Prolog
FALLUJAH, IRAK
Die Nachmittagssonne stand still am flimmernden Himmel, und Staff Sergeant Kyle Swanson wischte sich vorsichtig mit einem schmutzigen Taschentuch den Schweiß aus den Augen. Er lag auf dem Boden eines zweistöckigen Hauses, dem das Dach fehlte, eingezwängt zwischen Dielenbrettern. Da draußen herrschten 41 Grad Celsius, und es sollte sogar noch heißer werden; die Hitze war so gnadenlos, dass man ein Spiegelei auf dem Asphalt hätte braten können. Sie raubte einem den Verstand. Er trank einen Schluck warmes Wasser und drückte dann sein schmerzendes Auge wieder gegen das Zielfernrohr seines mit 7,62-x-51-Millimeter-Patronen bestückten M40-Scharfschützengewehrs. Weit entfernt waren Schüsse zu hören. Bereits vor Anbruch des Tages hatte er sich in sein Versteck begeben: Er war Teil eines Militäreinsatzes im Rahmen der Operation Phantom Fury, bei dem der Feind von zwei Seiten in die Zange genommen werden sollte - so als würde ein riesiger Hammer auf einen Amboss niedergehen und alles dazwischen zermalmen. Wenn alles nach Plan verlief, würden die Aufständischen, die diese staubige Stadt am Euphrat kontrollierten, einen vernichtenden Schlag erleiden.
Mehr als 200 gepanzerte Fahrzeuge des United States Marine Corps hatten soeben die Startlinie im Osten überquert, begleitet von etwa 2000 Marines und Soldaten anderer Koalitionsländer. Dem zunehmenden Geschützfeuer nach zu urteilen, waren die Aufständischen auf sie vorbereitet. Allerdings waren diese bösartigen Mistkerle in Falludscha eigentlich immer kampfbereit. Sie waren entschlossen, ihre unbarmherzige Herrschaft über die Menschen in der Provinz Al Anbar nicht zu verlieren.
»Blue Dog One. Sie kommen in unsere Richtung.« Die ruhige Stimme in seinem In-Ear-Kopfhörer gehörte Staff Sergeant Mike Dodge - Codename Blue Dog Two -, dessen sechsköpfiges Team einen halben Block hinter dem von Swanson verschanzt war. Beide Positionen unterstützten sich gegenseitig.
»Wir sind bereit«, sagte er, während er im Kopf noch einmal die Checkliste durchging: leichte Maschinengewehre, M203-Granatwerfer, M16-Gewehre, sogar zwei Scharfschützengewehre . dazu Dodges Funkausrüstung, um die Cobra-Hubschrauber, die in kürzester Distanz über Hausdächer hinwegschweben konnten, und die unglaublich schnell dahinfliegenden Jagdbomber anzufordern. Sie waren der Amboss. Wenn die Panzer, Schützenpanzer und Infanteristen vorrückten, würden sich die Aufständischen in die vermeintliche Sicherheit der Stadt zurückzuziehen, wo sie bereits von den Einheiten der Marines erwartet wurden, die in den beiden verlassenen Gebäuden Stellung bezogen hatten, von denen aus sie die breite, derzeit menschenleere Straße kontrollierten.
Es bestand kein Zweifel, dass der Feind erbitterten Widerstand leisten würde, denn er besaß den Heimvorteil in diesem militärischen Bollwerk vierzig Meilen westlich von Bagdad. Es hieß, dass sich der abgesetzte Diktator Saddam Hussein irgendwo in der widerspenstigen Region, die als das sunnitische Dreieck bekannt war, versteckt hielt, wo er von fanatischen Loyalisten beschützt wurde. Die irakische Truppe bestand aus Mitgliedern von Husseins herrschendem Baath-Partei-Politapparat und seiner Regierung, aus Elementen der Republikanischen Garde, einigen Überresten der irakischen Armee und einer wachsenden Zahl sunnitischer Guerillas und ausländischer Kämpfer. Ihre Existenz verdankten sie einzig und allein Saddam Hussein, dem sie Treue geschworen hatten. Sollten sie verlieren und ihre religiösen Rivalen, die Schiiten, die Kontrolle über den Irak übernehmen, würde die Zukunft für sie alles andere als rosig aussehen. Das Hämmern und Rütteln der automatischen Waffen wurde lauter und kam zusehends näher. Am Horizont waren Explosionen zu sehen, und ein dichter Staub- und Schmutzschleier senkte sich über Teile der Stadt.
Die Teams von Swanson und Dodge waren in den dunkelsten Stunden der Nacht eingeschleust worden; sie hatten sich zusammengeschlossen und sich dann noch vor Sonnenaufgang gemeinsam ihren Weg durch die gespenstisch stille Stadt gebahnt. Mike hatte sich in einem Haus neben einem mit Gerümpel übersäten Feld verschanzt, während Swanson seine Leute auf der anderen Straßenseite einen halben Block weiter oben, aber immer noch in Sichtweite des anderen Teams, postiert hatte.
