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Für mich begann alles mit den Axolotl. Mit diesen so einzigartigen und charismatischen Amphibien, die der kluge Juan José Arreola wie folgt beschrieb: »Kleine geleeartige Eidechse. Ein großer madenartiger Körper mit abgeflachtem Schwanz und Ohren aus Korallenpolypen [.]« und die auch Julio Cortázar so sehr in ihren Bann zogen, dass sich der große argentinische Schriftsteller in einen von ihnen verwandelte, wovon er in seiner parabelhaften Kurzgeschichte Axolotl erzählt: »Es gab eine Zeit, in der ich viel über Axolotl nachgedacht habe. Ich besuchte sie im Aquarium des Jardin des Plantes und schaute sie mir stundenlang an, beobachtete ihre Unbeweglichkeit, ihre dunklen Bewegungen. Jetzt bin ich ein Axolotl.«
Auf ähnliche Art war auch ich hingerissen und spielte mit ihren Verwandlungen. Aber in meinem Fall ging es nicht um metaphorische Verwandlungen, sondern um physiologische und beabsichtigte Transformationen (die, aus dem Zusammenhang gerissen, zugegebenermaßen auch ein bisschen rücksichtslos erscheinen). Wenn ich ein wenig darüber nachdenke, war dabei auch meine eigene Identität im Spiel: die unvermeidlichen Formveränderungen, die man im Laufe einer zurückgelegten Strecke durchmacht und die nach und nach den Weg eines jeden Individuums abstecken. Das bedeutet, dass wir beide Lebewesen - das menschliche Kind und den Schwanzlurch - für sich analysieren müssen.
Genauer gesagt: Alle Schwanzlurche beginnen ihr Leben als Larven, danach wachsen sie, machen die Metamorphose durch und verwandeln sich genau wie im Fall der Kaulquappen, die zu Fröschen werden, in Schwanzlurche. Einige wenige Spezies (darunter der Axolotl oder Ambystoma mexicanum) verfügen jedoch über die Fähigkeit, sich den gesamten Reifungsprozess zu sparen und keine Metamorphose durchzumachen. Stattdessen weisen diese Organismen die Besonderheit auf, sich fortpflanzen zu können, ohne die Veränderungen zu durchlaufen, die für andere Mitglieder ihrer Gruppe nötig und typisch sind, um das Erwachsenenstadium zu erreichen - eine Eigenschaft, die in der Biologie als Neotenie oder Pädomorphose bezeichnet wird.
Der Axolotl (der Name der im Tal von Mexiko beheimateten Art wurde ihr von den Azteken gegeben und ist eine Zusammensetzung der aus dem Náhuatl stammenden Worte atl für »Wasser« und xolotl »Monster«, also axolotl »Wassermonster«, wovon sich später ajolote ableitete, eine Kastilisierung zur Bezeichnung der Larven von Schwanzlurchen) behält so während seiner gesamten Existenz den Larvencharakter, man könnte auch sagen, er ist wie ein ewiges Kind, eine ewige Larve.
Ich erinnere mich, dass das Skalpell mit Leichtigkeit in das weiche Fleisch eindrang, mit dem Agustín, der Biologe, der uns an jenem Morgen aufs Land mitgenommen hatte, einen Längsschnitt entlang des Kopfes machte und ein Auge der Amphibie herausnahm, um uns die Augenlinse zu zeigen. Sie sah aus wie ein kleiner Kristall aus durchsichtigem Salz. Agustín drehte die Linse vorsichtig in den Fingern, hielt sie dann jedem von uns hin (wir waren etwa ein Dutzend Kinder verschiedenen Alters, ich selbst war neun Jahre alt) und bat uns näherzutreten. Durch das kleine Prisma betrachtet, stand die Welt Kopf.
Danach hielt Agustín uns das Skalpell hin und fragte: »Wer möchte das andere Auge herausnehmen?«
Zu Beginn der letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts war uns Kindern noch erlaubt, Messer zu benutzen. Das waren andere, rustikalere Zeiten, in denen es nicht nötig war, uns derart zu beschützen, wie man es heute bei Kindern tut. Damals war es nicht nur so, dass Kinderhände manchmal scharfe Klingen schwingen durften, sondern es war auch kein Problem, dass Agustín einfach so ein Dutzend menschlicher Kaulquappen in öffentlichen Verkehrsmitteln mitnahm, um die Umgebung des Pátzcuaro-Sees zu erkunden - wo wir in diesem Moment gerade mit den Füßen im Schlamm standen - und nach Tieren zu suchen.
Eine solche Unternehmung wäre im heutigen Mexiko, vor allem im Bundesstaat Michoacán, schlichtweg undenkbar. Und das nicht nur wegen der Welle der Gewalt, die das Land überflutet, sondern auch, weil es heutzutage geradezu ein Wunder wäre, eine in freier Wildbahn lebende Larve welcher Art auch immer zu finden, vor allem aber die eines Pátzcuaro-See-Querzahnmolchs (in Mexiko achoque genannt) oder eine aus den Feuchtgebieten des Tals von Mexiko (den berühmten Axolotl). Damals jedoch gab es noch so viele, dass man sie mit der Hand fangen konnte, sodass es uns an jenem Tag in weniger als einer halben Stunde gelang, mit ihnen einen kleinen Eimer zu füllen.
»Vorsicht, Cota. Nicht so brutal«, warnte mich Agustín, als ich mit der Dissektion dran war, »sonst reißt du ihm die Eingeweide raus!«
Das war noch so eine Eigenschaft, die ich an ihm mochte: Er behandelte uns gleichwertig und nicht mit Samthandschuhen.
