungen geblieben, ich habe nur Träume. Ich bin Erfinder von Vergessenem.
Und nun befinde ich mich hier, in diesem Provinz-Festsaal, ein zurückhaltender, schüchterner Mann, Opfer einer öffentlichen Ehrung. Die Wände sind mit Plastikblumen geschmückt, die Säulen mit großen bunten Papierschleifen. Am Kopfende des zentralen Tischs hat man mir einen Stuhl mit hoher Rückenlehne zugedacht, eine Art grotesken Thron. Zu beiden Seiten des Tisches streng hierarchisch platziert, mustern mich die Würdenträger mit einer Mischung aus herablassender Freundlichkeit und räuberischer Neugier.
Nichts ermüdet mich mehr als feierliche Veranstaltungen mit ihren endlosen steifen Gesprächen. Ich gehe auf die Bühne, um meine Rede vorzutragen. Die beiden Seiten vorzulesen, bereitet mir mehr Mühe, als ich beim Niederschreiben hatte. Ich habe den Text rund zwanzigmal umgeschrieben. Nicht, weil ich die richtigen Worte nicht fand. Sondern weil ich mich selbst nicht fand. Und jetzt entschließe ich mich, frei zu sprechen. Ich bin krank, ich bin ein Schriftsteller, dem die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, abhandengekommen ist. Mir ist in dieser Situation danach, diese Schwäche einzugestehen.
Nach den Reden und weiteren Formalitäten beginnt das Tanzen. Liana fordert mich auf, ich verweigere mich entschieden. Bei der ersten Gelegenheit verdrücke ich mich zum Ausgang und gebe vor, zu telefonieren. Der Portier spricht mich an und reibt sich die Hände, als mache er sich Mut.
»Haben Sie gesehen, werter Dichter?«, fragt er. »Unsere Frauen mit afrikanischen Tüchern um den Kopf?«
»Sieht schön aus«, bemerke ich.
»Nur verbergen sich unter diesen afrikanischen Tüchern leider chinesische Perücken. Oder wohl eher indische.«
Ich lehne mich an die Tür, schließe kurz die Augen und seufze. Der Portier kommt zu mir herüber, freundlich wie eine Katze. Um die laute Musik zu übertönen, spricht er dicht an meinem Ohr.
»Müde, werter Dichter?«, fragt er. »Was soll ich dann erst sagen, der ich seit über vierzig Jahren hier arbeite? Ich verrate Ihnen etwas: Diese Feste sind genauso wie die Feste der Kolonialherren früher .«
»Für Sie hat sich nichts geändert?«
»Für mich?«, der Portier verdreht die Augen, als suche er die Antwort im Dunkeln. »Eines hat sich geändert: Früher existierte ich nicht; heute bin ich unsichtbar.«
»Sie ahnen nicht, mein Guter, wie sehr ich Sie um diese Unsichtbarkeit beneide.«
Liana kommt zum Rauchen auf den Vorplatz und schließt sich der Unterhaltung an. Sie sieht schön aus. Der Portier zieht sich so diskret zurück, dass er sich gar nicht zu bewegen scheint. Liana lädt mich ein, woanders etwas trinken zu gehen.
»Ich kann nicht«, sage ich. »Ich bin ein Mann von ungewissem Alter.«
Sie erklärt lachend, sie liebe Ungewissheiten. Liana zufolge müsste sich dieses Land »Ungewissheit« nennen. Schließlich gehe ich auf ihren Vorschlag ein. Bitte sie lediglich, allein voranzugehen, um keinen Verdacht zu wecken. Ich warte ein paar Minuten ab, ehe ich den Vorplatz überquere. Der Portier begleitet mich noch ein paar Schritte.
»Ich mische mich nicht gern ein«, flüstert er, »aber seien Sie bitte vorsichtig mit der Dame.«
»Warum?«
»Sie ist sozusagen etwas eigenartig«, sagt er, den Blick auf die Schuhe gerichtet.
»Inwiefern eigenartig?«
»Es gibt Dinge, die wir nicht erklären können«, antwortet er zögerlich. »Sie, Senhor, der Sie Dichter sind, können Sie die Poesie erklären?«
Ich verabschiede mich und will schon gehen, da empfiehlt der Portier mir, die Straßenseite zu wechseln. Auf dieser Seite liege ein toter Vogel.
