KAPITEL 1
UNSERE NEUE KOSMISCHE ADRESSE
Beginnen möchte ich meine Erzählung mit der Schilderung des wissenschaftlichen Fortschritts, der es den Kosmologen ermöglicht hat, Galaxien im Raum zu verorten und die ersten dreidimensionalen Karten des lokalen Universums zu erstellen.
SIE BEFINDEN SICH HIER
Seit dem 4. September 2014 haben wir offiziell eine neue kosmische Adresse! An diesem Tag ist in der renommierten englischen Wissenschaftszeitschrift Nature unser Artikel erschienen, mit dem wir die Entdeckung von Laniakea bekannt gegeben haben. Der Superhaufen Laniakea ist die größte bisher bekannte Galaxienstruktur, der wir angehören. Sein Name stammt aus dem Hawaiianischen und bedeutet "unermesslicher Himmelshorizont". Tatsächlich sind seine Ausmaße gigantisch und kaum zu erfassen: Er hat einen Durchmesser von rund 500 Millionen Lichtjahren - das bedeutet, dass das Licht zum Durchqueren von einem Ende zum anderen 500 Millionen Jahre benötigt. Der Superhaufen enthält ungefähr hunderttausend große Galaxien wie unsere Milchstraße, zudem noch eine Million kleinere. Das sind insgesamt etwa hundert Millionen Milliarden Sonnen.
Zur Entdeckung von Laniakea habe ich aktiv beigetragen, und diese Geschichte möchte ich Ihnen nun erzählen.
Kleines Lexikon der Kosmologie
Für Kosmologen sind die grundlegenden Himmelsobjekte Galaxien. Eine Galaxie (das Wort stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet "milchiger Kreis") enthält Sterne, Gas, Staub und unsichtbare Materie, die man als "Dunkle Materie" bezeichnet. Zusammengehalten wird dies alles durch die Gravitation. Galaxien werden nach ihrer Form und Größe klassifiziert, so unterscheidet man spiralförmige, elliptische, linsenförmige und irreguläre Galaxien sowie Zwerg- und Riesengalaxien. Unsere eigene Galaxie, die auch Milchstraße oder Galaxis genannt wird, ist verhältnismäßig groß: Sie enthält einige hundert Milliarden Sterne. Es handelt sich um eine Spiralgalaxie, sie hat die Form einer flachen Scheibe mit einer zentralen Verdickung. Die Sonne befindet sich in den Außenbezirken eines ihrer Spiralarme, dem sogenannten Orion-Arm.
Eine Galaxie wird von Sternen bevölkert. Ein Stern ist eine "einfache" Gaskugel, die aufgrund von Kernfusionsreaktionen in ihrem Inneren extrem heiß ist. Die Temperatur eines Sterns hängt von seiner Masse ab: Die massereichsten Sterne sind am heißesten und leben am kürzesten. Unsere Sonne ist ein Stern mittlerer Größe. Viele Sterne werden von Planeten umkreist - kleinen Himmelskörpern, die nicht heiß genug sind, um eigenes Licht auszusenden, da sie nicht genügend Masse haben. Acht Planeten umrunden die Sonne, darunter auch die Erde. Um einige Planeten drehen sich noch kleinere Begleiter wie der Mond, der einzige natürliche Satellit der Erde.
Abb. 1.1: Einige Galaxientypen (Katalogbezeichnung der Galaxie in Klammern).
© oben links und oben rechts: NASA, ESA, and The Hubble Heritage Team (STScI/AURA),
unten: ESO
Unter dem Einfluss der Gravitation schließen sich die Galaxien im Universum zu Gruppen zusammen. Wir befinden uns in der "Lokalen Gruppe", zu der nur drei große Galaxien gehören, darunter die Milchstraße. Die Gruppe enthält außerdem über 50 Zwerggalaxien. Manchmal können sich auch deutlich mehr Galaxien zusammenfinden, sie bilden dann sogenannte Haufen. Unsere Lokale Gruppe wird vom Virgo-Haufen angezogen, der mehr als tausend Galaxien umfasst. Die Haufen sind entlang einer netzartigen Struktur von Filamenten angeordnet, die wiederum Superhaufen wie Laniakea bilden.
Abb. 1.2: Vom Sonnensystem zum beobachtbaren Universum: Hier sind wir!
© oben links: NASA/JPL,
oben rechts: ESO,
unten links: Springel et al. (2005)/Max-Planck-Institut für Astrophysik,
unten rechts: Hélène Courtois und Benjamin Le Talour
WAS MACHT EIN KOSMOGRAF?
Die Kosmologie ist ein großes Teilgebiet der Astronomie, dessen Ziel es ist, die Struktur und die Entwicklung des Universums seit dem Urknall zu erforschen. Dazu identifizieren die Kosmologen die im aktuellen Universum vorhandenen Strukturen und untersuchen, wie diese Objekte miteinander wechselwirken. So können sie die Bildung dieser komplexen Körper seit der Epoche nachvollziehen, in der das Universum sehr jung und die Materie sehr viel homogener verteilt war. Kosmologen sind sozusagen gleichzeitig Geografen und Historiker des Universums. Sie können sehr unterschiedliche Spezialgebiete haben: von der reinen Theorie bis hin zum Experiment. Unter all diesen Spezialgebieten ist meines die "Kosmografie", das heißt, ich erstelle Karten unseres Universums. Genauer gesagt arbeite ich daran, die Positionen und Bewegungen von Galaxien in unserer "Nachbarschaft" zu bestimmen - einer Region, die wir im Komologen-Jargon das lokale Universum nennen. Nachbarschaft ist hierfür natürlich ein seltsames Wort, denn sie reicht bis in einige hundert Millionen Lichtjahre Entfernung von unserer Erde! Das Licht, das wir bei der Beobachtung dieser lokalen Galaxien wahrnehmen, hat diese zu einer Zeit verlassen, als auf der Erde noch Dinosaurier lebten, oder sogar noch früher. Trotzdem verwenden wir das Adjektiv "lokal" aus gutem Grund, denn selbst unsere größten Karten stellen nicht mehr als ein Millionstel des beobachtbaren Universums dar.