Agustín leitete den Biologiekurs in einem Jugendcamp in Erongarícuaro in Michoacán, an dem ich jedes Jahr teilnahm. Die Ausgangsbasis war eine alte Mühle, in der etwa hundert Jungen und Mädchen zwischen fünf und vierzehn Jahren aßen und die Nächte verbrachten, während wir tagsüber von Leuten aus der Gegend sinnvoll beschäftigt wurden. Man konnte lernen, wie man Käse und Würste herstellt, traditionelle Süßigkeiten oder Brot, es gab Werkstätten für Holzarbeiten, Weben oder Töpfern oder Einführungskurse in die Tiermedizin und die Biologie, die ich am liebsten mochte.
Die ersten Male, an denen ich an diesen Camps teilnahm, bin ich mit dem Zug angereist (noch etwas, was es in diesem Land nicht mehr gibt: Personenzüge). Ich erinnere mich noch daran, dass die Eisenbahn auf knarrenden Schienen nur langsam vorankam und die Fahrt mehr als zwölf Stunden dauerte. Wir fuhren am Bahnhof Buenavista in Mexiko-Stadt ab (wo sich heute das große Einkaufszentrum Forum Buenavista befindet) und schliefen auf schmalen Liegen zu sechst im Abteil.
Ich frage mich, welch furchtbare Dinge eine solche Reise in der heutigen Zeit mit sich bringen könnte. Wahrscheinlich würde sie ganze Familien auslöschen. Tatsächlich wurde die Mühle, kurz nachdem ich - in diesem Fall als Betreuer - zum letzten Mal dort war, wegen der Unsicherheit und der Gewalt, die der Drogenhandel mit sich brachte, als Herberge für Jugendcamps geschlossen.
Was ist wohl aus dem guten Agustín geworden? Dem Biologen, wie er von allen genannt wurde. Ob er aus seinem Dorf wegziehen musste? Ob ihm der Enthusiasmus abhandengekommen ist, der so typisch für ihn war? Soweit ich mich erinnere, war er immer gut gelaunt und bereit, irgendein Abenteuer zu unternehmen. Das Einzige, worüber er sich wirklich ärgerte, war, wenn wir während unserer Ausflüge in die Berge auf irgendeine Art von Umweltzerstörung stießen: Bäume, die durch illegalen Holzeinschlag gefällt wurden, eine Wilderer-Falle, Seifen- oder Kunststoffabfälle, die vormals kristallklares Wasser verschmutzten, solche Dinge.
Angesichts dessen, was heutzutage in der freien Natur los ist (zum Beispiel ist der Pátzcuaro-See auf weniger als die Hälfte der Fläche zurückgegangen, die er an dem Tag umfasste, an dem wir zum Larvensammeln unterwegs waren), würde es mich nicht wundern, wenn Agustín einen Herzinfarkt erlitten hätte. Vielleicht ist sein Herz stehen geblieben, weil ein großer Teil des Waldes abgeholzt wurde, zu dem die Monarchfalter jedes Jahr kamen, oder wegen des von der Avocado-Industrie verursachten Ökozids. Aber wer weiß, ob er das überhaupt noch mitbekommen hat. Denn vielleicht wurde auch wie bei so vielen anderen Umweltschützern dafür gesorgt, dass er einfach verschwand - eine durchaus übliche Praxis in diesem Land.
Doch lieber stelle ich mir vor, dass Agustín ein alter Mann geworden ist. Dass er durch die Natur streift und im Laub nach Fröschen sucht oder in einer Baumkrone sitzt und Vogelnester zählt. Dass er seinen alten Traum weiterverfolgt, ein Auto zu entwickeln, das durch Kuhfladen angetrieben wird. Vielleicht ist es ihm ja auch schon gelungen, und es hat ihn berühmt gemacht. Keine Ahnung. Was ich jedoch weiß, ist, dass das, was ich von ihm gelernt habe, mit dazu beigetragen hat, dass ich den Weg der Zoologie eingeschlagen habe.
Die nächste Gelegenheit, bei der ich das Gewebe einer Larve (oder, na ja, mehrerer) entweihte, war noch entscheidender für mich, eine Art Übergangsritus, der mich in die biologische Praxis einführte. Das heißt, um die eingangs gemachte Aussage zu präzisieren: Für mich begann alles mit einem Experiment. Einem Experiment, das ich mit dreizehn Jahren während eines wissenschaftlichen Projekttages im Gymnasium durchführte und das darin bestand, die beeindruckende neotenische Eigenschaft des Axolotls zu unterdrücken. Es ging darum, die intrinsische Pädomorphose der Spezies freizusetzen, das »wunderbare ewige Kind des Sumpfes« dazu anzuregen, sich zu verwandeln, zu reifen und eine neue Form anzunehmen. Seine Metamorphose durch das Injizieren von Hormonen einzuleiten und so den anmutigen Organismus dazu zu bringen, sich zu verändern und eine in der Natur unbekannte Anatomie zu offenbaren.
Natürlich war diese Idee nicht allein auf meinem Mist gewachsen. Ich bezweifle, dass ich in diesem Alter über die nötige Eigenständigkeit und geistige Reife verfügt hätte, um ohne Hilfe ein solches Versuchsprotokoll zu entwerfen. Das Verfahren entstammte dem Gebiet der Zellphysiologie und basierte auf der weisen Anleitung meiner Mutter.
Zu jener Zeit Mitte der 1990er-Jahre waren die zahlreichen Populationen des großen Axolotls (in Xochimilco und dem Rest der verbleibenden wasserführenden Schichten...
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