»Merkwürdig«, sagt er und schiebt den Vogel mit der Schuhspitze hin und her. »Das ist ein Kondo. Das sind Vögel, die Unheil ankündigen. Das bedeutet, dass der Sturm von jemandem bestellt wurde.«
»Welcher Sturm?«, frage ich.
»Es soll ein Zyklon kommen. Das sagen sie im Radio.«
Die Unwetterwarnung mag recht haben, aber der Portier täuscht sich. Auf der Straße befindet sich nicht nur ein toter Vogel. Rund ein Dutzend der Vögel, die ich unter dem Namen Hammerkopf kenne, liegen auf dem Pflaster. Eine seltsame Brise haucht ihnen Leben ein, ihre dunklen Federn wirbeln über den Asphalt.
Der Platz, auf dem Liana ihren Wagen geparkt hat, ist jetzt menschenleer. Sie lehnt sich an die Autotür und richtet einen vorwurfsvollen Finger auf meine Brust: »Sie haben meine Aufforderung zum Tanz abgelehnt. Sie haben gesagt, Sie könnten nicht tanzen. Ich wette, Sie sind so einer, der nur vorgibt, unbeholfen zu sein, um auf sich aufmerksam zu machen. Kommen Sie, jetzt tanzen wir, wir haben Musik, es ist dunkel, wir haben uns.«
Sie lehnt sich an mich, umfängt meine Taille mit ihren langen, schlanken Armen.
»Was ist?«, fragt sie erstaunt, weil ich mich nicht rühre. »Sagen Sie nicht, Sie hätten keine Beine, ausgerechnet Sie, der die Wörter so zum Tanzen bringt? Entspannen Sie sich, Professor, das Geheimnis des Tanzes ist, sich vom Körper zu lösen.«
»Man beobachtet uns«, sage ich.
Liana wiegt die Hüften im Rhythmus der Musik, die aus dem Saal dringt. Ihre Lippen streifen mein Gesicht, während sie leise verrät: »Ich bin schwarz, ich bin tanzend zur Welt gekommen.«
»Schwarz?«, sage ich ungläubig lachend.
»Das glauben Sie nicht?«, fragt Liana. »Geben Sie mir Ihre Hand.«
Widerstrebend füge ich mich, sie führt meine Finger in ihr Haar. Etwas beschämt ziehe ich meine Hand zurück.
»Fühlen Sie es?«, fragt Liana. »Merken Sie sich eins: Die Rasse zeigt sich im Haar.«
Die Rasse zeigt sich im Kopf, möchte ich eigentlich erwidern, sage aber nichts. Ich hatte schon keinen Körper mehr, es fehlte noch, dass ich auch die Sprache verlor. Nach einer Weile finde ich den rettenden Satz: »Ich bin müde, Liana. Bitte setzen Sie mich bei meinem Hotel ab.«
»Fürchten Sie sich vor dem Sturm?«, fragt sie in ironischem Ton. »Seien Sie unbesorgt. Stürme, die als so gefährlich angekündigt werden, treten nie ein.«
Noch am späten Abend wird mir überraschend ein Karton ins Hotelzimmer gebracht. Ich öffne ihn auf dem Bett. Getippte Dokumente, Fotografien, alte Papiere voller Notizen. Ganz obenauf liegt ein farbiges Blatt, ein Brief an mich.
Verehrter Professor,
mein Großvater war jener Inspektor der PIDE, der vor über vierzig Jahren Ihren Vater verhaftet hat. Die Dokumente in diesem Karton sind Unterlagen über den Vorgang. Sie können sie behalten, diese Vergangenheit gehört nicht mir. Mein Großvater hat die Papiere über all die Zeit aufbewahrt, als wären sie der einzige lebendige Teil seines Lebens. Am Ende seiner Tage hat er mich gebeten, mich darum zu kümmern. Wie Sie wissen, wurden die Archive der PIDE in Mosambik gleich nach dem Sturz des Kolonialregimes verbrannt. Diese Dokumente sind kostbare Relikte jener so traurigen Zeit. Passen Sie gut darauf auf. Ich hoffe,...
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