Am Ende der Straße befanden sich der Vorplatz und der Haupteingang des Moscheekomplexes Haj Musheen Abdul Aziz Az-Kubaysi, eine von einer Kuppel überspannte Zitadelle, die ihren geschützten Status als religiöse Stätte verloren hatte, als sie zu einem Stützpunkt der Aufständischen geworden war. Plünderer und Luftangriffe hatten das ehemals prunkvolle Gebäude in einen Berg aus Schutt und Asche verwandelt, der nun als Festung diente - das Hauptziel der Operation Phantom Fury. Wer diese verwüstete Bastion und ihre unterirdischen Bunker kontrollierte, hatte die Herrschaft über die Stadt. Von seiner starken Position aus glaubte Kyle Swanson, den Schlüssel zur Vordertür in der Hand zu halten. Er beobachtete, wie bewaffnete Männer aus dem Gebäude strömten und über die Mauern kletterten, um sich in den Kampf zu stürzen. Er meldete die Bewegung. Die Scharfschützenteams waren die Augen und Ohren der Angriffstruppe, sammelten Informationen und wählten Ziele aus. Den Abzug durchdrücken würden sie erst später. Sie warteten auf den richtigen Moment. Der große Angriffstrupp sollte die Schwerstarbeit erledigen; mit der Unterstützung eines Bataillons Marines und ein paar Abrams-Panzern würde er über die Hauptstraße auf den Moschee-Komplex vorrücken, und die Aufständischen wären dann so sehr durch die Panzer abgelenkt, dass sie nicht einmal bemerkten, wie ihnen die Scharfschützen in den Rücken fielen. Bis es zu spät sein würde. Sobald der Hammer die Falle zuschnappen ließ, würden die Gewehre des Ambosses Feuer spucken, um vorrangige Ziele wie Offiziere und Funker auszuschalten.
Die Streitkräfte waren nun fast vollständig im Einsatz. Swanson vergewisserte sich, dass sein Team - das ausschließlich aus Veteranen bestand, die ihren Drang, loszuschlagen, mit Professionalität unterdrückten - einsatzbereit war, und wischte dann mit seinen Fingern über das gewaltige Scharfschützengewehr, um es von Schmutz zu befreien. Bereit. Er war froh, Mike Dodge an seiner Seite zu wissen. Das Marine Corps war eine große Organisation und trotzdem eine ziemlich kleine Familie. Im Laufe der Jahre lernte man sich unweigerlich kennen. Dodge und er waren seit den unglücklichen Tagen ihrer Grundausbildung auf Parris Island befreundet und später auch gemeinsam auf der Scout/Sniper School gewesen. Sie hatten unterschiedliche Karrierewege eingeschlagen, aber Kontakt gehalten. Beide hatten sie im Irakkrieg gedient, und bei Mikes Hochzeit vor zwei Jahren - die glückliche Braut hieß Becky - waren Swanson besondere zeremonielle Aufgaben übertragen worden.
Jetzt, im November 2004, waren sie wiedervereint und durften mit dem 3. Bataillon des 5. Marine Corps eine weitere Runde in dem gigantischen Sandkasten des Nahen Ostens spielen. Diesmal nahmen sie an einem Großeinsatz unter dem Namen Operation Phantom Fury teil, mit dem Ziel, die wilde Stadt Falludscha zu zähmen.
»Blue Dog One. Hörst du das?«
»Verstanden. Feuer am Stadtrand nimmt ab. Was ist los, Blue Dog Two?« Dodge hatte die leistungsstarken Funkgeräte, und trotzdem war zunächst keine Antwort zu hören. »Blue Dog Two?«
»Ja. Ich war gerade auf der Hauptfrequenz. Der Angriff hat aufgehört. Ich wiederhole: Der Angriff hat aufgehört.«
Swanson hielt sein Auge weiterhin ans Zielfernrohr gedrückt. Er beobachtete, wie aufständische Kämpfer zurück in die Stadt strömten. »Blue Dog One an Blue Dog Two. Sie kommen in unsere Richtung. Ich sehe keinen unserer Leute, der sie verfolgt.«
Dodges Stimme klang ruhig, aber alarmiert. »Blue Dog One, wir haben den Befehl, uns sofort zurückzuziehen. Irgendetwas ist schiefgelaufen, und der Angriff wurde an der Phase Line Butler gestoppt.«
»Sie wollen, dass wir eine Stellung verlassen, die am helllichten Tag von feindlichen Kämpfern umzingelt wird? Besser, wir bleiben einfach hier und verhalten uns ruhig, bis es dunkel wird.« Er hätte gern erfahren, was schiefgelaufen war, aber im Krieg kam so etwas eben vor. Er würde später darüber nachdenken. Jetzt war die höchste Priorität, am Leben zu bleiben.
»Negativ. Diese bösartigen Mistkerle werden direkt in unsere Richtung getrieben. Sie werden unweigerlich die Gebäude betreten. Wir können nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit warten.«
Swanson konnte sehen, was sich da draußen abspielte. Die von den Panzern unterstützte Angriffstruppe hatte sich außerhalb der Stadt in einer Linie aufgestellt und trieb die Aufständischen unter massivem Sperrfeuer zurück, sodass sie verzweifelt nach Deckung suchten. Obwohl sie sich wie eine Gruppe in Panik geratener Katzen zerstreuten, verfolgten sie die Marineinfanteristen jedoch nicht. Sie kommen hierher, und zwar schnell. »Du hast recht, Blue Dog Two. Diese Position können wir nicht halten.«
Wie zum Beweis riss ein aufständischer Kämpfer, der sich vor dem Sperrfeuer in Sicherheit bringen wollte, die mit Sprengfallen gesicherte Tür von Swansons Gebäude auf und löste ein Explosion aus, die das ganze Haus erschütterte und die unerwünschte Aufmerksamkeit anderer feindlicher Elemente in der Umgebung auf sich zog. Diese Kämpfer wandten sich von dem zum Stillstand gekommenen Angriff ab und eröffneten das Feuer auf die Scharfschützenstellungen. Swansons Team antwortete mit einem Kugelhagel aus ihren automatischen Waffen. Swanson selbst feuerte einen Schuss ab, der einen unvorsichtigen...