Wenn ich Schulklassen der Mittel- oder Oberstufe besuche und mein Fachgebiet erkläre, fragen mich die Jugendlichen nie, "warum" wir das Universum kartografieren, sondern immer nur "wie". Dabei sind die Antworten auf beide Fragen wichtig, so sehr die Antwort auf das "Warum" auch offensichtlich erscheint: Wir benötigen eine Karte, um zu wissen, wo wir uns befinden! Ist es nicht essenziell, zu wissen, wo man ist, und sei es auch nur, um zu wissen, wo die Reise hingeht? Und ebenfalls, um zu wissen, wo man herkommt - also auch teilweise eine Antwort auf die Frage zu erhalten, wer wir sind? Die Frage nach dem "Wie" ist sehr viel komplizierter zu beantworten und wirft gleich neue Fragen auf. Wie arbeiten Astrophysiker heute? Klemmen sie ihr Auge noch hinters Teleskop, wie es als Erster Galileo Galilei vor 400 Jahren getan hat? Muss man alle Berge der Welt bereisen, um an modernen Observatorien neue Beobachtungsdaten zu sammeln, die nach ihrer Analyse Modellen gegenübergestellt werden und es dann vielleicht erlauben, die Grenzen unseres Wissens zu verschieben? Und worin besteht eigentlich meine Aufgabe als Professorin an der Universität: Muss ich tagsüber unterrichten und nachts beobachten? Ich beschreibe den Schülern daher meinen Alltag, in dem die Informationstechnologie eine sehr wichtige Rolle spielt, unter anderem, um Daten zu gewinnen und zu verarbeiten. Bei der Antwort auf das "Wie" erkläre ich auch die Methoden, die ich anwende: die Auswahl der Region am Himmelsgewölbe - einer zweidimensionalen, konkaven Fläche -, auf die ich ein Teleskop richte, dann das Abschätzen der Entfernung der mich interessierenden Galaxie, um in die dritte Dimension vorzudringen. Wie ich danach mithilfe verschiedener Tricks ihre Geschwindigkeit ableite, um schließlich diese neuartigen Bewegungskarten des umgebenden Weltraums zu erstellen, die man "dynamische" Karten nennt. Und die Schüler geben dann oft überrascht zu: "So habe ich mir Ihren Beruf überhaupt nicht vorgestellt!"
DIE TAGTÄGLICHE GRUNDLAGENFORSCHUNG
Ich bin den Jugendlichen dankbar dafür, dass sie mich danach fragen, "wie" man das Universum kartografiert, Erwachsene möchten von mir aber häufiger eine Begründung des "Warum" hören. Diese Frage ist pragmatischer und am Ende dadurch motiviert, dass sie es sind, die die öffentliche Forschung finanzieren. Wir alle sind Mäzene dieser Aktivität, deren Auswirkung auf unser tägliches Leben wir nicht genau beziffern können. Dennoch stammt ein Großteil der Dinge, die wir benutzen, aus der Forschung - der angewandten oder der grundlegenden. Sie können das Ergebnis eines Technologietransfers sein, der mit der Entdeckung eines neuen physikalischen Phänomens verbunden ist. Die Glühbirne zum Beispiel ist entwickelt worden, nachdem man die Phänomene rund um den elektrischen Strom und die damit einhergehenden Energieverluste verstanden hatte. Alltagsobjekte können aber auch aus der Erfindung und Herstellung neuartiger Hilfsmittel resultieren, die ein Grundlagenforscher braucht. Beispielsweise ist die Glaskeramik-Technologie, die die Backofentüren in unseren Küchen kalt hält, direkt zurückzuführen auf die Forschung, die zur Konstruktion von sehr großen Spiegelteleskopen betrieben wurde. Tatsächlich benötigt man für Spiegel mit mehreren Metern Durchmesser rund hundert Tonnen geschmolzenes Siliziumdioxid. Dieser ungefähr ein Meter dicke Block muss anschließend abgekühlt werden können, ohne dass der Temperaturunterschied zwischen Boden und Oberfläche zu Fehlern im Glas führt. Die enorme thermische Stabilität, die hierzu erforderlich ist, hat zur Entwicklung neuartiger Glaskeramiken geführt. Und diese Teleskoptechnologie findet sich heute auch in unseren Küchen, damit sich niemand mehr an Ofentüren die Finger verbrennt.
Grundlagenforschung ist über diese technologischen Auswirkungen hinaus notwendig, weil sie das grundlegende menschliche Bedürfnis stillt, neues Wissen zu erwerben. Ursprünglich musste der Mensch Karten erstellen, um zu jeder Jahreszeit Nahrungsquellen zu finden. Heute, lange Zeit nach diesem durch den Überlebensinstinkt gesteuerten Nomadentum, setzen wir unsere Erkundungen fort, um unseren Reichtum und unser Wissen zu mehren. Die Verbesserung und Erweiterung von...