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KAPITEL 1
Kiew, April 1031
Erzähl uns eine Geschichte, Mama - bitte.«
Elisabeth lächelte über Annas Bitte. Manchmal waren kleine Schwestern durchaus nützlich. Mit ihren zwölf Jahren fand sie sich viel zu alt, um um eine Gutenachtgeschichte zu bitten, aber sie hörte trotzdem gern zu - besonders wenn ihre Mutter sie erzählte. Denn Ingrid berichtete vom Norden, von den Ländern jenseits des Warägermeeres, wo die Berge das ganze Jahr über eisbedeckt waren, die Sonne im Mittsommer niemals unterging, und wo in den weitläufigen Wäldern noch immer Trolle ihr Unwesen trieben. Ingrid wusste davon, weil sie dort geboren worden war, als Prinzessin von Schweden. Dann war sie mit König Olav von Norwegen verlobt worden, bis ihr Vater beschlossen hatte, dass Großfürst Jaroslaw von Kiew die lukrativere Partie war, und sie nach Süden schaffte.
»Wünschst du dir manchmal, nach Norwegen gegangen zu sein, Mama?«, hatte Elisabeth sie einmal gefragt.
»Natürlich nicht, Lily«, hatte Ingrid lachend geantwortet. »Ich bin glücklich hier in Kiew - wie könnte man das nicht sein? Es ist eine prächtige Stadt mit einer glorreichen Zukunft, und es gibt keinen Ort in ganz Norwegen, der so großartig oder so fortschrittlich wäre wie Kiew.«
Sie hatte so sicher geklungen. Und doch war Elisabeth überzeugt gewesen, in der Stimme ihrer Mutter ein winziges, wehmütiges Zögern zu hören, das so klang, als sei sie auch heute noch von dem Land im Norden fasziniert, welches beinahe ihre Bestimmung geworden wäre.
Jetzt lehnte sich Elisabeth in dem großen Fenstersitz auf der Hofseite der großen, steinernen Halle zurück, in der das elegante Frauengemach und die Kemenaten untergebracht waren, und versuchte, nicht zu eifrig dreinzublicken, während ihre Mutter die fünfjährige Anna und die zweijährige Agatha in ihre gedrechselten Kinderbettchen legte und sich anschickte, ihnen eine Geschichte zu erzählen.
»Es war einmal ein großer König«, begann Ingrid mit einem Lächeln, »den nannte man Harald Schönhaar, denn er hatte das hellste, leuchtendste Haar, das man je gesehen hatte, und jedermann behauptete, dass es so strahlend hell sei wie Christus' Heiligenschein.«
»Nur«, unterbrach Elisabeth sie, »dass damals alle Heiden waren. Wie konnten sie das also behaupten?«
Ingrid warf ihr einen scharfen Blick zu. »Du hast recht, Lily«, räumte sie ein, »aber seitdem sagen es viele.«
»Viele, die ihn gar nicht wirklich gesehen haben?«
»Wahrscheinlich.«
Ingrid warf Hedda einen kurzen Blick zu, der fülligen Amme, die in der Ecke saß und ihre Tochter stillte. Die kleine Greta würde sechs Monate alt sein, wenn Ingrids nächstes Kind zur Welt kam, und Hedda würde dann nicht mehr ihr eigenes Kind mit Milch versorgen, sondern den neuen Prinzen oder die neue Prinzessin, so wie sie all die anderen gestillt hatte. Wladimir pflegte sie als »königliche Kuh« zu bezeichnen, aber nur wenn er außer Hörweite war, denn ihr Schlag war ebenso heftig wie ihre Milch üppig. Elisabeth sah, wie Hedda ihrer Mutter zulächelte, als sie geduldig und tief einatmete.
»Na gut«, sagte sie bedächtig, »alle behaupteten also, dass es schimmerte wie Thors Hammer.«
»Aber der war doch aus Eisen, oder?«
»Elisabeth!«
Elisabeth schnaubte und wandte den Blick ab. Helles Haar jeglicher Art war bei ihr ein wunder Punkt. Ingrids Haar hatte sogar jetzt noch, da sie die Dreißig überschritten hatte, die Farbe überreifen Korns. Ihr Gemahl, der Großfürst Jaroslaw, liebte es, wenn sie es an Feiertagen offen trug, und schlang es sich um die Finger, strich darüber, als sei es gesponnenes Gold. Er nannte Ingrid seinen »Sonnenschein« und ermutigte Gesandte aus fernen Ländern häufig, ähnliche Metaphern zu erfinden. Mehr als einmal hatte Elisabeth bis zum Überdruss miterleben müssen, wie sie einander mit Worten zu überbieten suchten, bis sogar Ingrid selbst von ihren Lobeshymnen in Verlegenheit geriet.
Zwei von Elisabeths Schwestern, Anastasia und Anna, hatten die hellen Locken ihrer Mutter geerbt, und insbesondere die neunjährige Anastasia verbrachte viele Stunden damit, die ihren zu bürsten und zu frisieren, bis Elisabeth den Drang verspürte, ihr das Haar mit ihrem Essmesser abzuschneiden. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie es einmal gewagt, ihr im Schlaf ein paar Strähnen abzuschneiden. Sie hatte sie sich eigentlich nur ans Gesicht halten wollen, um sich im kupfernen Spiegel zu betrachten, aber dann war so viel Wind darum gemacht worden, dass sie ihren kostbaren Schatz von der großen Stadtmauer in die dunklen Kiefern darunter hatte werfen müssen. Wochenlang hatte sie den Verlust betrauert, und seither grollte sie Anastasia umso mehr.
Elisabeth hatte nicht einen Faden Gold in ihrem eigenen Haar. Es umrahmte ihr Gesicht nicht mit seinem leuchtenden Schein, sondern lag schwarz wie ein Mitternachtsschatten auf ihrer olivenfarbenen Haut. Ihr Vater nannte sie seine »schöne kleine Slawin« und betonte stets, dass sie sein ureigenstes Rus-Kind war. Aber dennoch sehnte sich Elisabeth nach nordischem Gold und trug ihre dunklen Locken sooft wie möglich bedeckt.
Und nicht nur ihr Haar unterschied sie von ihren eingebildeten kleinen Schwestern. Sie war klein - Anastasia war bereits größer als sie - und so schmal wie ein Bauernkind, aber wie viele Gänge sie bei Tisch auch verspeiste, sie schien nicht zuzunehmen und würde niemals auch nur annähernd die weichen, anziehenden Rundungen ihrer Mutter entwickeln. Sie war kantig, mit Ellbogen so scharf wie Speerspitzen, Knien so knubbelig wie Waldpilze, und zeigte nicht die geringsten Anzeichen für Brüste oder gar Hüften.
»Vielleicht bist du ja ein Junge, Lily«, neckte ihr ältester Bruder Wladimir sie häufig.
»Ich bin ein besserer Junge als du, Wlad«, konterte sie dann und bemühte sich, ihn bei jeglichem Spiel zu schlagen. Aber wenn die Öllampen verloschen waren und sie allein im Bett lag, wollten ihr seine Worte einfach nicht aus dem Kopf gehen.
»Ich bin kein Junge«, murmelte sie dann grimmig in ihr Gänsedaunenkissen, aber die leise Stimme in ihrem Kopf wollte nicht verstummen: »Vielleicht bist du auch nicht wirklich ein Mädchen.«
»Dieser König Harald also hatte einen spätgeborenen Sohn«, fuhr Ingrid fort. »Er trug den Namen Håkon, und weil sein Vater befürchtete, dass dessen ältere Brüder ihm seine Stellung streitig machen wollten, schickte er ihn nach England, um ihn dort von seinem Freund, König Æthelstan, aufziehen zu lassen. Dort wuchs er zu einem guten Christen heran.«
Sie sah ihre älteste Tochter scharf an, aber in diesem Augenblick hüpfte die zweijährige Agatha in ihrem Bett auf und ab und rief: »England, England.«
Elisabeth lächelte ihrer jüngsten Schwester zu, die - genau wie sie selbst - mit dunklem Haar geschlagen war und dazu noch über wilde Locken verfügte. Agatha hatte den Namen des Landes der Angelsachsen erst vergangene Woche gelernt und war offenbar ganz fasziniert davon. An Jaroslaws Hof befand sich ein verlorener englischer Königssohn namens Edward - einer jener Myriaden von Exilanten, die ihr Vater gern beherbergte -, und zu jedermanns größter Belustigung folgte Agatha dem armen jungen Mann auf Schritt und Tritt wie ein Schoßhund. Aber Elisabeth lachte nicht darüber. England wurde ebenso wie Norwegen und Dänemark von König Knut dem Großen regiert, dem Herrscher des Nordens, und dem Vernehmen nach war das Land ein kostbares Juwel. Agatha war also zu Recht davon fasziniert.
»Warum gewährst du all diesen Exilanten Unterschlupf, Vater?«, hatte Elisabeth Jaroslaw einmal gefragt. »Warum nimmst du all diese verlorenen Prinzen bei dir auf?«
»Warum?« Jaroslaw hatte ein liebevolles Lachen von sich gegeben. »Nur ein Narr täte das nicht. Diese >verlorenen Prinzen< sind nur vorübergehend verloren, Lily. Wenn sie sich selbst wiederfinden - wenn sie ihren Thron und ihr Königreich wiedererlangen -, denk doch nur, was sie dann wert sind. Wie dankbar werden sie dem Mann sein, der sie in all ihrer Not nicht im Stich ließ? Und was bringt die Dankbarkeit?«
Sie hatte nachgedacht. »Geld, Vater?«
Wieder dieses Lachen - breit, nachsichtig. »Letztlich ja - aber zunächst einmal, liebe Tochter: Allianzen. Und Allianzen bedeuten Schutz, Handel, Eheschließungen. Deine liebe Mutter hat mir zwar Söhne geschenkt, die nach mir regieren, aber sie hat mir auch Töchter geschenkt. Und durch Töchter, Lily, kann ich meinen Einfluss über die gesamte bekannte Welt ausdehnen. Und wenn du bei deiner Handarbeitsstunde überhaupt einmal aufgepasst haben solltest, wirst du wissen, dass jede Näharbeit mit kleinen Stichen beginnt.«
»Deine Exilanten sind also Stiche,...
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